Reinhard Döhl | Texte und Kommentare (1)
[Württ. Kunstverein 7.4.1971]

Es ist für die konkrete Literatur mit einer gewissen Berechtigung gesagt worden, sie habe das Buch als den traditionellen Rahmen der Literatur verlassen, sie sei akustischer Text auf der einen und visueller Text auf der anderen Seite geworden, sie sei zum einen nur hörbar, zum anderen nur sehbar. Kunsthalle, Museum auf der einen, Rundfunk, Schallplatte, Tonband auf der anderen Seite erscheinen als die idealen zwei Darstellungsmöglichkeiten dieser Literatur.

Der heutige Abend soll dazu dienen, eine dritte Möglichkeit zu versuchen. Mit Texten und Kommentaren hat Claus Bremer 1966 begonnen, den stummen visuellen Text gleichsam aus seiner Reserve herauszulocken, indem er sich kommentierend neben seine Texte stellte, indem er seine Texte kommentiert vorstellte. Ich weiß nicht, ob ich Klaus Bremer richtig verstehe, wenn ich ihm unterstelle, daß er damit eine Situation schaffen wollte, in der sich Hersteller und Betrachter im Text als einem Dritten treffen können. Wenn ich dies als richtig unterstelle, tue ich es, weil der konkrete Text der Art, wie wir ihn heute zeigen wollen, im Sinne Max Benses eine Leerstelle enthält, die der Autor hinterläßt und in die der Leser oder Betrachter eintreten kann.

Was André Thomkins, Heinz Gappmayr, Claus Bremer und ich im folgenden versuchen werden, ist: Ihnen jeweils ein gutes Dutzend vorwiegend visueller Texte kommentiert zu zeigen. Die Gegenstände und die Kommentare werden dabei so unterschiedlicher Natur sein, daß Sie trotz Verdunkelung nicht ermüden oder sich langweilen werden. Heinz Gappmayr wird zu seinen "zeichen" sprechen, André Thomkins wird Ihnen mit seinen Beispielen vor allem ein paar rhetorisch-poetologische Techniken des sogenannten Manierismus ins Gedächtnis rufen, die er für die konkrete Literatur neu entdeckt hat und Claus Bremer wird seine "engagierenden texte" bzw. Figurata kommentieren, denen es die konkrete Literatur wesentlich verdankt, daß sie nicht schon Anfang der 60er Jahre mit den "konstellationen" Eugen Gomringers ihr schnelles Ende erreichte. Die "engagierenden texte" und Kommentare Claus Bremers haben wir übrigens auch deshalb an das Ende des heutigen Abends gestellt, weil sie zugleich auf unsere letzte Sonderveranstaltung innerhalb dieser Ausstellung, verweisen, auf den Versuch nämlich, wenn möglich mit Ihnen gemeinsam, der Frage nach dem Verhältnis von "Konkrete[r] Literatur und Gesellschaft" einmal nachzugehen.

Für meinen Teil - und ich darf damit unseren heutigen Versuch beginnen - ist das, was ich ihnen zeigen werde, etwas Abgeschlossenes. Ich werde Ihnen diese Beispiele nicht interpretieren. Mein Kommentar wird sich vielmehr auf Hinweise und Anmerkungen beschränken.

Beispiel 1

made in germany
schwarz weiß rot schwarz weiß rot schwarz
weiß rot schwarz weiß rot schwarz
rot schwarz weiß rot schwarz
schwarz weiß rot schwarz
weiß rot schwarz
rot schwarz
schwarz
schwarz rot gold
merke: was ein hakenkreuz werden will krümmt sich beizeiten.
Man kann diesen Text von links nach rechts aber auch von oben nach unten lesen. Dann lautet die erste Zeile von links nach rechts gelesen: schwarz weiß rot schwarz weiß rot schwarz; und die erste Spalte von oben nach unten gelesen: schwarz weiß rot schwarz weiß rot schwarzrotgold. Es handelt sich also um die zweimalige Aufzählung von Farbwörtern, die in ihrer Wiederholung zwei Nationalflaggen, made in Germany, bezeichnen.

Geschichtlich gesehen ist eine Flagge ausgespart. Sie erscheint als Fußnote, die gleichzeitig Kommentar zu diesem Farbengedicht ist, und zwar in Form eines leicht variierten Sprichworts, das, ebenfalls made in Germany, lautet: Was ein Hakenkreuz werden will, krümmt sich beizeiten.

Wenn dieser Text außer diesem Kommentar eine Tendenz enthält, ist sie daran ablesbar, daß Sie beim horizontalen und vertikalen Lesen jeweils auf das Wort schwarz bzw. das Kompositum schwarzrotgold stoßen. Die in den ersten Textzeilen direkt aneinander anschließenden schwarzweiß beziehen sich sowohl auf das Erscheinungsbild (= Schwarz auf Weiß], sollen aber auch die Schwarzseher und Weißmacher mitbedenken und gleichsam eine Schwarzweißzeichnung deutscher Geschichte sein.

Der Text gehört zu einer Gruppe von "sieben farben gedichten", die aus sieben Gedichten besteht, deren Hauptbestandteil Farbwörter sind. Ein Teil dieser "sieben farben gedichte" arbeitet überdies mit den sieben Farben des Regenbogens, z.B.

die regenbogenforelle
forelle weiß
forelle rot
forelle orange
forelle gelb
forelle grün
forelle müllerin art
forelle violett.
Beispiel 2

[Text und Kommentar nachtragen]

Beispiel 3

1 hat der aber zu tun 7
2 hat der aber zu tun 6
3 aber zu tun hat der 5
4 zu tun hat der aber 4
5 tun aber hat der zu 3
6 tun aber hat der zu 2
7 aber hat der zu tun 1
Die Numerierung macht deutlich, daß dieser Text Zeile für Zeile von oben nach unten und dann wieder oder weiter von unten nach oben gelesen werden soll:
hat der aber zu tun
hat der aber zu tun
aber zu tun hat der
zu tun hat der aber
tun aber hat der zu
tun aber hat der zu
aber hat der zu tun
aber hat der zu tun
tun aber hat der zu
tun aber hat der zu
zu tun hat der aber
aber zu tun hat der
der hat aber zu tun
hat der aber zu tun.
Andere Lesarten und Betonungen sind möglich, z.B. wenn man die 7 Zeile des Von-oben-nach-unten-Lesens und die erste Zeile des Von-unten-nach-oben-Lesens und dann wieder die siebte Zeile des Von-unten-nach-oben-Lesens und die erste Zeile des Von-oben-nach-unten-Lesens jeweils zusammenzieht, was dem Text eine unserer Fließbandarbeit entsprechende endlose Kreisstruktur gäbe. Max Bense hat 1964 die ästhetische Struktur dieses Textes wie folgt erläutert:

In hat der aber zu tun überschneiden sich statistische und topologische Techniken. Die ausgenützte Wendung ist ein klassischer Tropismus, ein Allerweltskonnex von Wörtern hoher Frequenz in der Umgangssprache, ein natürliches Nachbarschaftssystem von Wörtern, bestehend aus Einsilbern und einem Zweisilber, dessen Stellung in der Wendung sich dann verschiebt. Dieses aber sagt nichts, bringt keine Bedeutung in die Wendung, die nicht schon darin wäre; dennoch liegt auf ihm der permutationelle Sinn des Textes, sein Stellenwechsel ändert das Nachbarschaftsverhältnis und zeigt, wie mit fünf verschiedenen Wörtern sieben Umgebungsklassen, sieben Tropismen hergestellt werden können, Leerläufe der Sprache, die verschieden leerlaufen.

Beispiel 4

geht und geht geht kommt und kommt kommt
geht und geht kommt kommt und kommt geht
geht und kommt kommt kommt und geht geht
kommt und kommt kommt geht und geht geht
kommt und kommt geht geht und geht kommt
kommt und geht geht geht und kommt kommt
geht und geht geht kommt und kommt kommt
kommt kommt und kommt geht geht und geht
kommt kommt und geht geht geht und kommt
kommt geht und geht geht kommt und kommt
geht geht und geht kommt kommt und kommt
geht geht und kommt kommt kommt und geht
geht kommt und kommt kommt geht und geht
kommt kommt und kommt geht geht und geht.
Zwei Zeilen eines Gedichts von T.S. Eliot, "The Love Song of J. Alfred Prufrock", haben mich seinerzeit beim Lesen derart fasziniert, das sie sich automatisch einprägten: Into the room the women come an go / Talking about Michelangelo.

Diese Erinnerung an peripathetisches Bildungsgeschwätz wurde 1959 in der ersten Ausstellung konkreter Texte in Stuttgart überlagert von einem Ideogramm, in dem José Lino Grünewald ständiges Kommen und Gehen sprachlich zu demonstrieren versuchte, indem er die Wörter vai e vem (kommt und geht) in Wiederholung und Umkehrung zu einem gleichsam magischen Quadrat anordnete,

vai e vem
e          e
vem e vai
so daß sie nun in einer permanenten Kreisbewegung zu lesen waren: vai e vem e vai e vem e vai e vem e vai e vem ad infinitum.

Dies und meine ganz persönlich Abneigung gegen Leute, die gehen und gehen und gehen und doch nicht gehen oder kommen und kommen und kommen aber doch nicht kommen, veranlaßten mich zu typografischen Demonstrationsversuchen mit kommt und geht.

Von mir aus ist zu diesem ersten Versuch wenig zu sagen. Was mich interessierte, war die massive Häufungsmöglichkeit der Wörter kommt und geht, und daß durch die Stellung des und gewisse semantische Verschiebungen eintreten: geht und geht geht bedeutete mir anderes als geht geht und geht. Schließlich interessierte mich noch, daß ich bei dieser Lösungsmöglichkeit in dem Maße das geht ging, das kommt kommen lassen, und in dem Maße das kommt ging, das geht kommen lassen konnte undsoweiter.

Was sich bei dieser Lösungsmöglichkeit nur andeuten ließ, die spiegelverkehrte Wiederholung eines Wortblocks (dem kommt und kommt kommt rechts oben entspricht links unten ein kommt kommt und kommt) ließ sich einige Zeit später mit Hilfe des Lichtsatzes durchführen,

Beispiel 6

[Text nachtragen]

d.h. ich konnte jetzt dem kommt das geht und dem geht das kommt spiegelverkehrt direkt zuschreiben. Ferner ließ sich aus der Spiegelung des kommt das kommt nahtlos herschreiben, erscheinen jetzt das geht und seine Spiegelung - bedingt durch die geringere Buchstabenzahl gespreizt.

Beispiel 7

[still stand. Text nachtragen]

Wie der letzte Text so gehört auch dieser zu einer Gruppe von Texten, die ich "poems through the looking glass" genannt habe. Nicht nur, weil hier mit der Technik des Spiegelns gearbeitet wurde; sondern auch in gebührender Bewunderung von Lewis Carrolls Erzählung "Through the Looking Glass". [In der Titel der gemeinsamen Publikation mit Klaus Burkhardt, "poem structures in the looking glass", hat sich leider ein falsches in eingeschlichen.]

Der Text, den ich Ihnen zeige, ist in seiner sprachlichen Zugehörigkeit nicht festgelegt. Sie können links oben still stand lesen und dem buchstäblichen Durchspiel zu stand still und wiederum zu still stand folgen. Sie können aber auch englisch aussprechen: still als Adjektiv: still, ruhig, unbeweglich; als Adverb: immer noch, noch. Sie können es als trotzdem, dennoch, jedoch verstehen oder als Verb lesen: stillen, beruhigen; aber auch destillieren, herabtröpfeln. stand kann als Verb (stehen; hochstehen u.v.a.m.) und als Substantiv aufgefaßt werden, und als letzteres Stand, Stillstand, aber auch Satz bedeuten. Dies alles sind Möglichkeiten. Der Text legt keine Bedeutung fest. Was Sie herauslesen wollen, bleibt Ihnen überlassen. Was immer Sie aber herauslesen, das Gedicht ist so realisiert, daß die gewählte Spiegelform vor das Entziffern eine sozusagen typografische Unruhe setzt, die sich zu den meisten Lesemöglichkeiten im Widerspruch befindet.

Beispiel 8

[love is a bitter mystery. Text nachtragen]

War der letzte Text in seiner sprachlichen Zugehörigkeit nicht festgelegt, so bleibt dieses "poem through the looking glass" im Bereich einer Sprache, wobei es ein Gedichtzitat sukzessive reduziert:

love is a bitter mystery
love is a bitter mist
love is a bitter
love is a bit
love is a
lovers
laugh.
Wollte man eindeutig übersetzen, könnte man von der Überführung einer lyrischen Formel in das Gelächter des Orgasmus sprechen. Aber diese wie alle anderen und genaueren Übersetzungsmöglichkeiten werden durch die durchgeführten Spiegelungen dieses Lesefelds zunächst verdeckt. Ich würde heute sagen, daß das, was ich mit diesen "poems through the looking glass" versucht habe, nämlich den Text in seine Spiegelmöglichkeiten aufzuklappen, wesentlich dazu dienen sollte, das Erscheinungsbild des Textes typographisch zu veräußerlichen.

Beispiel 9

versuch über das lyrische ich
ged ich t
ge dich t
ged ich t
ge dich t
ged ich t
ge dich t
ged ich t
du mich auch!
Dieser Text bedarf eigentlich keines Kommentars, da er als "versuch über das lyrische ich" bereits Kommentarcharakter hat. Wir alle haben einmal gelernt, daß das lyrische Ich in einem Goethe-Gedicht zum Beispiel, im Gedicht des 19. Jahrhunderts anzutreffen sei und dort unter anderem nach dem Grunde frage, aus dem es sei (Martini): Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / daß ich so traurig bin. Spricht, was häufiger geschieht, dieses Ich ein Du an, nimmt es dieses Du ins Gedicht mit hinein: Leise flehen meine Lieder / durch die Nacht zu dir. In selteneren Fällen treten Ich und Du in Personalunion auf: Warte nur, balde / ruhest auch du.
Mein konkreter Versuch über das lyrische Ich möchte dieser komplizierten Materie Rechnung tragen.

Beispiel 10a:

[Schwitters' i-Gedicht. Text nachtragen]

Das Gedicht, das ich Ihnen zeige, ist das berühmt/berüchtigte "i-Gedicht" von Kurt Schwitters. Es besteht, wie Sie sehen, lediglich aus dem i der deutschen Schrift und dem zugehörigen Merkvers: lies; rauf runter rauf, Pünktchen drauf. Heißenbüttel hat dieses Gedicht 1963 folgendermaßen kommentiert:

Die Banalität eines Merkverses aus dem Volksschulunterricht wird hier zu einem Akt der Demonstration verwendet, der an dem einen Beispiel die elementare Leere des bloßen Schriftbildes aufdeckt. In der extremen Position dieses Exempels soll dem Leser dieses 'Gedichts' schockartig deutlich werden, daß Sinn und Bedeutung, die einem geschriebenen oder gedruckten Text beigelegt werden, im Grunde in einer teils konventionellen, teils subjektiven Assoziationstätigkeit bestehen, die mit der Materialität dieser Schriftzeichen nur fragwürdig verbunden sind.

Heißenbüttels Kommentar geht weder darauf ein, daß es sich hier um ein letztmögliches Emblem handelt

[Kommentar einfügen]

noch darauf, daß Schwitters in Nachbarschaft dieses Textes seine viel zu wenig bedachte "i-Theorie" entwickelt, die auch ich hier und heute nicht erörtern will. Stattdessen verweise ich darauf, daß das rauf runter rauf des Merkverses auch einer in zahlreichen Sprichwörtern/Redensarten verbreiteten Lebensauffasssung und -haltung entspricht, von Das Leben ist eine Hühnerleiter, vor lauter Dreck kommt man nicht weiter bis Das Leben ist eine Rutschbahn. Wenn du unter bist, mußt du bremsen.

Ich habe versucht, das Schwittersche i im rauf runter rauf als rauf runter rauf zu schreiben und dabei die durchschnittliche Moral des halbwegs Obenbleibens angehängt.

Beispiel 10b

[Abb. nachtragen. rauf runter rauf]

Dirk Mende hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß man die Figur dieses Textes auch als spiegelverkehrtes Wurzelzeichen lesen kann. Ich möchte dies paraphrasieren und sagen: daß man sich die sprachliche Haltung, aus der hier die (verkehrte) Wurzel gezogen wird, weder an den Hut noch hinter den Spiegel stecken sollte.

Beispiel 11

[Text nachtragen]

Beispiel 12a

[konkret. Text nachtragen]

Wie zufällig oft Sinn und Bedeutung sind, welche wir unseren ehemals bildhaften Schriftzeichen beilegen, weisen die nationale und internationale Buchstabiertafel und ihre individuellen Varianten aus. Konkret buchstabiert sich zum Beispiel für Inland Kaufmann Otto Nordpol Kaufmann Richard Emil Theodor; und für Ausland: Kilogramme Oslo New York Kilogramme Roma Edison Tripoli. Da ich gelegentlich ein recht verspielter Mensch bin, versuchte ich entsprechend eine konkrete Buchstabiertabelle bzw. eine Buchstabiertabelle für konkrete Texte und Autoren, nach der sich k natürlich nur wie konkret buchstabieren ließ, was sich negativ und positiv lesen läßt.

Beispiel 13

Mit Zweierlei hatte ich nicht gerechnet, nicht damit, daß der 1965 als Weihnachtskarte von Klaus Burkhardt gedruckte "Apfel" schon bald an den unterschiedlichsten Orten bis nach China, auch in Übersetzung, nachgedruckt und zu einer Ikone einer vor allem visuell verstandenen konkreten Poesie werden würde; erst recht aber nicht damit, daß man in ihm ausschließlich einen Gag mutmaßen könnte [= look the intruder!], soweit man den wurm im Apfel überhaupt erkannte [s.u.].

Daß keiner der Ablehner und Fürsprecher auf die Idee kam, die Paradiesgeschichte z.B. oder den Trojanischen Krieg herbeizuassoziieren, verblüffte mich. Als ehemaligem Schüler eines humanistischen Gymnasiums und aus der Lektüre waren mir natürlich der Apfel des Paris, oder die von Herakles geklauten hesperidischen Äpfel und macherlei Anderes, auch Märchenhaftes (Schneewittchen), Sprichwörtliches und Umgangssprachliches um den Apfel durchaus vertraut, die oft folgenden Katastrophen (Trojanischer Krieg, Vertreibung aus dem Paradies etc.] geläufig. So verbinden sich in einer "fingerübung" aus dem Jahr 1959 - dem Erscheinungsjahr der "missa profana" - Sprichwörtliches, Paradiesgeschichte und Trojanischer Krieg zu:

die nichtgemalten bilder im himmel oktober : ich bezeichne den herbst als dies und das auch als jenes : ich sage herbst ist eine jahreszeit und nichts weiter : allenfalls verführte eva mit äpfeln den sommer : da war der wurm drin : böse zungen besprechen den krieg im handumdrehen die liebe : vorderhand geht das gerücht einer sintflut um mit der zeit da es herbst wird : wichtig scheint dagegen die reihe von zeichen für zeichen für : herbst sage ich ist dies und das auch sage ich jenes : nicht kodierte zeichen : herbst da herbst wird.
[Druck: fingerübungen, 1962].

Einige Jahre später begann ich, besessen von der Idee, Gedichte bis auf eine gerade noch denkbare Wurzel zu reduzieren, mit Texten zu experimentieren, die nur noch aus drei oder zwei Wörtern bestanden und die ich "epigramme ad usum delphini" nannte.

Ein erster Typus dieser "epigramme" waren Drei- oder Zweizeiler wie

my story
your story
history
oder
einfall
zweifel.
Die im ersten Wegwerfheft 1967 veröffentlichten Siebenzeiler bildeten einen weiteren Typus dieser "epigramme", der in der sechsmaligen Wiederholung eines Wortes und einem abschließenden Wortsprung bestand. Die Siebenzahl war mir hier wichtig.
less
less
less
less
less
less
lesbisch
oder:
man
man
man
man
man
man
kind.
Ich muß hier ergänzen, daß ich damals gegenüber den Texten Eugen Gomringers mißtrauisch geworden war, dem unendlichen ping pong pointierte auch visuelle Zweiwortgedichte entgegensetzen wollte,
worthalten schweigen
                worthalten schweigen worthalten
                schweigen worthalten schweigen
                                                worthalten schweigen
etc. bis an die Grenze des unsinnig Parodistischen, wenn ich zum Beispiel Gomringers emphatischer konstellation "schweigen" das worthalten einschrieb:
schweigen schweigen schweigen
schweigen worthalten schweigen
schweigen schweigen schweigen
oder sie mit der konstellation
worthalten worthalten worthalten
worthalten                 worthalten
worthalten worthalten worthalten
konterte, in der das Schweigen nicht einmal mehr als Wort, sondern nurmehr als eine Leerstelle erhalten war. Auf den Bezug zum Kanji für mund (= kuchi) gehe ich hier nicht ein.

Zu diesem dritten, visuellen Typus der "epigramme" gehört auch die Folge "Apfel / Birne / Blatt", in der der Text zusätzlich konturiert wurde. Die Figurata der Anthologia graeca oder des Barock, auf die die konkret-visuelle Poesie gerne zurückverwiesen wird, spielten dabei in meinen Überlegungen keine Rolle. Stattdessen sah ich in diesen reduzierten "epigrammen" letztmögliche Bruchstücke, gerade noch entzifferbare Fragmente. anders gesagt: mich interessierte, wieweit sich Bedeutung(en) reduzieren ließ(en), ohne ganz verloren zu gehen. Im Falle des "Apfels" standen für mich dabei also wie gesagt der irrtümlich angenommene Paradiesapfel ebenso wie der Apfel des Paris wie andere mythologische Äpfel, in denen der sprichwörtliche Wurm steckte, aber auch die Äpfel des Aberglaubens oder als Liebes- und Symbol der Sexualität und Fruchtbarkeit durchaus im Hintergrund. Gleichfalls waren von mir die biblische, lutherische Bedeutung des Wurms wie der Lindwurm durchaus mitgedacht. Das Bild, den Text dachten wir uns damals als "Leerstellen", an und in denen sich Künstler/Autor und Leser treffen, an/in denen sich die genannten Bedeutungsfelder dann erschließen sollten.

 Daß dieses von den Lesern oder Ausstellungsbesuchern so nicht assoziiert und gesehen wurde, hatte ich nicht erwartet und es irritierte mich so sehr, daß ich sogar mit dem Gedanken spielte, Nachdrucke des inzwischen recht populären "Apfels" zu untersagen. Schließlich tröstete ich mich mit einer Anekdote, nach der Newton die Gravitation begriff, als ihm ein Apfel auf den Kopf fiel.

Andere Anspielungen hatte ich bei der Feuilleton/Guillotine und dem Birnentext im Kopf, von dem es zwei Versionen gab, eine erste, dann auch gedruckte, die in Anspielung auf Karikaturen dem in Form einer Birne (engl. pear) repetierten pere ein ubu einschrieb, und eine zweite, die, als hommage gedacht, und in Anspielung auf seine "Stücke in Form einer Birne", dem pere ein satie einschrieb. Diese Hommage habe ich nach den schlechten Erfahrungen mit dem Apfel/Wurm und als ich sah, daß die Hommage a Jarry allenfalls Mißverständnisse hervorrief, allerdings nicht mehr drucken lassen.

Abschließend möchte ich stellvertretend noch zwei vorliegende Kommentare zitieren, weil sie eine gegensätzliche Meinung vertreten und ich keinesfalls unterschlagen will, daß auch solche Äpfel Geschmackssache sind. Der erste Kommentar stammt von Peter Weiermair, der dabei die Meinung Gerhard Rühms referiert.

Der Zeichencharakter der Schrift darf aber nicht dahingehend ausgenützt werden, den Inhalt des Begriffs naturalistisch zu veranschaulichen; das Verhältnis zwischen Begriff und optischer Präsentation des begriffrepräsentierenden Zeichens sollte vielmehr notwendig ein dialektisches sein. Mißverständlich und als Verdoppelungseffekt erscheint ein naiver Begriffsimpressonismus, wenn zum Beispiel ein Apfel als ikonisches Bild aus Lettern aufgebaut wird, die den Begriff Apfel repräsentieren. Das Bild wirkt durch seine Ähnlichkeit, nicht aber durch seine Idee. Sobald die Identifikation mit dem intendierten Gegenstand erreicht ist, löst sich die Spannung des Lesers und die Aufgabe ist, wie in einem Suchspiel, gelöst. Es kommt vielmehr auf eine Durchdringung von bewußtseinsmäßigen und objektiv-materialen Gegebenheiten in dem jeweilig gegebenen Text an.

Der zweite Kommentar, den ich einem Vortrag und Aufsatz Christian Wagenknechts entnehme, lautet:

Döhl verzichtet darauf, die äußere Kontur des Textes gleichsam von innen her, aus der geordneten Wiederholung des einen Wortbildes abzuleiten, sondern zwingt, wie es scheint, dem bedeutungslosen Resultat einer mechanischen Vervielfältigung ebenso mechanisch, mit der Schere, die Kontur eines Apfels auf. Er denunziert die typografische Feinarbeit der Kolar und Garnier als überflüssige Mühe und führt einen Programmsatz der konkreten Poesie, das Prinzip des geringsten Aufwands, zur absurden Konsequenz. [...] Döhl freilich durfte sich die Bequemlichkeit der mechanischen Konturierung gestatten, weil es in seinem Text nicht eigentlich und jedenfalls nicht nur um die typografische Abbildung eines Apfels geht. Dieser Apfel nämlich enthält [...] einen Fremdkörper, genauer: einen Wurm. Und der verbirgt sich nicht wie auf Vexierbildern in fremder Gestalt, sondern überraschendenweise in seiner eigenen, in der des Wortes Wurm [...]. Ein sprachliches Vexierspiel also, ein Scherzgedicht mit den Mitteln der konkreten Poesie, ein Witz, wenn man so will - ein Witz aber, der wie die Wortspiele Nestroys dazu angetan ist, den Betrachter im Labyrinth der Beziehungen zwischen Sprache und Welt zu verfangen. Und das, so scheint es, macht den Sinn vieler konkreter Gedichte aus.

Was ich zu den gezeigten Beispielen gesagt und zitiert habe, sollte keine Interpretation sein und Sie auch nicht am eigenen Sehen und Einschätzen hindern. Ich möchte abschließend zwei Etikettierungsversuche für eine konkrete Literatur vorschlagen. Im ersten Fall gehe ich davon aus, daß sich der Verfasser konkreter Texte primär für die Sprache interessiert, daß er gleichsam wortwörtlich sprechen möchte. Ein Wort, sagte dies Max Bense, das konkret verstanden werden soll, muß ganz und gar beim Wort genommen werden. Da man sagen könnte, daß eine solche Auffassung in den letzten zwanzig Jahren a la mode war, schlage ich - französisch freilich nicht ganz korrekt - als erstes Etikett a la mot vor. Da ich aber auch denen gerecht werden möchte, denen die Produkte einer konkreten Poesie bestenfalls für die gutbürgerliche Wohnküche geeignet scheinen, die in einem konkreten Text höchstens einen affirmativen Artefakt sehen, schlage ich als zweites Etikett artefuckt vor und bedanke mich für Ihre Geduld.