Helmut Heißenbüttel
Nachwort

Es gibt heute merkwürdige Klischees des Urteils: wer etwa für moderne Literatur ist, gilt vor vornherein als Gegner der Tradition; aber auch umgekehrt, wer Vergangenes kennt und liebt, wird für einen Verächter der Moderne gehalten. Daß erst im Risiko der Progression, im Ausprobieren und ersten Benennen dessen, was eben nie vorher gesagt oder gezeigt worden ist, die Tradition sinnvoll eingelöst und ihr Erbe weitergetragen werden kann, dieser Gedanke widerspricht offenbar der Übereinkunft, auf die sich unsere Zeit eingelassen zu haben scheint.

Wenn ich sage: die in diesem Band vereinten Gedichte von Ernst Jandl sind Gedichte wie eh und je (soweit es je Gedichte wie eh und je gegeben hat), so dürfe ich das nach dieser Übereinkunft nur sagen als ein modernistischer Snob des Paradoxons oder aber mit der Ignoranz des Avantgardisten, der alles ignoriert, was vor 1911 geschrieben worden ist. Ich habe jedoch weder ein Paradoxon im Sinn, noch meine ich, ein lgnorant zu sein. Ich sage in voller Überzeugung, daß dies Gedichte sind. Gedichte? Was ist ein Gedicht? Sind dies Gedichte? (Die Mechanik solcher Fragen scheint sich bis heute nicht merklich erschöpft zu haben.)

Es sind Gedichte sogar in einem ganz bestimmt auf Tradition bezogenen Sinn. Man erkennt es an den Überschriften der dreizehn Gruppen. Mit Musik: das sind Lieder. Volkes Stimme: das sind Dialektgedichte. Krieg und so: das sind politische Gedichte. Doppelchor: Liebesgedichte. Autors Stimme: autobiographische Gedichte. Kuren: didaktische Gedichte. Der Blitz: ein größeres Lehrgedicht. Ebenso: Klare gerührt, Jahreszeiten, Zehn Abendgedichte, Bestiarium: Naturlyrik. Und die Epigramme bedienen sich selbst eines Namens, dessen Tradition unbezweifelbar ist.

Aber stimmt das wirklich? Ist das Gebilde, das aus den Wörtern: canzone, ganz, ohne, völlig beraubt besteht, ein Lied in dem Sinn, in dem das Heideröslein ein Lied ist? Stellen die Buchstaben

s_______c_______h, tern, s_____________c_____________h, terben
so etwas wie ein Bekenntnisgedicht dar?

Jandl bezieht sich auf die Tradition und zieht sich zugleich zurück auf die bloßen Kennmarken des traditioneller Redens. Er zieht sich zurück auf ein sprachliches Rudiment (oder auch, an anderer Stelle, auf ein Sprachfeld, ein Sprachspiel, eine Redekette usw.), das er am Grunde dessen findet, was in der Überlieferung Gedicht hieß.

Dies Rudiment (mit allem, was sich aus ihm, aus seiner Wortwörtlichkeit erschließen läßt) verarbeitet er zu einem Modell, an dem sich zeigt. wie der Redende (und sein Leser, sein Nachsprecher)sich in der Sprache befindet.

Eins läßt sich leicht sagen: natürlich sind dies nicht Gedichte, die so aussehn wie Gedichte von Andreas Gryphius oder Joseph von Eichendorff. Aber sehen denn Gedichte von Eichendorff so aus wie solche von Gryphius, und sagt des irgend etwas darüber, wieweit es Gedichte sind oder nicht? Dies sind Gedichte von Ernst Jandl, verfaßt am Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Freilich gibt es zur gleichen Zeit auch Gedichte von Georg von der Vring oder Ingeborg Bachmann, Aber auch solche von H.C. Artmann oder Franz Mon. Was besagt das?

Ich sollte jetzt wirklich sagen, was ein Gedicht ist, ein Gedicht schlechthin oder das Gedicht schlechthin. Und ich sollte sagen, worin das Besondere besteht, das zum Beispiel ein Gedicht von Goethe von dem Gedicht schlechthin unterscheidet. Oder eins von Jandl. Aber mache ich damit nicht ernst mit dem Klischee des Urteils, von dem ich doch im Grunde nichts halte? Tue ich nicht gerade den Gedichten Jandls unrecht, wenn ich sie so mit der großen Artillerie des historischen Gedankens verteidige?

Ein Gedicht besteht aus Sätzen, deren Inhalt und Form historisch bedingt ist. Aber es ist weder mit einer seiner historisch bedingten Redeweisen noch mit einer seiner historisch bedingten grammatischen Sonderformen identisch (auch diese sind einmal erfunden worden). Auch Jandls Gedichte bestehen aus Sätzen (oder Satzbruchstücken oder Wörtern oder durch Buchstaben gekennzeichneten Lauten), die ihre historische Bedingung haben. Nicht in irgendeinem weltanschaulichen Sinn oder im Sinn der zeitgemäßen Schlagworte. Sondern in bezug auf das, was sie enthalten, auf Sprache, auf Redenkönnen, auf das Sagbare. Daß Reden und Wovon-Reden eine grundsätzliche Dimension überschritten oder erreicht hat, daß Sprache in eine Krise geraten oder erst jetzt in ihrem wahren Wesen erkennbar geworden ist, das gehört zu den Schlagworten, aber sie beziehen sich auf etwas, und dies, auf das sie sich beziehen, hinterläßt seine Spur. Auch im Gedicht. Das Gedicht antwortet darauf. Eine dieser Antworten, die radikalste, wenn man will, war die Erfindung des Antigedichts. Aber es blieb (sei es als "Parole in libertà" der Futuristen, als i-Gedicht von Kurt Schwitters, als Écriture automatique der Surrealisten oder als Ein-Vokabel-Gedicht der Konkreten Poesie) Demonstrationsgegenstand. Es gibt weiterhin Gedichte. Es wird weiterhin Gedichte geben.

Zum Beispiel die von Ernst Jandl. Er verfaßt Gedichte nicht, indem er sich "einstimmt" oder eine Stimmung "verdichtet" oder seine Kontakte zu Sonne Mond See Wald Rosen Mädchenaugen zu "magischen Beschwörungsformeln" benutzt usw., er verfaßt Gedichte, indem er sich der Sprache stellt, sie aufgreift und in sie eindringt. Er beschreibt nicht Imagination, sondern er geht den Offenheiten der Sprache nach, den Offenheiten der Satzfügung wie der Redegewohnheit, des Vokabulars wie der sprachlichen Kleinstteile, um die Möglichkeiten auszunutzen, die diese Offenheiten darstellen. Möglichkeiten. die, realisiert, wiederum in diesem historischen Augenblick, sagen, was sagbar ist und um, vielleicht, damit, hinterher, Imagination anzuregen. Offenheiten: die inhaltliche Assoziation wird ebenso benutzt wie die klangliche, die Diskrepanz zwischen Schrift- und Lautbild ausgenutzt, die Ausdruckskraft entdeckt des unvollständigen, rudimentierten Satzes und Worts wie des Kalauers, Übersätze zu Wortfeldern aufgeschwemmt usw. Immer wieder ist es nicht die Abfolge der grammatischen Logik, die den Zusammenhang bestimmt, sondern der Fortgang von Überraschung zu Überraschung. Überraschung, wortwörtlich unerwartetes, schnellt Sprache fort. Das bedeutet zugleich Witz, Sprachwitz, Wortwitz. Kaum ein Band Gedichte ist so witzig wie dieser von Jandl. Aber so witzig er ist, so wenig ist Jandl doch nur ein Verfasser von witzigen Gedichten.

Und wenn. Warum nicht? Witzige Gedichte sind heute besser als tiefsinnige oder sentimentale. Das Symbol erweist sich in jedem Fall als Leerform. Das Gedicht, so könnte man sogar generell sagen, ist witziger geworden. Es kommt nicht mehr ganz ohne Witz aus. Selbst dort, wo es lakonisch, finster, bitter, aggressiv auftritt, kann es seinen Witz nicht ganz verleugnen. Das bedeutet, unter anderem, Freizügigkeit. Gemüt ist nicht länger exemplarisch. Es dient dem Witz, der Doppelzüngigkeit, dem Sprachspiel. Der Tiefsinn des vage Ahnbaren, des nebulosen Lustgefühls am Unaussprechlichen ist abgewandert in die Evergreen-Industrie und kann sich auch dort, wie es scheint, nicht mehr recht behaupten.

Das Individuum, wenn man es denn so nennen will, ist weniger durch seine Innerlichkeit als durch seine statistisch erfaßbaren Daten definiert. Name: Ernst Jandl. Geboren: l.8.1925 in Wien. Wohnort: Wien 2, Untere Augartenstraße1-3/1/l9. Beruf: Gymnasialprofessor. Staatsangehörigkeit: Österreichisch. Usw. Die Abwandlung der Vokale in dem Satz: du warst zu mir ein gutes Mädchen, genügt zu einem Liebesgedicht. So ist es mit unserer Rede und den Repräsentationsmöglichkeiten unserer Rede bestellt. Die von Metaphern quellenden Bekenntnisse sind, im Sinn der Aktualität, unverständlich geworden. Wenn wir sie verstehen wollen, müssen wir von einem solchen Satz Jandls zurückgehen und uns erinnern über uns selbst hinaus. Daß wir die Fähigkeit, dies zu tun, nicht verlieren, ist wichtig. Aber wir erhalten diese Fähigkeit nicht, indem wir das zu Erinnernde restaurieren wie ein Zimmer voll ererbter Möbel. Wir erhalten sie nur, wenn wir forsetzen. Und Fortsetzung heißt: hier und jetzt.

Ich will hier weder eine Beschreibung noch eine Interpretation der Gedichte von Jandl liefern. Ich will andeuten und anreizen. Ich will sagen, daß dies Gedichte sind. Gedichte wie eh und je, wenn es je Gedichte wie eh und je gegeben hat. Gedichte von Ernst Jandl, verfaßt am Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Gedichte von Ernst Jandl, nicht verächtlicher als die von Friedrich Hölderlin oder Eduard Mörike oder Wilhelm Busch. Was sie 'wirklich' sagen, was, wenn man so will, ihre Wahrheit ist, oder was, wenn man's anders will, ihre Information, das sollte natürlich jeder Leser selber herausfinden.

[1966]

Die weiteren Essays
Ernst Jandl: ich begann mit experimenten...
Ernst Jandl: Wie kommt man zu einem Verlag
Max Bense: Die pantomimische Funktion der Sprache
Reinhard Döhl: Ernst Jandl und Stuttgart
Bohumila Grögerová / Josef Hiršal: Ernst Jandl und Prag
Claus Henneberg: Ernst Jandl in Hof

Programmheft