Reinhard Döhl | Wie konkret sind Ernst Jandls Texte oder Ernst Jandl und Stuttgart
(Ein Exkurs)

Das Gesicht einer konkreten Literatur ist so international wie uneinheitlich. Nicht nur in zahlreichen Nationalliteraturen, auch in divergierenden politischen Systemen begegnet konkrete Literatur bzw. Poesie seit Mitte der 50er Jahre in unterschiedlich visuellen und/oder akustischen Ausformungen mit z.T. konträren Intentionen. Ihre Reduktion auf das konkrete Material der Sprache (Wort, Silbe, Buchstabe) kann affirmativen Charakter, aber auch die Funktion sprachlichen Querstellens haben. Weder die Fülle der begleitenden Manifeste noch zahlreiche Erklärungsversuche von außen haben bisher über kleinere gemeinsame Nenner hinaus Eindeutigkeit schaffen können. Zwar lassen sich philosophische (1) von linguistischen (2) Erklärungsversuchen trennen, finden sich Abgrenzungsversuche gegenüber konkreter Kunst und konkreter Musik, doch sind dies allenfalls mögliche idealtypische Annäherungen an eine Literatur, deren Zugang durch unterschiedliche Schrift- und Lautsysteme und vor allem dadurch erschwert wird, daß die konkrete Literatur fluktuierender Bestandteil der grenzüberschreitenden Literatur- und Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts ist.

Das vorausgesetzt, lautet meine Frage denn auch nur: Wie konkret sind Ernst Jandls Texte? Und sie berührt bei ihrer Beantwortung zugleich Jandls Beziehungen zu Stuttgart.

Es ist in der Literatur über Jandl nachzulesen, zu welchen Gruppierungen er Kontakte hatte oder hat, wobei vor allem die "Wiener Gruppe" und das "Forum Stadtpark" genannt werden. Das ist aus österreichischer Sicht verständlich, läßt aber ein in den 60er Jahren intensiveres Hin&Her der Verbindungen zwischen Ernst Jandl und Autoren der Stuttgarter Schule bzw. Gruppe außer acht (3). Mit dieser Stuttgarter Schule/Gruppe hat auch zu tun, daß ich neutral von Texten rede, weil in unseren damaligen Diskussionen der Text und seine Theorie (4) eine dominante Rolle spielten. Den meisten Autoren der Stuttgarter Schule bzw. Gruppe ist ferner gemeinsam eine Verbindung von literarischer Rede und Rede über Literatur. Ich stelle meine Frage also nicht nur als Literaturwissenschaftler, sondern auch als Verfasser konkreter Texte, Und ich beginne mit einem Text Ernst Jandls aus "Der künstliche Baum", 1970:

i love concrete
i love pottery
but i'm not
a concrete pot.
Es ist dies ein Vierzeiler, der sich ganz erst erschließt, wenn man ihn in seinen Mehrdeutigkeiten verstanden, seine verschiedenen Leseschichten erkannt und miteinander in Beziehung gesetzt hat.

Leseschicht 1: ich liebe konkrete / ich liebe töpferware / aber ich bin k / ein konkreter topf.

Da das Wort concrete im Englischen aber auch Beton bedeutet, ergibt sich als

Leseschicht 2: ich liebe beton / ich liebe töpferei / aber ich bin k / ein betonkübel.

Die Leseschicht 3 ergibt sich spielerisch rückwirkend aus der letzten Zeile, wenn ich statt a concrete pot = a concrete poet lese: i love concrete / i love poetry / but i'm not / a concrete poet.

Jandl, der 1974 in seinen "Mitteilungen aus der literarischen Praxis", dem dort ersten Vortrag "Abgrenzung des eigenen poetischen Bereichs", diesen Text ähnlich analysiert hat, nennt als weitere Bedeutung von pot noch Haschisch, das Mitte der sechziger Jahre von der kunstsinnigen Jugend in Großbritanien mit Vorliebe konsumiert wurde, ein Hinweis, der Sinn macht, wenn man an Jandls Auftritt und Erfolg, 1965, in der "Royal Albert Hall" denkt (5).

Ich möchte dennoch diese Leseschicht vernachlässigen und mich für den heutigen Zusammenhang auf die drei zunächst genannnten konzentrieren. Sie sind das Ergebnis einer Textanalyse, nicht dagegen schon seine Interpretation. Sie nämlich gewinne ich erst aus dem Wechselspiel dieser Leseschichten. Und in diesem sprachlichen Wechselspiel läßt der Text mindestens zwei Auslegungen durch den Leser zu:

Ziehe ich den Kontext der erklärenden Rede von 1974 hinzu, ist dieser Vierzeiler eine Positionsbestimmung des Autors durch Abgrenzung: gegen eine Poesie, die den Aspekt des (Kunst)hand-werklichen zu sehr betont. Denken ließe sich dabei an die fließenden Grenzen zwischen konkreter Kunst und Design, zwischen konkretem Text und seinem Einsatz z.B. in der Werbung. Möglicherweise hat Jandl sogar konkret angespielt auf eine Rosenthal-Serie von Vasen, Schalen und Teller mit Texten von Eugen Gomringer, Franz Mon und mir, die damals gerade aufgelegt war. Zweitens scheint sich Jandl mit diesem Vierzeiler gegen die konkrete Poesie abzugrenzen. Wäre das wirklich der Fall, wäre der Text eine vorweggenommene Antwort auf meine Frage und ich könnte meinen Vortrag hier abbrechen.

Ich bleibe aber noch eine Weile bei diesem kleinen Text, der 1970, das sagte ich bereits, in "Der künstliche Baum" erschien. Das dort verzeichnete Entstehungsdatum 1969 läßt sich präzisieren, denn Jandl schrieb diesen Text unter dem Datum des 7.7.69 anläßlich eines Besuches in Stuttgart (6) als Widmung in "mai hart lieb zapfen eibe hold", Jandls vierte selbständige Publikation. Sie war 1965 erschienen in der von Bob Cobbing edierten Reihe der "writers forum poets" (7) und mir seinerzeit vom Herausgeber zugeschickt worden. Das alles mag als ein überflüssiges Ansammeln von Kleinigkeiten erscheinen, ist es aber nicht. Denn die genannten Daten, der Ort der Widmung gehören nicht nur peripher zur Werkgeschichte, oder besser: zur Publikationsgeschichte Jandls, für die ich den Interessierten auch auf den kleinen Essay "Wie kommt man zu einem Verlag" (8) verweise.

1958 war mir Jandl aufgefallen durch eine Publikation in der von Horst Bingel redigierten "Streit-Zeit-Schrift", undzwar im 2. Heft des 2. Jahrgangs. In ihm war von Jandl eine Buchbesprechung (9), vor allem aber waren vier (10) "Sprechgedichte" abgedruckt, die uns auch deshalb interessierten, weil wir von Problemen gehört hatten, die der Verfasser anläßlich einer Publikation in Österreich gehabt haben sollte. In solchen Fällen war man damals recht hellhörig aus Gründen, die ich hier nicht zu erörtern habe. Vor allem zwei "Sprechgedichte" interessierten uns besonders. Zunächst Jandls Artikulation des umgekehrt Erhabenen (11) in wo bleibb da / hummoooa, die mein tödlich verunglückter Malerfreund Werner Schreib noch im gleichen Jahr als Zitat in "Die makabren Zeichnungen des merkwürdigen Herrn Schreib" einfügte (12); dann das "chanson", das mich wegen seiner Radikalität schon deshalb reizen mußte, weil ich mich damals praktisch und theoretisch für das Chanson interessierte.

Als mich Jandl 1963 in Stuttgart besuchte, war er mir also vom Hörensagen und durch wenige Texte bereits bekannt. Dieser Besuch wird in Jandls Essay "Wie kommt man zu einem Verlag?" als Folge einer Empfehlung des Luchterhand-Verlags genannt. Ich ergänze: daß mir Jandl außer Grüßen Elisabeth Borchers, die damals Lektorin bei Luchterhand war, aber auch Grüße Horst Bingels ausrichtete. Als Jandl mich besuchte, hatte ich für den Limes-Verlag eine Gedicht-Anthologie "zwischen räume" praktisch abgeschlossen, war aber von den beiden Manuskripten "Laut und Luise" und "Schleuderbahn", die Jandl damals aus seiner Aktentasche zog, so fasziniert, daß ich die ursprünglich 7 Autoren der Anthologie um einen, nämlich Ernst Jandl vermehrte, wobei er, da die Anthologie bereits im Druck war, an die letzte Stelle gerückt wurde.

Dieser Druck ist die meines Wissens erste umfassendere Publikation experimenteller Texte Jandls, die in ihrer Zusammenstellung, die natürlich von den anderen Beiträgen der Anthologie wie von Rücksichten auf den Verleger mit bestimmt war, dennoch weit über das hinausstreute, was sich im engeren Sinne der Gomringerschen "konstellationen" damals konkrete Poesie nannte. Aber die Publikation hatte Folgen. Als Jandl im Januar 1964 zusammen mit den anderen Autoren der "zwischen räume" in Stuttgart las, lernte er Max Bense kennen, kurze Zeit später den damals abwesenden Helmut Heißenbüttel. Jandl ist danach in kurzen Abständen wiederholt zu Lesungen nach Stuttgart gekommen. Ein zweites mal in die Buchhandlung Niedlich, in der auch die "zwischen räume" vorgestellt worden waren, danach in die damals noch Technische Hochschule (heute: Universität) Stuttgart. Und schließlich zu einer Mammutlesung anläßlich der Stuttgarter Buchwochen 1967 im Landesgewerbemuseum, die unter dem Motto "Engagement und Experiment" (13) stand und so überfüllt war, daß sie mit Lausprechern nach draußen übertragen werden mußte. Sie versammelte in alphabetischer Reihenfolge die uns damals wichtigsten Autoren Bense, Döhl, Gomringer, Ludwig Harig, Heißenbüttel, Jandl (14), Ferdinand Kriwet, der sich durch ein Tonband vertreten ließ, Franz Mon, Diter Rot, Gerhard Rühm, Konrad Balder Schäuffelen und Wolfgang Schmidt. Und die sorgten mit ihren unterschiedlichen Texten durchaus für einige Turbulenzen, wenn auch nicht in dem Ausmaße, wie die "Wholly Communion"-Lesung 1965 in der Royal Albert Hall - vielleicht weil es im pietistischen Stuttgart an pot mangelte. Eine weitere Folge der "zwischen räume" und Jandls ersten Stuttgarter Lesungen waren Publikationen in einzelnen Zeitschriften, dann aber auch selbständig: 1964 die "langen gedichte" in der von Elisabeth Walther und Bense herausgegebenen Reihe "rot", ebenfalls noch 1964 "klare gerührt" in der von Gomringer edierten Reihe "konkrete poesie / poesia concreta", 1965 dann in England das schon erwähnte "mai hart lieb zapfen eibe hold" und, zusammen mit Bob Cobbing, die erste Schallplatte (15). 1966 konnte endlich auch "Laut und Luise" erscheinen, nicht, wie von mir ursprünglich gehofft, im Limes-Verlag, der untragbare Kürzungen des Manuskripts verlangt hatte, sondern mit einem Nachwort herausgegeben von Heißenbüttel im Schweizer Walther-Verlag, von dem Jandl kurze Zeit später, zusammen mit Heißenbüttel zu Luchterhand wechselte, seinem Verlag bis zu den "Gesammelten Werken" und darüber hinaus, wenn man von einigen Handpressendrucken absieht.

Als ich Jandl 1963 persönlich kennen lernte, war er aber nicht nur verzweifelt auf der Suche nach einem Verleger, sondern auch nach Akzeptanz für sein literarisches Unternehmen. Und dafür war Stuttgart ein günstiges Pflaster. Die Stuttgarter Gruppe/Schule hatte sich mit wechselnden Konstellationen etabliert. Sie hatte ihre Publikationsforen: den "augenblick" (bis 1961), die reihe "rot" (seit 1960) und seit 1965 die Reihe "futura", herausgegeben von Hansjörg Mayer, der in der zweiten Hälfte der 60er Jahre der Drucker und Verleger der Stuttgarter Gruppe/Schule wurde. Eine Anzahl z.T. kurzlebiger literarischer und künstlerischer Zeitschriften und Anthologien war mit den Stuttgarter Aktivitäten unterschiedlich eng verbunden. Vor allem aber wirkten nach Stuttgart, gingen von Stuttgart aus zahlreiche internationale Kontakte: nach Brasilien, nach England, nach Frankreich, nach Japan, in die USA, in die Schweiz und in die Tschechoslowakei. Hinzu kam, daß sich Bense mit der Studiengalerie im Studium Generale der Technischen Hochschule ein wichtiges Ausstellungsforum geschaffen hatte und dort im Wintersemester 1959/1960 eine erste, 1965 eine zweite Ausstellung internationaler konkreter Poesie veranstaltete, auf der auch Jandl vertreten war. Ein zweites Ausstellungsforum bot die damals den Stuttgarter Unternehmungen aufgeschlossene Buchhandlung Niedlich [der auch Auslieferer der Grazer "manuskripte" war], die man gut und gerne die Buchhandlung der Stuttgarter Gruppe/Schule nennen könnte. Zu ihr gesellte sich 1965 schließlich noch die Edition und Galerie Hansjörg Mayer. Und es gibt keinen dieser Orte, an dem Jandl nicht publiziert, ausgestellt oder gelesen hätte. Und dies mit Präsenz auch nach außen. So war die Nr. 13 der Grazer "manuskripte" im März 1965 der Stuttgarter Gruppe gewidmet mit dem Editorial:

Die Ecole Stuttgart ist eine Erfindung der französischen Literaturkritik. Wir finden, daß diese Schule ihren Rang neben anderen literarischen Gruppen einnimmt, wenn man auch auf ihr nicht schreiben lernen kann; in ihr kann jeder, der zu ihr gehört, für sich seine ästhetischen Vorstellungen und Absichten verwirklichen. Was diese Gruppe verbindet, schreibt Reinhard Döhl: '1. Die Tradition einer sogenannten experimentellen Kunst seit der Literaturrevolution und 2. ein vergleichsweise ähnliches (theoretisches) Bewußtsein den Materialien gegenüber, mit denen sie umgehen. Daß im übrigen jeder seiner Wege geht, viel vom 'noli tangere circulos meos' hält und wenig von der Sache mit dem archimedischen Punkt'.

In dieser Nummer wurde auch das einzige Manifest der Stuttgarter Gruppe, "Zur Lage", publiziert und im Rahmen der Stuttgarter Gruppe, was mich wieder zum Thema zurückführt, auch Texte von Ernst Jandl, darunter "vier variationen über ein gedicht von reinhard döhl" (16), ein früher Beleg für ein wachsendes Interesse Jandls auch an dramatisch-szenischen Texten.

Ein Jahr zuvor hatten die "manuskripte" übrigens neben Texten von Bense und Döhl zum erstenmal auch Texte Jandls veröffentlicht, undzwar im internationalen Kontext konkreter Poesie, der die Experimente Bohumila Grögerovás, Václav Havels, Josef Hiršals, Jirí Kolárs und Ladíslav Nováks ebenso einschloß wie Texte von Autoren der ehemaligen "Wiener Gruppe", der brasilianischen Noigandres, wie den Spatialismus Pierre Garniers.

In Pierre Garniers eigener Zeitschrift, "Les Lettres" finden sich umgekehrt bereits 1963 unter dem "Plan pilote fondant le Spatialisme" neben den Namen brasilianischer, japanischer, tschechischer Künstler auch die Namen der Stuttgarter Gruppe und unter ihnen der Name Ernst Jandl. Jandl hat mir später freund-schaftlich unterstellt, ich hätte seinen Namen mit seiner Zustimmung in die sogenannte Stuttgarter Gruppe eingeschmuggelt. Aber das stimmt so nicht. Ich rechnete ihn / wir rechneten ihn einfach dazu. Und diese Zugehörigkeit wurde für uns nicht nur durch seine zahlreichen Stuttgarter Lesungen dokumentiert, sondern auch durch seine Mitarbeit an Niedlichs Schaufensterkritiken (17), seine Beteiligung an Ausstellungen, seine Beiträge in Stuttgarter Publikationen, zuletzt 1970 zur Bense-Festschrift "Muster möglicher Welten". Danach bröckeln allerdings Jandls Kontakte mit Stuttgart zunehmend ab, von gelegentlichen Besuchen und Lesungen im Jugendhaus Mitte oder (zusammen mit Friederike Mayröcker) im Botnanger Bürgerhaus [oder im letzten Jahr im hiesigen Schauspielhaus [?]] einmal abgesehen, auf welcher Jandl einleitend den Text reinhard, reinhard, rosa lamm [...] vortrug, derart noch einmal seine Verbundenheit mit den Stuttgarter 60er Jahren bekundend.

Daß Stuttgart in diesen Jahren ein Zentrum auch der konkreten Poesie war, stützt sich leicht mit den beiden bereits genannten Ausstellungen Benses. Von Stuttgart aus wurden ferner die drei großen, die 60er Jahre abschließenden, hier einschlägigen Ausstellungen (mit)aufgebaut, die Zürcher Ausstellung "text buchstabe bild" (18), die Ausstellung des Stedelijk Museums in Amsterdam, "akustische texte / konkrete poesie / visuelle texte" (19), die 1970/1071 durch halb Europa wanderte, sowie schließlich als weitere Wanderausstellung 1972 die in der Staatsgalerie Stuttgart zusammengestellten "Grenzgebiete der bildenden Kunst" mit ihren drei Teilen "Bild Text Text Bilder", "Computerkunst" und "Musikalische Grafik" (20). In all diesen Ausstellungen war Jandl natürlich gebührend vertreten, desgleichen in den hier einschlägigen Anthologien, von denen ich - da Stuttgart betreffend - nur Emmet Williams "Anthology of concrete poetry" aus dem Jahre 1967 und Eugen Gomringers "konkrete poesie" aus dem Jahre 1972 nenne.

Damit bekommt die Jandlsche Positionsbestimmung aus dem Jahre 1969, i love concrete / i love pottery / but i'm not / a concrete pot, ein besonderes Gewicht, das sich noch verstärkt, wenn Jandl diese Widmung unterschreibt: Ernst for Reinhard, und damit den Text an mich addressiert, wohl wissend, daß sich eine Unterschrift in dieser Form auch auflösen läßt im Sinne: von ernst(haft) für Reinhard.

Die Vermutung, daß dieser Text zugleich eine Abgrenzung von den konkreten Tendenzen der Stuttgarter Gruppe/Schule war - das Gästebuch verzeichnet für den 7.7. auch die Anwesenheit Heißenbüttels - liegt nahe, trifft aber schon deshalb nicht zu, weil wir selbst seit einiger Zeit Probleme mit der inflationären Begrifflichkeit konkrete Poesie hatten. Bereits 1964 hatten wir für das Stuttgarter Manifest "Zur Lage" das Epitheton konkret bewußt vermieden. Die Zürcher Ausstellung hatte ich "text buchstabe bild" getitelt. Für die Amsterdamer Retrospektive hatten wir uns zusammen mit den Museumsleuten entschieden, den Begriff konkrete poesie einleitend bereits mit einem umgekehrten Fragezeichen zu versehen. Auch meldeten damals entstehende Aufsätze von Heißenbüttel (21) und von mir Bedenken gegen eine zu enge Auslegung des Begriffs konkret an. Wo sich die konkrete Poesie, zitierte ich Heißenbüttel in meinem Aufsatz 1971 abschließend:

Wo sie sich dabei 'zu speziellen Einzelmethoden, Einzeltechniken, Einzelrichtungen verengt' hat, erscheint sie heute historisch abgeschlossen, überschaubar, gleichsam museal. Im 'größtmöglichen Miteinander von Methoden' jedoch, durchlässig an den Rändern, könnte sie [dagegen] 'nicht nur [...] neue' literarische 'Sprechweise', 'sondern ebenso [...] eine neue Weise' sein, 'sich sprachlich in dieser Welt zu orientieren. (22)

Auch Jandl hatte bis zu diesem Zeitpunkt den Begriff konkrete Poesie zwar nicht häufig verwandt, aber auch nicht vermieden. 1964 schrieb er z.B. in "Orientierung":

Man muß es begrüßen, daß es heute Dichter gibt, die neben ihrer Fähigkeit, [...] neue Arten des Dichtens auszubilden, auch das Ordnungsbedürfnis besitzen, welches sie nach Gattungsnamen für neuartige poetische Gebilde suchen läßt. So fand und erprobte man die Namen 'konkrete Poesie', 'Konstellation', visueller Text' und andere, oder spricht ganz allgemein von 'experimenteller Dichtung'. Ich übernehme solche Namen, sobald ich mit ihnen umgehen kann, gerne, um über eigene oder fremde Arbeiten nachzudenken und zu reden. [...] Im übrigen schrieb und schreibe ich 'Texte', deren Einordnung ich anderen überlasse, in einer auf verschiedene Weise aus dem gewohnten in ein ungewohntes Gleichgewicht gebrachten Sprache. (III, 446)

Ein Jahr später, 1965. lese ich in "Österreichische Beiträge zu einer modernen Weltdichtung" von einer wachsenden Zahl von Autoren, die sich einer inter-nationalen Bewegung zur Schaffung einer neuen, zeitgemäßen Poesie zugehörig fühlen oder zu ihr gezählt werden. 'Konkret' und 'experimentell' sind die Attribute, die man zur Bezeichnung dieser Dichtung und ihrer Hersteller heute am häufigsten hört. Der Initiator dieser Bewegung ist in Europa der Schweizer Eugen Gomringer. (III, 447)

An späterer Stelle seines Essays definiert Jandl die moderne Weltdichtung, der er sich offensichtlich selbst zurechnet, als eine Dichtung die nicht von sich ablenkt, die nicht an etwas andres denken macht. Sie ist nicht illusionistisch und nicht didaktisch. Sie ist eine Dichtung, die nichts enthält das man 'wissen' kann.

Sie ist 'konkret', indem sie Möglichkeiten innerhalb von Sprache verwirklicht und Gegenstände aus Sprache erzeugt (statt, didaktisch-abstrakt, Aussagen zu machen über Gegenstände die außerhalb der Sprache angenommen werden, und, illusionistisch-abstrakt, mit sprachlichen Mitteln die Verwirklichung von Möglichkeiten die außerhalb von Sprache angenommen werden vorzuspiegeln). (III, 448)

Zwei weitere Aspekte, Jandls Vorstellung autonomer Dichtung und sein Hinweis auf eine absolute Musik vernachlässige ich für den Moment und erwähne nur noch die Ahnengalerie dieser modernen Weltdichtung, die Jandl mit August Stramm, Hans (Jean) Arp, Kurt Schwitters, Gertrude Stein und James Joyce besetzt. Aber auch der 1886 in Wien geborene Raoul Hausmann wird als noch agierender Aktivposten des österreichischen Beitrags zu einer 'konkreten' und 'experimentellen' modernen Weltdichtung genannt, deren aktuelle Beiträger neben der "Wiener Gruppe" der Innsbrucker Heinz Gappmayr und der Grazer Gunter Falk seien.

Ein weiteres Mal benutzt Jandl den Terminus konkrete Poesie 1974 in seinen "Mitteilungen aus der literarischen Praxis" in der schon genannten "Abgrenzung des eigenen poetischen Bereichs" im Zusammenhang des dort exemplarisch zitierten i love concrete. Jandl kommentiert, das Gedicht habe eine Wurzel im literarischen Ärger, diesem nämlich, daß es für einige ein Streitgegenstand sein könne, ob oder nicht seine [Jandls, R.D.] Gedichte, wenigstens solche, die danach aussahen, konkrete Gedichte seien, und er, wenigstens partiell, ein konkreter Dichter. Einem solchen kleinen Ärger, daß es nämlich überhaupt derartiger Marken bedürfe, läßt sich auf verschiedene Weise Luft machen, ohne daß daraus ein Gedicht entsteht. Wenn es entsteht, dann nur auf eine einzige, ganz bestimmte Weise, vorausgesetzt es ist ein derartiges Gedicht, daß es nur auf diese Weise entstehen konnte und vorstellbar ist, was nicht ein Kriterium für das Gedicht überhaupt ist. (III, 547)

Wenn Jandl jetzt i love concrete zitiert und in seinem Doppelsinn analysiert, zitiert er - wie ich behaupten möchte - ein konkretes Gedicht des Inhalts, daß er kein konkreter Dichter sei, und gibt erst in dieser letzten Leseschicht die eigentliche Pointe seines Vierzeilers preis. Wobei hier nicht überlesen werden sollte, daß sich Jandl bei "Abgrenzung des eigenen poetischen Bereichs" der Sprachtechnik Gertrude Steins bedient:

Ich erwähne nebenbei, daß diese Erklärungen, sofern es Erklärungen sind, nicht deshalb, wie immer einige annehmen, Erklärungen sind, weil diese Gedichte, was als Mangel empfunden wird, Erklärungen zu ihrer Vollständigkeit, das heißt um vollständig verstanden zu werden, notwendig hätten, sondern daß diese Erklärungen hier eine Art Vortrag zu bilden die Aufgabe haben, weil dies keine Lesung von Gedichten, sondern ein Vortrag ist, wenn ein Vortrag aus einer Auseinanderreihung von Erklärungen bestehen kann, falls nichts anderes an diesem hier zu bemerken ist. (III, 548)

Das spielt - undzwar ganz gezielt - die Diktion und die Vortragspraxis von Gertrude Steins "What are Masterpieces", "Composition as Explanation" und den "Lectures in America" und damit eine Traditionslinie an, auf die sich Jandl wiederholt und nicht zuletzt in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen (23) berufen hat. Erstmals auf sie hingewiesen hat er meines Wissens 1963 in "Einige(n) Bemerkungen zu meinen Experimenten", die er seinem Beitrag für die Anthologie "zwischen räume" voranstellte.

Und er hatte mit diesem und einem weiteren Hinweis auf Hans Arp in Stuttgart damals offene Türen eingerannt. Meine Dissertation über "Das literarische Werk Hans Arps" stand kurz vor ihrem Abschluß, zu Schwitters wurde publiziert und die erste Nachkriegsrezeption des Werkes von Gertrude Stein fand mit zahlreichen Aufsätzen. Diskussionen, Übersetzungen aber auch literarischen Folgen vor allem in der Zeitschrift "augenblick" statt, - alles Gründe. die uns die Arbeiten Jandls zusätzlich interessant und wichtig machten.

Einen letzten wichtigen Beleg für die Verwendung des Begriffs konkrete Literatur bei Jandl finde ich 1977 in einer Erinnerung an Konrad Bayer: Später, als man mir erzählt hatte, daß Konrad Bayer sich in Deutschland da und dort über meine Gedichte, die nun in allen möglichen kleinen Zeitschriften zu erscheinen begannen, abfällig äußere, fragte ich ihn nach dem Grund. Er sagte: 'Ich sage den Leuten nur, daß es keine konkreten Gedichte sind'. (III, 606)

Die zitierten Belege ergeben einen relativ präzisen Befund. Für Jandl scheint der als konkret attribuierte Text eine Spielform experimenteller Literatur zu sein. Innerhalb dieser experimentellen Literatur versteht Jandl konkrete Literatur in Nachfolge Eugen Gomringers (24), worauf auch die beiden hier verwandten Begriffe konstellation und visueller Text verweisen. In der Tat spielten damals die Begriffe konkrete Literatur/Poesie und visueller Text/visuelle Poesie eine dominierende Rolle so weit, daß es oft zu einer Synonymie der Attribute konkret und visuell kommt (25). Gegen solch einschränkendes Verständnis wehrte sich Jandl mit i love concrete bzw. seinem späteren Kommentar zu Recht, da seine Texte so in der Tat mal mehr, mal weniger in diese Schublade passen würden. Aber das war für uns damals allgemein ein Problem, so daß die Zürcher Ausstellung "Text Buchstabe Bild" den Begriff konkrete Poesie vermied und die Amsterdamer Ausstellung ihn mit einem deutlichen und umgekehrten Fragezeichen versah, - ansonsten von akustischen und visuellen Texten sprach.

Es ist hier der Ort, in Jandls theoretischen Äußerungen nach weiteren Stichworten für sein Verständnis von Dichtung zu suchen, herauszustellen, daß er von verschiedenen Methoden für das Schreiben von Gedichten spricht (III, 482), von reduzieren (III, 477), von Sprachmustern (III, 487), Sprache als ein Material zur Produktion von Kunst betrachtet und dabei zwischen objektiven und subjektiven Materialvorräten (III, 490) unterscheidet, daß er bei seinen Gedichten mit einem Minimum an Mitteln den darin enthaltenen Variationen ein hohes Maß an Deutlichkeit (III, 549) verleihen möchte und manches andere mehr.

Eine solche Begrifflichkeit, oder doch wenigstens ihr verwandte Überlegungen begegnen aber auch in den Überlegungen nicht nur (!) der Stuttgarter Gruppe. Als Reduktionen wollte zum Beispiel Heißenbüttel seine frühen Texte verstanden wissen mit dem Zusatz: Reduktion müsse Witz entwickeln und damit etwas, woran es in der Dichtung und nicht nur in ihr auch Jandls Meinung nach mangelt, wie er anläßlich seines "Sprechgedichts" wo bleibb da / hummoooa anmerkt.

Wenn Jandl an anderer Stelle seinen Texten die Aufgabe des Zeigens zuweist, entspricht dies der Vorstellung der Demonstrationen, als die Heißenbüttel zeitweilig seine Texte verstanden wissen wollte: Ich neige in gewisser Weise immer mehr dazu, diese Dinge weder als Gedicht noch als Text zu bezeichnen, sondern als Demonstrationen. Demonstration im Doppelsinn dieses Wortes scheint mir das zu sein, was notwendig ist.

Auch das Materiale der aktuellen Literatur wurde damals immer wieder betont, vor allem von Max Bense, der stets nachdrücklich darauf hinwies, daß konkrete Literatur die Sprache beim Wort nehme, indem sie den Schritt vom Schreiben in der Sprache zu einem Schreiben mit der Sprache vollzogen habe, als eine bewußte Poesie, die ihre ästhetische Realität in einer Sprache aus Zeichen, deren Klassen sie kombiniert, mitteilt, und diese Zeichen sind zwar Worte, aber das Wort erscheint nicht als konventioneller Bedeutungsträger, sondern muß strikt als konstruktiver Zeichenträger aufgefaßt werden.

Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang auch auf mein Vorwort in den "zwischen räumen" verweisen, in dem ich davon sprach, daß Jandl Sprache [...] als Material für einen zunächst nur materialen Vorgang benutze, und für die aktuelle Poesie allgemein vermutete, daß Verengung [...] Präzisierung (auch der Mehrdeutigkeiten) bedeute, Präzisierung aber [...] den Gewinn an strukturellen Möglichkeiten, überzeugt, daß man im Bereiche einer Mikroästhetik von möglichen Mustern, Modellen wie von möglichen Methoden sprechen könne.

Und noch eine Parallele ist hier für mich von Interesse. In "Zwei Arten von Gedichten" beschreibt Jandl 1968 für seine Produktion den Typus eines gesellschaftskritischen (Gedichts) in komprimierter Alltagssprache und den eines sprachkritischen (Gedichts) in manipulierter Sprache. Sprachkritik bedeute dabei einerseits die Bloßstellung von Sprache als einem - in Grenzen - beliebig brauchbaren Material, andererseits die Bloßstellung von sprachlichen Indizien für bestimmte Denk- und Handlungsweisen. Sprache als Material stellt eine Unzahl kleiner Objekte zur Verfügung, die sich bewegen, formen, reihen, verbiegen, zerlegen, miteinander verzahnen lassen, und die, was die Willkür des Gedichtemachers bloßstellt oder ihr Grenzen setzt, überdies Zeichen sind, innerhalb der Sprache aufeinanderzeigend und aus der Sprache heraus auf die Gegenstände außerhalb. (III, 479)

Was mich an diesen Ausführungen interessiert, ist weniger, daß auch Jandl hier von Zeichen spricht, denn da wäre zugleich auf einen unterschiedlichen 'Zeichengebrauch' zu achten. Was mich vielmehr interessiert ist 1. der sprachkritische Aspekt, der auch uns besonders interessierte, und 2. das Nebeneinander von Gesellschafts- und Sprachkritik. Nicht von ungefähr lautete der Untertitel der Zeitschrift "augenblick" "Zeitschrift für Tendenz und Experiment".

Daß dies damals natürlich nicht nur in Stuttgart so gesehen wurde, belege ich mit der Büchnerpreis-Rede des für die Hörspielentwicklung Jandls später wichtigen Günter Eich: Sprache, damit ist auch die esoterische, experimentierende Sprache gemeint. Je heftiger sie der Sprachregelung widerspricht, um so mehr ist sie bewahrend. Nicht zufällig wird sie von der Macht mit besonderem Zorn verfolgt. Nicht weil der genehme Inhalt fehlt, sondern weil es nicht möglich ist, ihn hineinzupraktizieren. Weil da etwas entsteht, was nicht für die Macht einzusetzen ist. Es sind nicht die Inhalte, es ist die Sprache, die gegen die Macht wirkt. Die Partnerschaft der Sprache kann stärker sein als die Gegnerschaft der Meinung. (26)

Eine konkrete Literatur, die mit den Mitteln der Sprache das Geschäft der Opposition betreibt, bewegt sich allerdings jenseits der engen Grenzen, die Gomringers "konstellationen" abgesteckt hatten. Und sie bewegt sich zugleich in einem erweiterten Traditionsfeld. Jandl hat bei der Benennung seiner Traditionslinien einen Künstler nie erwähnt: Öyvind Fahlström bzw. dessen "Manifest för konkret poesie", "Hätila Ragulpr Pä Fätskliaben" aus dem Jahre 1953, obwohl er es theoretisch über Bob Cobbing hätte kennen können.

Der nämlich hatte in seinem "Concrete sound poetry 1950-1970" überschriebenen Beitrag zur Amsterdamer Retrospektive auf die Bedeutung dieses Manifests nachdrücklich verwiesen und sogar von einem Generationenwechsel in der Entwicklung der konkreten Poesie gesprochen:

The first use of the term 'concrete poetry' in a manifesto was by Öyvind Fahlström (Sweden) in 1953. He related it more to concrete music than to concrete 'art'. He emphasised rhythm as 'the most elementary, directly physically grasping means of effect' because of its 'connection with the pulsation of breathing, the blood, ejaculation'. He open us the way not only for the structural aspects of concrete poetry which play such a prominent part in the theory and practice of Eugen Gomringer [...], the Brazilians and the Germans, but for expressionist aspects which a second generation of concrete poets has found so potent.

Innerhalb dieser Generation, schreibt Cobbing an späterer Stelle, gebe es so viele Arbeitsweisen wie es Dichter gebe, unter denen Ernst Jandl [...] der gegenwärtig bedeutendste Vertreter der phonetischen Dichtkunst für reine Stimme sei, who breaks words up into meaningful sound-fragments, recomposes them, organises them with rhythmic and structural precision.

In der Tat hatte Fahlströms Manifest in der Diskussion der konkreten Poesie Perspektiven eröffnet, die in der Gomringer-Linie (wenn man dies so sagen darf) deutlich vernachlässigt wurden. So sieht Fahlström in seiner Interpretation der Schäfferschen "Etude aux chemin de fer" die wesentliche Leistung im Eingriff in den Stoff selbst. Die Elemente waren nicht neu: aber der neue Zusammenhang, der gebildet war, hatte eine neue Materie gegeben. Daraus geht hervor, daß, was ich literarische Konkretion nenne, ebenso wenig wie die musikalische Konkretion und die Nonfiguration der bildenden Kunst einen Stil hat - teils ist es für den Leser eine Möglichkeit, Wortkunst zu erleben, in erster Linie Poesie - teils für den Poeten eine Befreiung, eine Erlaubniserklärung allen sprachlichen Materials und aller Mittel, es zu bearbeiten.

Aber nicht nur, weil es das Wort konkret [...] mehr im Anschluß an konkrete Musik als an Bildkonkretismus im engeren Sinne verwendet, ist das "Manifest [...]" Fahltröms bemerkenswert, es zieht auch die historische Perspektive wesentlich weiter, wenn es den konkret arbeitenden Dichter einen Verwandten der Formalisten und Sprachkneter aller Zeiten nennt, dessen Ahnenreihe sich von den griechischen Bukolikern und Alexan-drinern über Rabelais, Gertrude Stein, Schwitters, Artaut und viele andere herschreibe.

Das bringt mich zu Jandl zurück, der ja seinerseits immer wieder mit August Stramm, Hans Arp, Gertrude Stein, mit Kurt Schwitters und James Joyce einige gewichtige Formalisten und Sprachkneter genannt hatte, die auch in der Stuttgarter Gruppe/Schule mit zum Teil anderer Gewichtung diskutiert wurden zu einer Zeit, als die Germanistik den Dadaismus allenfalls mit der Feuerzange anzufassen bereit gewesen wäre.

Heute hat sich durchgesetzt, diese Autoren einer Vorgeschichte der konkreten Poesie zuzurechnen, haben sie diese Position zum Teil selbst für sich beansprucht, Raoul Hausmann für die Geschichte der konkreten Lautdichtung, Hans Arp sogar ausdrücklich für das konkrete Gedicht. Kandinsky, schreibt Arp bereits 1951, also deutlich vor den Manifestationen Fahlströms und Gomringers, sei in einer Zeit, da die abstrakte Kunst sich in die konkrete Kunst zu verwandeln begann, [...] der erste gewesen, der es bewußt unternahm, solche Bilder zu malen und entsprechende Gedichte zu schreiben.

Will man Arp folgen, haben Kandinsky, Hugo Ball, Tristan Tzara und Arp selber wesentlich zur Klärung der konkreten Poesie beigetragen, wobei Arps Liste noch um den Namen Schwitters zu ergänzen wäre. Nach Arps Auffassung ist dabei Kandinskys Gedichtband "Klänge" aus dem Jahre 1912 nicht nur eines der außerordentlichen, großen Bücher, sondern es versammle auch erstmals konkrete Gedichte. In diesen Gedichten tauchen Wortfolgen und Satzfolgen auf, wie dies bisher in der Dichtung nie geschehen war, notiert Arp, und bezogen auf den Leser: Durch die Wortfolgen und Satzfolgen dieser Gedichte wird dem Leser das stete Fließen und Werden der Dinge in Erinnerung gebracht, öfters mit dunklem Humor, und, was das besondere an dem konkreten Gedicht ist, nicht lehrhaft, nicht didaktisch. In einem Gedicht von Goethe wird der Leser poetisch belehrt, daß der Mensch sterben und werden müsse (27). Kandinsky stellt hingegen den Leser vor ein sterbendes und werdendes Wortbild, vor eine sterbende und werdende Wortfolge, vor einen sterbenden und werdenden Traum. Wir erleben in diesen Gedichten den Kreislauf, das Werden und Vergehen, die Verwandlungen dieser Welt. Die Gedichte Kandinskys enthüllen die Nichtigkeit der Erscheinungen und der Vernunft.

Zwei Punkte sind mir an dieser Charakterisierung und zugleich ersten Definition des konkreten Gedichts in Bezug auf Jandl besonders wichtig. Zunächst die Gegenüberstellung von poetisch belehrendem Gedicht (bei Goethe) und sprachlicher Demonstration (bei Kandinsky). Denn genau diese Unterscheidung trifft auch Jandl, wenn er schreibt: Moderne Weltdichtung [und wer will, mag hier im Gegenzug wiederum an Goethes Vorstellung einer Weltliteratur denken, vgl. das Gespräch mit Eckermann vom 1.1.1827, in dem Goethe davon spricht, daß Nationalliteratur Weltlitertur werden werde nicht nur mit der Aufgabe des gegenseitigen Kennenlernens und Bezugnehmens, sondern auch mit der Aufgabe, für eine gemeinsame Welt gesellschaftlich zu wirken].

Moderne Weltdichtung ist 'konkret', indem sie Möglichkeiten innerhalb von Sprache verwirklicht und Gegenstände aus Sprache erzeugt (statt, didaktisch-abstrakt, Aussagen zu machen über Gegenstände, die außerhalb von Sprache angenommen werden, und, illusionistisch-abstrakt, mit sprachlichen Mitteln die Verwirklichung von Möglichkeiten die außerhalb von Sprache angenommen werden vorzuspiegeln).

Der zweite mir wesentliche Punkt ist, daß für Arp das konkrete Gedicht nicht gegenstandlos ist, er ihm im Gegenteil durchaus Aussagefähigkeit beimißt, und daß seine Aussage durchaus kritischer Art sein kann, die sprachliche Demonstration zum Beispiel der Nichtigkeit der Erscheinungen und der Vernunft. Die sprachliche Demonstration des konkreten Gedichts kann also das in dieser Welt in Sprache als sinnvoll und vernünftig Postulierte mit Hilfe der sprachlichen Vorgänge als sinnlos und unvernünftig erscheinen lassen. Nichts anderes aber leisten für mich auch die Texte Ernst Jandls, gleichgültig ob es sich dabei um einen "Spruch" der Art handelt: manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht / verwechsern. / werch ein illtum!, oder ob es die sprachliche Demonstration eines Verfallsprozesses ist, bei der Jandl von den ersten Worten des Johannes- Evangeliums ausgeht: Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort, um dann mit Vers 14 fortzusetzen: und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.

Ich kann diesen Text, den ich für einen der interessantesten Texte Jandls halte, hier nicht interpretieren. Stattdessen komme ich zum letztenmal zu meiner Ausgangsfrage bzw. zu dem Vierzeiler zurück, von denen ich ausging:

i love concrete
i love pottery
but i'm not
a concrete pot.
Und ich antworte: im Verständnis eines (zu) eng gefaßten Begriffs konkreter Poesie, wie er sich und überdies inflationär von Gomringers "konstellationen" und Manifesten herschreibt, ist Ernst Jandl fraglos kein konkreter Poet. Fasse ich den Begriff des Konkreten aber weiter, faltet man ihn im Sinne Cobbings bis zur "sound poetry" und im Sinne Fahlströms historisch in die Geschichte der Sprachkneter aus, dann waren und sind Ernst Jandls literarische Veröffentlichungen und Verlautbarungen konkrete Texte, war und bleibt er ein konkreter Autor.

[Vortrag im Rahmen des Jandl-Symposions "Wort - Körper - Stimme" des Theaterinstituts Prag, der Zeitschrift "Literární noviny" und des Österreichischen Kulturinstituts in Prag am 14.4.1994. - Druck einer durchgesehenen, gekürzten Fassung in: Semiosis, Jg. 19, H. 2-4, S. 113 ff.]

Anmerkungen
1) Hierher rechne ich vor allem die einschlägigen Publikationen Max Benses. Vgl. Elisabeth Walther: Bibliographie der veröffentlichten Schriften von Max Bense. Baden-Baden: Agis 1994.
2) Siegfried J. Schmidt [Hrsg.]: Konkrete Dichtung. Konkrete Kunst '68. Karlsruhe: Eigenverlag 1968. - Weitere einschlägige Arbeiten Klaus Baumgärtners, Siegfried J. Schmidts u.a. in: B. Garbe [Hrsg.]: Konkrete Poesie, Linguistik und Sprachunterricht. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1987. (Germanistische Texte und Studien, 7).
3) Diese Unterscheidung differenziert zwischen den wissenschaftlichen und den literarisch-künstlerischen (Stuttgarter) Aktivitäten im Umfeld Max Benses.
4) Vor allem Max Bense: Programmierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik (Aesthetica IV). Baden-Baden, Krefeld: Agis 1960; Theorie der Texte. Einer Einführung in neuere Aufassungen und Methoden. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1962.
5) Vgl. die "Introduction" von Alexis Lykiard zu: Wholly Communion. The film by Peter Whitehead. Poetry at the Royal Albert Hall, London, June 11th 1965, S. 6: But one of the most impressive moments was when the austrian Ernst Jandl read and the audience successively turned football crowd, Boy Scout rally, and wolfpack... As his sound-poems rose to a crescendo, a rhythmic furore aided and abetted by the claps and cries of the crowd, so, suddenly the destruction of words and their conversion to a shouted, half-hysterical series of sounds, seemed sinister - took a Hitlerian aspect: the Hall became almost a Babel. It was perhaps the most extraordinary event of the evening: parody and warning, cacophony with its own logic, rational collaps of reason, and despair of communication communicating itself. Artaud, who understood the sanity of madness, would have relished it.
6) Jandls häufige Besuche und Lesungen in Stuttgart bleiben auffällig unberücksichtigt u.a. in Klaus Sibelewski: Lebendaten und Hinweise zur Publikationsgeschichte. In: Ernst Jandl. Gesammelte Werke (künftig GW). Frankfurt/Main: Luchterhand 1985, Bd III, S. 713 ff. Ders.: Ernst Jandl. Texte, Daten, Bilder. Frankfurt/Main: Luchterhand 1990 (Sammlung Luchterhand, 907).
7) Erste Auflage Mai 1965. Der Erfolg der Jandlschen Lesung in der Royal Albert Hall machte bereits für November 1965 eine zweite Auflage nötig.
8) Geschrieben als Vorwort für eine Lesung aus "Sprechblasen" am 17.9.1979 im Kunstverein Wien und im gleichen Jahr veröffentlicht in: Freibord, H. 17, S. 57 ff.; GW III, S. 656 ff.
9) H.C. Artmann: med ana schwoazzn dintn. Einführung von Friedrich Polakowics [sic]. Salzburg: Otto Müller 1958.
10) Da die bibliographischen Angaben - falls überhaupt - nur drei Titel verzeichnen und Jandl selbst in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen (Das öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurt/Main: Luchterhand 1985, S. 16 [Sammlung Luchterhand, 567]) auch nur ungenau von drei oder vier Gedichte[n] spricht, seien hier die Anfangszeilen bzw. Titel aufgeführt: "wo bleibb da", "verscheuchung zweier farben", "chanson", "16 jahr". - Als Definition war den "sprechgedichte[n]" vorangestellt: das sprechgedicht wird erst durch lautes lesen wirksam, länge und intensität der laute sind durch die schreibung fixiert. Das entspricht wörtlich dem Anfang der "Vorbemerkung", die Jandl 1957 dem ersten Druck derartiger Texte in der Zeitschrift "Neue Wege" (H. 123, S. 11) vorangestellt hatte.
11) Ich lese diese Artikulation im Sinne des Jean Paulschen Humorverständnisses, auch wenn sie von Jandl vordergründig als grimmige botschaft des autors an seine widersacher gerichtet ist. (Streit-Zeit-Schrift II/2, November 1958, S. 400).
12) Stierstadt/Taunus; Eremiten-Presse 1958, S. 10. Vgl. auch: Werner Schreib und Stuttgart. Eine Spurensicherung. In: Werner Schreib. Das künstlerische Werk. Gießen: Anabas 1987, S. 73 ff13) "Engagement und Experiment" hatte Max Bense auch seine Einführung in diese Lesung überschrieben. Druck in: Kritisches Jahrbuch 2. Stuttgart: Verlag Wendelin Niedlich o.J. [1973], S. 58 ff.
14) Jandls Teilnahme an dieser Lesung stand allerdings bis Anfang November sehr infrage. Vgl. die im Kritischen Jahrbuch (s. Anm. 13) S. 56 mitgeteilte Korrespondenz.
15) Die Angaben Siblewskis (s. Anm. 6), die erste Platte mit Sprechgedichten Jandls sei im Berliner Verlag Klaus Wagenbach erschienen, ist falsch. "Sprechgedichte/Sound Poems" wurde 1965 als "Writers Forum Record 1" von Bob Cobbing in London ediert. 1966 war Jandl zusammen mit Claus Bremer, Eugen Gomringer, Paul de Vree, Franz Mon, Lily Greenham, Max Bense, Haroldo de Campos, Rolf Geissbühler und mir mit drei Texten aus "Laut und Luise" vertreten auf der von Anastasia Bitzos in Bern edierten Langspielplatte "Konkrete Poesie - Sound Poetry -Artikulationen". Wagenbachs Quartplatte 2, "Laut und Luise" ist demnach Jandls dritte Schallplattenaufnahme.
16) Diese Variationen wurden damals mehrfach veröffentlicht, u.a. in der von Hans G. Markert hrsg. "Sammlung Leinfelden. Handbuch neuer Lyrik", Nr 2, o.O. 1965, S. 60 ff.
17) So besprach Jandl Arno Schmidts "Sitara oder der Weg dorthin" (vgl. Kritische Jahrbuch 1, Stuttgart: Verlag Wendelin Niedlich 1966, S. 55), Rühm "Lehrsätze über das Weltall" und von mir "Es Anna" (vgl. Kritisches Jahrbuch 2 [s. Anm. 13], S. 30 f.).
18) Konzept und Aufbau der Ausstellung entstanden in der Zusammenarbeit von Reinhard Döhl, Stuttgart, und Felix Andreas Baumann, Zürich [...]. Text Buchstabe Bild. Zürich. Zürcher Kunstgesellschaft 1970, S. 3.
19) Mitarbeit bei Aufbau und Katalog der Ausstellung: Bob Cobbing, Paul des Vree, Hansjörg Mayer und Reinhard Döhl.
20) Die Ausstellungsteile "Musikalische Grafik" und "Computerkunst" wurden bearbeitet von Erhard Karkoschka bzw. Herbert W. Franke; von mir der Ausstellungsteil "Bild Text Text Bilder".
21) Anmerkungen zur konkreten Poesie. In: Text + Kritik, 1970, H. 25, S. 19 ff.
22) Konkrete Literatur. In: Manfred Durzak [Hrsg.]: Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Stuttgart: Reclam 1971, S. 257 ff.
23) S. Anm. 10. - Zu Gertrude Stein vgl. vor allem S. 71 ff.
24) Der sein erstes 'Manifest' noch "vom vers zur konstellation" überschrieben hatte.
25) Peter Weiermair: Zur visuellen Poesie. Wort und Wahrheit, Jg 23, 1968, H. 6, S. 524.
26) Günter Eich: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. In: Gesammelte Werke, IV. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 452.
27) Hans Arp: Der Dichter Kandinsky. In H.M. Wingler [Hrsg]: Wie sie einander sahen. Moderne Maler im Urteil ihrer Gefährten. München: List 1961 (List-Bücher, 181), S. 89 f.