Reinhard Döhl | Deutsche Herausgebersitten - Einige notwendige Angaben zur Ausgabe der "Dichtungen" Yvan Golls.

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Zu den traurigsten Tatsachen nicht nur des nachkriegsdeutschen Büchermarktes gehört eine wachsende Zahl bedenklich werkungetreuer Ausgaben. Dabei sind Methoden, wie es bei der deutschen Ausgabe des Romans "Some Came Running" (Die Entwurzelten) von Jones angewandt wurden, noch zu den harmlosen Fällen zu rechnen, obwohl Arno Schmidt seinerzeit nachweisen konnte, daß "20% der besten und charakteristischen Stellen gestrichen wurden" ("‘Entwurzelt’ - deutsche Verleger-Sitten". In: augenblick, Jg. 4, 1960, H.3). Auch noch zu den harmloseren Fällen würde die zählen, daß die neue Büchner-Ausgabe des Insel-Verlags (Hrsg. F. Bergmann) immer noch die Lesart "den einen, uralten, zahnlosen, unverwüstlichen Schafskopf" enthält, obwohl zwei handschriftliche Korrekturen Büchners (in Erstausgaben von "Dantons Tod") in "zahllos" bekannt sind. (Dazu R. Thieberger, La mort de Dantons de Georges Büchner, Paris 1953: "Le paradoxe est voulu: unique et multiple..."). Diese und ähnliche Fälle sind Legion. Die Kritiker aber solcher Zustände werden als philologische Heckenschützen abgetan. Was solls?, der Leser liest und kauft ja.

Ungleich verhängnisvoller aber wirken sich dergleichen Verleger- und Herausgebersitten bei anderen Editionen aus. So wurde wiederholt nachdrücklich gefragt, ob die Kafka-Ausgabe des wortbrüchigen Freundes Max Brod mit der notwendigen philologischen Werktreue gemacht ist. Untersuchungen Friedrich Beißners ("Der Erzähler Franz Kafka", Stuttgart 1952) und Fritz Martinis ("Ein Manuskript Franz Kafkas: Der Dorfschullehrer". In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft II / 1958) haben peinliche Eingriffe Max Brods in den Originaltext nachgewiesen. H. Uyttersprot geht in seinen wohl berechtigten Zweifeln z.B. an der Reihenfolge der Kapitel noch weiter. (‘Eine neue Ordnung der Werke Franz Kafkas? Zur Struktur von "Der Prozeß" und "Amerika". Antwerpen 1957). Von einer so längst überfälligen philologischen Neuausgabe des Kafkaschen Werkes ist allerdings noch nicht die Rede gewesen. Stattdessen argwöhnen die Philologen im Falle der Musil-Ausgabe des Rowohlt-Verlages Schlimmes, und die Bedenklichkeit von Expressionisten-Ausgaben ist ihr öffentliches Geheimnis.

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Ein in diesem Zusammenhang bemerkenswertes Musterbeispiel steht nun im folgenden zur Debatte. Und zwar handelt es sich um Yvan Golls "Dichtungen", Lyrik, Prosa, Drama. Hrsg. Von Claire Goll (der Witwe und Nachlaßbetreuerin) im Luchterhand-Verlag, Darmstadt, Berlin, Neuwied 1960. Die Ausgabe enthält je ein Nachwort von Helmut Uhlig und Richard Exner, Anmerkungen, ein Quellenverzeichnis, ein Abbildungsverzeichnis, eine Bibliographie und 792 Seiten Text. Von den Anmerkungen, dem Abbildungsverzeichnis und der Bibliographie wird dabei allerdings kaum, von den in diesem Band zusammengestellten Texten und dem Quellenverzeichnis umso ausführlicher zu reden sein.

Die Ausgabe der "Dichtungen" Yvan Golls ist anläßlich ihres Erscheinens allgemein begrüßt worden, da sie es zum ersten Mal ermöglicht, die Gollsche Entwicklung, wenn auch nicht vollständig so doch in großen Teilen zu überblicken. Sofern Bedenken laut wurden, richteten sie sich auschließlich gegen die "dilettantische Ausgabe" (K.G.Justs Besprechung in der "Germanistik", Jg. 2, 1961, H.1, S. 127f. Und Richard Brindkmann: "Expressionismus. Forschungsprobleme 1952 - 1960". Stuttgart 1961, S. 88f.). Richard Brinkmann bemängelt dabei, daß das Quellenverzeichnis, "soweit es sich um bereits Veröffentlichtes handelt, lediglich die Drucke an(gibt), denen einzelne Gedichte oder Gedichtsammlungen entnommen sind. Über die Textgestaltung, die Vollständigkeit der Wiedergabe, eventuelle Eingriffe der Herausgeber, Lage des Nachlasses, das Verhältnis zu den Handschriften usw. kein Wort". Präzisere Einwände bringt K.G.Just vor. Er stellt (wie auch R. Brinkmann) im Zusammenhang der Übersetzungen fest, daß in den meisten Fällen das Original zum Vergleich fehlt. (Eine Ausnahme bildet, ausdrücklich erwähnt, "Le Char triomphal de l’Antimoine", wo links die Originalfassung, rechts eine Prosaparaphrase F. Kemps abgedruckt sind. Außer dem Roman "Der Goldbazillus" (Übers. v. G. Goyert) und dem Gedichtzyklus "Johann Ohneland" (Übers. V. L. Klünner) stammen alle anderen Übersetzungen von Claire Goll. Möglichkeiten des Vergleichs bieten zunächst nur die separat gedruckte zweisprachige Ausgabe "Pariser Georgika" (Darmstadt, Berlin, Neuwied 1956) und die schwer zugänglichen Originalausgaben, soweit sie überhaupt zugängig sind (z.B. die "Chansons Malaises") und schließlich ein paar wenige wahllos ausgewählte Originalfassungen, die am Schluß der "Dichtungen" abgedruckt sind. Schon beim Vergleich mit den wenigen mitabgedruckten Originalfassungen (und Faksimiles) registriert K.G. Just bereits "mancherlei Willkürlichkeiten und Fehler", so die Änderung von Zeilen- und Strophenanordnung, das Weglassen einzelner Wörter, ja ganzer Zeilen. Z.B. heißt es S. 369, Z.4: "Die sphärischen des Sephirot", dagegen im Original S. 799: "The spheric fruit of the Sephiroth". S.401, Z. 14f. heißt es: "Falle Schnee der Scharpie! Heule! Harpye!", dagegen das Original: "Neigez! Cahrpies! / Hurlez! Harpyes! / Ether et terre éternelles terreurs!" (S. 775). Die letzte Zeile fehlt in der Übersetzung. In der Übersetzung werden Zeilen eingerückt, im Original sind sie es nicht. Im folgenden Text werden aus einer 8zeiligen Strophe in der Übersetzung zwei 4zeilige Strophen usw. Diese Beispiele sollten eigentlich stutzig machen, und der mißtrauisch gewordene Leser entdeckt bei weiteren Vergleichen mit herangezogenen Originalen Willkürlichkeiten der Übersetzung Hülle die Fülle. Um nicht ins Uferlose zu geraten, seien hier nur ein paar Beispiele angeführt. (Im folgenden sind übrigens alle Seiten- und Zeilenangaben, die sich auf die "Dichtungen" beziehen, mit der Abürzung DD versehen).

So schreibt Goll in den "Chansons Malaises 31", Z.4: "J’ai vu ta route à travers les rhododendrons". Die Übersetzung Claire Golls lautet. "Ich sah deinen Pfad / Zwischen den Almrauschbüschen" (DD, S. 350). Das Original hat drei Strophen mit 3 / 4 / 5 Zeilen, die Übersetzung nur zwei Strophen mit 7 / 3 Zeilen. In diesem Fall existiert aber noch eine frühe deutsche Fassung Yvan Golls, die in Strophen- und Zeilenordnung der französischen Fassung entspricht. Hier lautet die entsprechende Zeile. "Ich sah deinen Weg durch die Rhododendren". Über diese deutsche, handschriftliche Fassung wird später noch gesondert zu reden sein.

Ähnlich liegt der Fall beim 28. Chanson. Dort lautet die erste Zeile in der französischen Ausgabe: "Je te croyais le soleil qui fait éclater le rhododendrons". Wiederum macht Claire Goll in der Übersetzung 2 Zeilen aus einer und übersetzt: "Ich hielt dich für die Sonne / Die die Alpenrose öffnet" (DD, S. 348). Die frühe deutsche Fassung Yvan Golls lautet dagegen: "Ich hielt dich für die Sonne, die die Rhododendren sprengt". Die frühe deutsche und die französische Fassung bestehen aus einer Strophe aus 7 Zeilen. Die Übersetzung Claire Golls aus 2 Strophen zu 6 / 5 Zeilen.

"Malaiische Lieder" schrieb Yvan Goll 1934, "Chansons Mailaises" hieß der Titel der französischen Ausgabe von 1935. Claire Goll übersetzt "Malaiische Liebeslieder". In der "Pariser Georgika" wird von ihr der Relativsatz "Qui port un nom de fleur" (S.6) übersetzt mit: "Er trägt einer Blume Namen" (S.7), was gegenüber den weiter oben angeführten Stellen vergleichsweise harmlos wenn auch äußerst unschön ist. Ebenfalls harmlos erscheint die Übersetzung der ersten Zeile des 20. Chansons. "Dans ton baiser plus profond que la mort" mit: "Dein Kuß ist tiefer wie (sic!) der Tod". Lediglich zwei Chansons werden in der Originalfassung am Schluß der Dichtungen mitgeteilt, ohne Numerierung. Es handelt sich um das 7. und 8. Chanson. Aber selbst hier hat sich noch eine Unrichtigkeit eingeschlichen. Im 7. Chanson der französischen Ausgabe heißt es richtig: "Dan tous les champs". DD, S. 771 liest sich die Zeile. "Dans tout (sic!) les champs". Aber wir wollen nicht beckmessern. Die weiter oben angeführten Beispiele sind Beispiel genug für die Übersetzungsmethoden Claire Golls und lassen sich beliebig vermehren. Und sie sind in der Tat nicht dazu angetan, die meist weitaus gelungeneren Originale adäquat zu vertreten, vielmehr entstellen sie diese in einer unverantwortlichen Weise, so daß man geneigt ist, stellenweise sogar von Verfälschungen zu sprechen.

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Nun könnte man hoffen, daß wenn Claire Goll schon keine gute Übersetzerin, daß sie wenigstens eine gute Herausgeberin der deutschsprachigen Texte ihres Mannes ist. Aber auch in diesem Punkt ruft die Schludrigkeit der Herausgeberin stärkste Bedenken hervor. Verhältnismäßig harmlos scheint dabei noch, daß der 6.Teil der "Elégie d’Ihpétonga" (nicht ‘Ihpetonga Elegien’ wie Claire Goll übersetzt) statt auf Seite 775 erst auf Seite 801 als "Atom Elegy VI" erscheint. Harmlos erscheint auch noch ein anderes Beispiel, das K.G. Just ebenfalls anführt, daß nämlich im Drama "Melusine" ein Passus sowohl auf S.88/89 und S. 89/90 abgedruckt ist, aber nur auf S.89/90 gehört.

Schwerwiegender ist (auch das teilt K.G.Just mit) schon, wenn sich eine Zeile des Faksimiles (vor S. 433): "Daß du in tausend Spiegelsälen" im Druck auf S. 472 dann "Daß du in tausend Spiegeln" liest. Hier kann man kaum noch von einer schludrigen Edition sprechen. Und wie schon bei den Übersetzungen lassen sich auch beliebig viele Beispiele anführen. Z.B. ist DD, S. 45 ein Gedicht abgedruckt: "Der Torso IV, Auszug. Erste Fassung. Dithyrambe". Das Quellenverzeichnis gibt an: Aus "Der Torso", Roland-Verlag, München 1918). Vergleicht man die beiden Drucke miteinander, so stellt man neben dem Fehlen zweier Punkte zunächst einmal fest, daß es sich gar nicht um einen "Auszug" sondern um den vollständigen Abdruck von der " Der Torso IV" handelt. Die Langzeilen der ersten Ausgabe sind dabei so gedruckt, daß sie den Anschein von Prosa erwecken, und gehen über zwei oder drei Zeilen. In den "Dichtungen" werden bis auf eine Ausnahme daraus dann allerdings 2 bzw. 3 eigenständige Zeilen gemacht (z.B. aus: "Gelbes Meer wird kommen, dich umrauschen. Die weißen Neger von Amerika werden dich umschleichen." wird: "Gelbes Meer wird kommen, dich umrauschen. Die / Weißen Neger..." Oder aus "All deine Freiheit wird als schöner Traum entflattern. Deine Märtyrer werden ihre Tyrannen auf Knien küssen." wird: "All deine Freiheit wird als schöner Traum entflattern / Deine Märtyrer werden ihre Tyrannen / Auf Knien küssen.").

Als weiteres Beispiel wählen wir den Zyklus "Noemi" (DD, S. 47ff.). Hier gibt das Quellenverzeichnis an: "Erste Fassung geschrieben 1915, zweite Fassung 1919", also nicht, auf welcher Fassung der Abdruck in den "Dichtungen" beruht. Bei einem Vergleich mit den beiden früheren Abdrucken (in "Der Torso", München 1918 S. 40ff. und "Der Eiffelturm", Berlin 1924, S. 35ff., hier mit dem im Inhaltsverzeichnis ausdrücklichen (Entstehungsvermerk 1915) variiert die Fassung in "Der Torso" am wenigsten von der Fassung in den "Dichtungen", weshalb man sie, da im Quellenverzeichnis keine weitere Fassung vermerkt ist, als Vorlage annehmen muß. Schleierhaft bleibt allerdings, wieso eine 2. Fassung schon 1918 gedruckt vorliegen, 1919 aber erst entstanden sein kann. Sowohl in "Der Torso" wie in "Der Eiffelturm" hat der Gedichtzyklus "Noemi" 6 Teile. In den "Dichtungen" fehlt "Noemi VI". Die Abweichungen von den früheren Fassungen werden gegen Ende des Zyklus immer mehr. DD, S. 47 heißt es: "Es singen so wir in meiner erschütterten Seele" statt "...in meiner geborstenen Seele". Z. 16 fehlt ein Ausrufezeichen. S. 48 sind ursprünglich 2 Zeilen: "Und in seinen großen Augen / Lächelte Gott" zu einer Zeile zusammengezogen. S. 49 heißt es statt "Aber versteint war deine Seele, / Vereist den Herz!", um eine Zeile vermehrt: "Aber versteint war deine Seele / Vereist deine Träne / Verrostet dein Tempeltor!" . Statt "Der schnarrenden und schnorrenden Rabbis" heißt es. "Der alten, mit Gott handelnden Rabbis". Statt: "In dumpfen Kellern, triefenden Gewölben" - "In blauen Kellern, schwefligen Gewölben" und statt "In klebrigen Kaftanen" - "In grünlichen Kaftanen". DD, S. 50 steht statt: "Du hast einen Geist, mit Blut und Gott gespeist, / Du hast einen Geist, in allen Feuern der Schöpfung rein geschweißt, / Du hast einen Geist, der auf allen Meeren und Landstrassen weitgereist, / Du hast einen Geist, von allen Philosophien, Poesien, Geometrien, Industrien der Menschheit umkreist" - DD, S. 50 steht dagegen: "Du hast einen Geist, mit Wort und Gott gespeist, / Du hast einen Geist, in allen Feuern geschweißt, / Du hast einen Geist, auf allen Meeren weitgereist, / Du hast einen Geist, von Denkern und Dichtern umkreist". Z. 11 müßte es statt "unirdischen" entsprechend der frühen Fassungen "drei" heißen, zwischen Zeile 11 und 12 fehlt: "Dein Geist befreie die zwei Menschen". In der letzten Strophe von "Noemi V" weichen alle Fassungen aber voneinander ab. - Hat dem Abdruck in den "Dichtungen" eine andere als die beiden Fassungen vorgelegen, hätte sie im Quellenverzeichnis angemerkt werden müssen. Sollte die Fassung in "Der Torso" als Vorlage gedient haben, ist der Abdruck in den "Dichtungen" unverzeihlich, weil die Fassung dann in Folge unerlaubter Eingriffe des Herausgebers zustande gekommen wäre. (Und das an einigen Stellen nicht nur hier Eingriffe vorgenommen wurden, läßt sich leider vermuten).

DD, S. 52 ist ein Gedicht unter der Überschrift "Der Wassersturz" abgedruckt. Dazu heißt es im Quellenverzeichnis: "1920; aus 'Menschheitsdämmerung'." - In der Tat findet sich dieses Gedicht auch dort auf S. 313. Allerdings steht derselbe Text schon als "Die Alpenpassion IX" in "Dithyramben", Leipzig 1918, 31f. unter der Überschrift "Wassersturz". Der Prosatext "Der große Frühling" (DD, S. 46), ist zwar - wie das Quellenverzeichnis richtig angibt - bereits in "Dithyramben" abgedruckt (S.12), allerdings mit der Überschrift. "Der pflichtvergessene Geistige". Auch hier wieder einige aufschlußreiche Abweichungen von der im Quellenverzeichnis ausdrücklich angegeben Vorlage: Statt "Dem Arbeiter aus haariger Brust das Herz herausgerissen!" heißt es DD, S. 46: "Dem Arbeiter in haariger Brust das Herz gerührt!" Das Fragezeichen Z.10 steht nicht in den "Dithyramben" und aus "Tippfräuleins" wurden "Mädchen".

Und als letztes Beispiel dieser Art Herausgebersitten: Sowohl das Inhaltsverzeichnis als das Quellenverzeichnis kündigen für die DD S. 130 - 185 den Abdruck "Der Eiffelturm" an. Allerdings entspricht der Abdruck nicht dem Original. "Die Chaplinade" ist herausgenommen und steht DD, S. 53. "Noemi" ist herausgenommen und steht DD, S. 47 und "Der neue Orpheus" folgt weiter hinten DD S. 189. Die anderen Teilstücke der Sammlung werden titelmäßig nicht gesondert erfaßt, so daß weder das Inhaltsverzeichnis noch das Quellenverzeichnis darüber Aufschluß geben, daß DD, S. 169ff. die "Erinnerungen aus der Unterwelt" stehen, eine Auswahl aus der gleichnamigen Publikation (Berlin 1919), daß DD, S. 175ff. ein Zyklus "Der Schmerz der Schöpfung" zu finden ist, der bereits unter dem Titel "Schöpfung" in "Der Torso" abgedruckt wurde, und daß schließlich S. 147ff. die erste Fassung des Zyklus "Der Panama-Kanal" (1912) steht. (Hier wäre auch zu fragen, warum nicht - wie schon bei Pinthus - die zweite Fassung mitabgedruckt wird, statt des vergleichsweise uninteressanten Nachdrucks aller 5 (!) Fassungen des an sich unbedeutenden Gedichtes "Johann Ohneland steuert den letzten Hafen an" (DD, S.755-761). Z.B. bezieht sich H. Uhlig in seinem Nachwort auf beide Fassungen des Panamakanals, ohne daß der Leser sie in den "Dichtungen" findet, vorausgesetzt, daß er findig genug war, wenigstens die versteckte erste Fassung zu finden.

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Sozusagen der Musterfall für die Claire Gollsche Textbetreuung sind die schon erwähnten "Malaiischen Lieder" (nicht Liebeslieder!). Dazu schreibt sie im Quellenverzeichnis. "Malaiische Liebeslieder (Geschrieben 1931/32, französische Originalfassung 'Chansons Malaises', Verlag Poésie et Cie., Paris 1934; deutsch von Claire Goll)". Die "Chansons Malaises" erschienen allerdings erst 1935. Das schmale Bändchen enthält "Illustrations de Paula Ludwig". Es gibt keine Seitenzählung. Stattdessen sind die Gedichte von 1 bis 40 numeriert. Das Chanson 21 fehlt. Auf dieser Seite befindet sich eine Illustration. Im Quellenverzeichnis der Dichtungen wird unterschlagen, daß 1952 eine deutsche Ausgabe "Malaiische Liebeslieder" aus dem französischen übertragen von Claire Goll, 1952 im Pflugverlag, Thal/St. Gallen (jetzt Zürich) erschienen ist. Dort ist übrigens noch angegeben, daß einige Übersetzungen von Yvan Goll selbst stammen. Unrichtig sind die Angaben, daß die "Chansons Malaises" die französische Originalfassung, und daß die Texte 1931/32 geschrieben sind.

Es existiert nämlich ein Konvolut von etwa 70 deutschsprachigen Manuskripten, die eindeutig frühe Fassungen der "Malaiischen Lieder", in einigen Fällen mehrere Fassungen ein und desselben sind. Es existiert ein Konvolut von "7 Neue Malaiische Lieder 1934", ebenfalls deutschsprachige Manuskripte. Die Manuskripte sind zum größten Teil in der linken unteren Ecke datiert, als frühestes Datum mit "29 Sept 32", als spätestes mit "25 Juli 1934", dazu kommt die schon erwähnte Jahresangabe "7 neue Malaiische Lieder 1934". Einige Gedichte tragen zusätzlich zum Datum in der linken unteren Ecke noch eine Ortsbezeichnung (z.B. "Palma de Mallorca / 29 Sept 32" oder "Siena / 23. Sept 33"). Eine Anzahl Gedichte sind von 1 bis 39 durchnumeriert (dabei "Wanas Gesänge 1- 4", die Gedichte 5 - 8 sind mit "Mayana" überschrieben, die mit "3 April 1933", "20 2 33" und "24.2.33" datierten Gedichte sind mit "Mayana" unterschrieben. In "Atlantis", Jg. 5 (1933) sind auf S.112 "Zwei Malaiische Liebeslieder" als "Nachdichtungen von Iwan Goll" abgedruckt. (Auch das verschweigt das Quellenverzeichnis der "Dichtungen"). Nachdichtungen ist hier vermutlich eine aus der Zeit verständliche Fiktion. Das erste dieser beiden Gedichte erscheint auch in den "Chansons Malaises", beide Gedichte existieren als Manuskript.

In den "Dichtungen" sind 40 "Malaiische Liebeslieder" abgedruckt, numeriert von 1 bis 40, und zwar mit der Angabe "Mayana singt". Davon fehlen in den Manuskripten die Lieder 10, 14, 15, 17, 19, 20, 22, 26, 39.

(Zeilenweise Ähnlichkeiten lassen in einigen Fällen in den Manuskripten Frühfassungen vermuten, die später umgearbeitet wurden, als Umarbeitung im Manuskript aber nicht zugängig sind). Die Lieder 18, 21 (s.o.), 25, fehlen in der französischen Ausgabe. Statt des Liedes 25 steht in der französischen Ausgabe die Nr. 17 der Manuskripte, die wiederum in den "Dichtungen" fehlt.) Neue "Malaiische Lieder" sind in beide Ausgaben übernommen worden. Die erste "Nachdichtung" in "Atlantis" ist die Nr.34 in beiden Ausgaben.

Zu den Übersetzungen Claire Golls ist weiter oben bereits (und schon im Zusammenhang mit den "Malaiischen Liedern") das Nötige gesagt worden. Ein ausführlicherer Vergleich der verschiedenen Fassungen ist zwar philologisch interessant, in diesem Zusammenhang aber zu weitläufig. Es sollen hier aber interessehalber, jedoch ohne Kommentar, die vier vorliegenden Fassungen des Liedes 34, DD, S. 352, nacheinander zitiert werden: Zunächst die Nr. 9 der Manuskripte (undatiert):

Der Zauberer warf
Sein böses Aug auf mich
O mein goldener Körper
Ist nun ganz nackt
Ein nächtliches Blut
Fliesst aus der Wunde
Ein Fremdes dampft
Im irren Kopf mir
Immer schwerer werde ich
Vom Unglück.
Der Abdruck in "Atlantis" S. 112, linke Spalte:
Der Zauberer warf
Sein böses Aug’ auf mich.
O mein goldener Körper
Ist nicht mehr nackt!
Ein nächtliches Blut
Fließt aus der Wunde.
Ein Fremdes raucht
Im irren Kopf mir.
Immer schwerer werde ich
Vom Unglück.
"Chansons Malaises" 34:
Le sorcier m’a jeté
Son mauvais oeil
O mon corps tout doré
N’est-il déjà plusnu?
Un sang nocturne
S’évade de ma plaie
Une main de brume
Emporte ma tête
Je me sens lourde lourde
De maleur
"Dichtungen", S. 352
Mit seinem bösen Blick
Hat mich der Zauberer verwunschen
O mein vergoldeter Leib
Mit Trauerflor bedeckte Nacktheit
Nächtliches Blut
Entströmt meiner Wunde
Eine Nebelhand
Trägt mein Haupt fort
Ich bin schwer schwer
vor Unglück.
Es gibt - und nicht nur in den "Malaiischen Liedern" - aber, wie schon gesagt, sehr viel Schlimmeres.

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Abschließend sei noch auf zwei weitere Fälle wenigstens hingewiesen. Der erste betrifft das "Traumkraut", DD, S. 437ff. Nach dem Quellenverzeichnis wurden einige Gedichte 1948 im "Goldenen Tor", Verlag Schauenburg, Lahr, unter dem Pseudonym Tristan Thor abgedruckt. In der Tat sind dort auch 5 Gedichte mit dem Zusatz aus dem Gedichtband "Traumkraut" abgedruckt ("Die Hochöfen des Schmerzes", "Wasserwunder", "Geburt des Feuers", "Salz und Phosphor", "Greise"). Das Gedicht "Die Hochöfen des Schmerzes" hat im "Goldenen Tor", S. 465 und ebenfalls in der Limesausgabe des "Traumkrauts", 1951, S. 21 noch 4 Strophen, in den "Dichtungen" allerdings nur noch 3 Strophen. Strophe 3 und 4 wurden hier zusammengezogen. Da sowohl die Limesausgabe wie die "Dichtungen" posthum sind, kann diese Änderung nur von Claire Goll vorgenommen worden sein. Lautet die letzte Strophe im "Goldenen Tor":

Was braut der Herr der Erze und der Herzen?
Den Schrei
den Menschenschrei aus dem verreckten Leib
Der wie ein reiner Dolch
Die Morgensonne aller Toten stürzt,
so lautet sie in den beiden posthumen Ausgaben übereinstimmend:
Ach was braut der Herr der Erze
in den Herzen?
Den Schrei
Den Menschenschrei aus dunklem Leib
Der wie ein geweihter Dolch
Unsre Totensonne schlitzt.
Außerordentlich stark variieren auch die Texte "Geburt des Feuers" im "Goldenen Tor" und der entsprechende Text "Feuerharfe" DD, S. 447. Abgesehen davon finden sich - wie auch schon weiter oben angemerkt - selbst zwischen den beiden posthumen Ausgaben Abweichungen. Z.B. wurden die Gedichte "Irrsal / Greise", "Die Sonnenkantate" / "In den Äckern des Kampfers" und "Aus meinen Knochen trinke das Kiefermark" / "Es spricht sich die Sage herum" jeweils umgetauscht. Statt "Froschs" und "Jahrhundertalte" in der Limesausgabe heißt es in den "Dichtungen" "Frosches" (S.444) und "Jahrhundertealte" (S.446). Zur Veränderung der Strophenzahl in einem Gedicht s.o. Schließlich taucht das Gedicht "Wasserwunder" ("Goldenes Tor", S. 465f.) weder in der Limesausgabe noch in den "Dichtungen" im "Traumkraut" auf. Stattdessen begegnet es in den Dichtungen an anderer Stelle (S.380), 57 (!) Seiten vor "Traumkraut" mit z.T. wesentlichen Änderungen. Die vierte Strophe fehlt. Geändert sind: "Wassergeister" statt "Wassergeier", "zu den Wasserharfen" statt "unter Wasserharfen". Darüber hinaus lauten die Angaben des Quellenverzeichnisses: "Wasserwunder (1948; unveröffentlicht)."

Ähnlich verhält es sich auch im Falle des Gedichtzyklus "Neila - Letzte Gedichte". Hier besagt das Quellenverzeichnis: "Neila (1947/48) in vorliegender Form unveröffentlicht". Allerdings erschienen diese Gedichte bereits 1954 im Rothe-Verlag, Heidelberg, unter dem Titel "Abendgesang - (Neila) - Letzte Gedichte", mit einem Zusatz auf dem Titelblatt: "Aus dem Nachlaß herausgegeben von Claire Goll". Auch diese posthume Ausgabe weicht im Einzelnen von dem neuerlichen Abdruck in den "Dichtungen" (S. 554ff.) ab, obwohl nicht so, daß sich vermuten ließe, es hätten in beiden Fällen verschiedene Manuskriptfassungen vorgelegen. Das vorletzte Gedicht der Rothe-Edition, "Kein Grenzstein mehr für die Hoffnung", fehlt allerdings in den Dichtungen im Neila-Zyklus und erscheint stattdessen in der von Claire Goll übersetzten (!) Sammlung "Vielfache Frau" unter der Überschrift "Ur und Sichem verkohlt" (DD, S.611).

Es wird einer langen gründlichen Arbeit bedürfen, die ganzen Fraglichkeiten der Ausgabe der "Dichtungen" durch Claire Goll ans Tageslicht zu bekommen. Man wird ja nicht nur die bibliographischen Angaben im Quellenverzeichnis, die biographischen Angaben, wo immer sie auftauchen, genau prüfen müssen, man wird gründliche Textvergleiche ebenso vornehmen müssen, wie man von Ausgabe zu Ausgabe variierenden Vorworten gegenüber, mitgeteilten Briefstellen gegenüber skeptisch sein muß. [Vgl. zu diesem und anderem auch: "Geschichte und Kritik eines Angriffs". In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1960, S. 101ff.] Wie schon gesagt gehört zu den traurigsten Tatsachen des nachkriegsdeutschen Büchermarktes eine wachsende Zahl werkungetreuer Ausgaben. Die Ausgabe der "Dichtungen" ist dabei ein Musterfall. Es ist von R. Brinkmann, K.G. Just u.a. bereits wiederholt auf den "Dilettantismus" der Ausgabe hingewiesen worden. Auch der vorliegende Beitrag versteht sich so nur als Hinweis, weil lediglich ein Bruchteil der Fragwürdigkeiten aufgezeigt und untersucht werden konnten. Es sollte aber auch ein Versuch sein, einen Haufen anfänglichen Gestrüpps zu lichten, um so ein paar mögliche Wege für weitere notwendige Untersuchungen vorzuschlagen. Es ist schließlich aber auch allgemein als Kritik an deutschen Herausgeber- und Verlegersitten gedacht, denen man nicht nur die Ausgabe der "Dichtungen" Golls zu verdanken hat, diese aber als Paradebeispiel.

[Gekürzt in: Die Kultur, Jg 10, Nr. 170, H. 2, Dezember 1961, S. 6f.]