Reinhard Döhl | Modell und Prospekt

I

Als ich 1957 zu studieren begann - ich hatte damals einen fünfjährigen Abstand von der Schule, ihrem Deutschunterricht und einem Lesekanon, der mir nie recht eingeleuchtet hatte -, begann ich ein Studium der Germanistik unter anderem, weil ich das, was ich aus Neigung und dilettantisch betrieb, wissenschaftlich betreiben wollte. Die Erfahrungen der Folgezeit waren allerdings nicht dazu angetan, den wissenschaftlichen Anspruch und die gesellschaftliche Berechtigung meines Hauptfaches einsichtig zu machen, Ich will versuchen, dies in Stichworten zu verdeutlichen, wobei von vornherein zugegeben werden muß, daß subjektive Erfahrung und eine Verkürzung auf Stichworte Ungenauigkeiten, sogar Ungerechtigkeiten unterlaufen lassen.

So sah ich zum Beispiel nicht ein, warum Wolfgang Kaysers "Sprachliches Kunstwerk" richtiger sein sollte als Emil Staigers "Poetik", warum gegen Käte Hamburgers "Logik der Dichtung" oder Roman Ingardens "Literarisches Kunstwerk" polemisiert (nicht argumentiert( wurde, die mir Wichtiges zu sagen schienen. Die Folge war, daß ich Lehrmeinungen als subjektiv zu mißtrauen begann und Lektüre auf eigene Faust und Verantwortung trieb. Was ich dabei entdeckte, faszinierte und erschreckte mich. Ich stellte plötzlich fest, daß Goethe nicht der größte Dichter des 20. Jahrhunderts war; daß das mir angebotene Handwerkszeug nicht ausreichte, die Literatur seit einer sogenannten Literaturrevolution in den Griff zu bekommen (Warum war Werfel zum Beispiel wichtiger als Schwitters?); daß das, was ich vom sogenannten lyrischen Ich, von einer sogenannten symbolischen Redeweise gelernt hatte, nicht mehr funktionierte, wenn ich mich im 20. Jahrhundert bewegte oder vor das 18. Jahrhundert zurückging. Mit anderen Worten: das Studium bot mir keine erlernbaren Rezepte, mit deren Hilfe ich eine deutsche Literatur in ihrer Gesamtheit übersehen und fassen konnte. Aber meine Verwirrung ging weiter. So besagte mir eine Romanstelle wie "Und hier, ohne den Leser unnötiger Weise damit aufzuhalten, was sie ferner sagte, und was er antwortete, überlassen wir den Pinsel einem Correggio, und schleichen uns davon" - jenseits der Anmerkung, daß Correggio ein italienischer Maler des 16. Jahrhunderts gewesen sei, - eigentlich erst etwas, nachdem ich mich mit der Malerei und den Malweisen des 16. Jahrhunderts, speziell dieses Correggio ausführlicher beschäftigt hatte; wobei sich als zusätzliche Erfahrung ergab, daß auch die Kunstgeschichte keine erlernbaren Rezepte anbot.

Ähnlich ging es mir mit einer Anspielung auf den Komponisten Jean Baptiste-Lully. Ich bemerkte, um diese Erfahrungen ein wenig zu verallgemeinern, daß eine Formel wie "ut pictura poesis...", daß eine Literatur, für die eine solche Formel poetologische Gültigkeit hatte, nur dann verstanden werden können, wenn man auch faktisch über "pictura" Bescheid weiß.

Das Spiel, das zum Beispiel Wielands Zeitgenossen mit dem Leser trieben, die "Frauenzimmer-Gesprächsspiele" eines Harsdörffer machten mich auf (literatur)soziologische Aspekte aufmerksam, führten zu der Einsicht, daß Literaturgeschichte sich nicht ohne Gesellschaftsgeschichte, Literaturwissenschaft nicht ohne Gesellschaftswissenschaft betreiben ließen, ohne daß ich mir über das Wie zunächst Klarheit verschaffen konnte. Hand in Hand damit entdeckte ich bald, daß über Generationen fortgeerbte Vorurteile zu merkwürdigen Gewichtsverlagerungen in der literarischen Bewertung einzelner Autoren wie ganzer sogenannter Epochen geführt hatten und noch führen. Bei dieser Gelegenheit wurden für mich auch die Grenzen zwischen dem, was man als Dichtung ernst nahm, und einer sogenannten Trivialliteratur, über die man außer abwertenden Hinweisen kaum ein Wort verlor, fließend. Schließlich machte ich noch die Erfahrung, daß die ausländischen Zeitgenossen manches hochgelobten deutschen Dichters eine interessantere, in meinen Augen qualitativ bessere Literatur geschrieben haben und schreiben.

II

Das klingt alles ein wenig naiv, rekapituliert aber dennoch, meine ich, in Stichworten zum einen die Erfahrungen eines durchschnittlichen Germanistik-Studenten, der, geprägt vom Deutschunterricht an Gymnasien, den er möglicherweise nach Abschluß des Studiums selbst zu geben gedenkt, und von einem darüber hinausgehenden dilettierenden Interesse an Literatur verführt, ein Studium der Germanistik beginnt und - bei vorausgesetzter Gewissenhaftigkeit -, sehr schnell zum Beispiel in die stellvertretend beschriebenen Schwierigkeiten geraten wird, die man sicherlich nicht ihm anlasten kann.

(In Parenthese: die immer wieder geforderte Verkürzung des Studiums bedeutet gewiß keine Lösung dieses Problems, denn selbst nach einem 15. Semester läßt sich unter den gegebenen Voraussetzungen mit gutem Gewissen ein Studium der Germanistik nicht abschließen, es sei denn bei radikaler Kürzung des Lehr- sprich Stoffangebots, einer Verkürzung auf einfach Erlernbares, bei radikaler Beschneidung der vielfältigen Aspekte eines literaturwissenschaftlichen Studiums, was einer verständnislosen Wiedergabe des eingepaukten Kanonischen gleichkäme und Dimensionslosigkeit bedeuten würde.)

Die angeführten Erfahrungen deuten zum anderen nicht nur in subjektiver Sicht ein Dilemma an, in dem sich die klassische Germanistik (die überdies längst eine Fächerkombination für ein bestimmtes Berufsziel geworden ist) heute befindet, so daß das vielstrapazierte und von allen Seiten mißbrauchte Wort Reform auch hier seine praktische Berechtigung hat und dabei zunächst eine gemeinsame kritische Selbstbesinnung bei Lehrenden und Lernenden voraussetzt. Aber nun nicht etwa so, daß man etwas als nicht ausreichend Erkanntes einfach über Bord wirft und durch etwas anderes theoretisch ersetzt, das als theoretische Forderung zwar ehrlich gemeint, möglicherweise das Dilemma nur zum Teil betrifft, das Unzureichende möglicherweise nur austauscht, aber nicht abstellt. Ich halte es im gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls für sinnvoller, von praktizierbaren Möglichkeiten auszugehen, ohne das dabei Erreichbare zu zementieren, vielmehr das Erreichbare wiederum in Frage zu stellen, kritisch zu prüfen und so fortzufahren. Literatur ist ein Prozeß; die Wissenschaft von Literatur in ihrer Gemeinsamkeit von Forschung und Lehre und als Arbeitsgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, wobei die ersteren im Grunde ständig auch die letzteren sind, sollte dies auch sein.

III

Forderungen, die sich aus den aufgeführten Erfahrungen leicht ableiten lassen, sind in Stichworten zum Beispiel, ohne daß die Reihenfolge Prioritäten spiegelt:

Die Möglichkeiten, von denen ich im folgenden ausgehen kann und werde, bieten sich im Ausbau eines Instituts für Literatur- und Sprachwissenschaft, an dem ich arbeitete und das ich als Modell gerne zur Diskussion stellen möchte. Ich spreche im folgenden also auch pro domo vom Institut für Literatur- und Sprachwissenschaft an der Universität Stuttgart, das, nachdem es hier seit Friedrich Theodor Vischers Zeiten einen einsamen Lehrstuhl für Literaturwissenschaft und Ästhetik gegeben hatte, seit einigen Jahren aufgebaut wird und inzwischen folgende Lehrstühle umfaßt:

Die Konzeption des Instituts ist offen gehalten, so daß im weiteren Aufbau weitere Lehrstühle, zum Beispiel für Slavistik, für Literatursoziologie etc. leicht hinzukommen können:
 

 

Germanistik

Anglistik

Romanistik

(Slavistik)

Literaturwissenschaft

 

 

 

 

Linguistik

 

 

 

 

Sprache u. Literatur des MA

 

 

 

 

Literatursoziologie

 

 

 

 

Diese der schnelleren Übersicht halber vorgeschlagene Matrix macht deutlich, daß ein in Stuttgart eingeschriebener Student heute allgemein Literatur- und/oder Sprachwissenschaft studieren, daß er aber auch, als Fächerkombination für ein bestimmtes Berufsziel, vor allem des Deutschlehrers, des Englischlehrers, des Französischlehrers, ein Studium der Germanistik, Romanistik, Anglistik (in Verbindung mit Tübingen auch der Slavistik( absolvieren kann, wobei allerdings in jedem Falle die Linguistik als zweiter Fachbereich, in der Fächerkombination Germanistik Sprache und Literatur des Mittelalters als dritter Fachbereich dazugehören.

Damit bietet die Universität Stuttgart innerhalb des Instituts für Literatur- und Sprachwissenschaft als eine der ersten Universitäten Deutschlands organisatorisch eine Gliederung der Fächerkombination Germanistik an, die als Grundlage für ein sinnvolles Studium, wenn schon nicht optimale, so doch unerläßliche Voraussetzung ist.

IV

Die bisherige Unterteilung der Germanistik, der Deutschen Philologie in neuere und ältere Germanistik hatte als wesentliche Gefahren in sich geborgen, daß erstens das Historische, eine nur historische Betrachtungsweise, wie wir sie der Romantik und einer sogenannten Historischen Schule verdanken, übertrieben wurden, daß zweitens die Gegenwart oft völlig vernachlässigt wurde, wobei unter Gegenwart der Zeitraum gemeint ist, der dort anfängt, wo Literaturgeschichten in der Regel abbrechen; Hinzu kam drittens eine zumeist völlig einseitige Betrachtung der deutschsprachigen Literatur.

Durch eine Kombination mit der Linguistik, und das heißt unter anderem durch eine ausgewogene Vermittlung von neuerer deutscher Poetik und Literaturgeschichte und neuerer deutscher Grammatik und Sprachgeschichte (in Ergänzung mit der Sprach-, Literatur- und Geistesgeschichte des Mittelalters( scheinen die ersten beiden Gefahren wesentlich gebannt. Unter anderem, weil synchronische und diachronische Stilistik einen Zusammenhang der Einzelbereiche Literaturwissenschaft, Linguistik und Sprache und Literatur des Mittelalters darstellen. Das Institut für Literatur- und Sprachwissenschaft bietet aber darüber hinaus die Möglichkeit, mit einer solchen Gliederung der Fächerkombination Germanistik allgemeine theoretische und komparatistische Grundlagen der genannten drei Fachbereiche in den Vordergrund von Forschung und Lehre stellen zu können, vor allem eine allgemeine Sprachtheorie und Sprachanalyse sowie eine allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, wobei Fächerverbindungen mit der Anglistik und Romanistik in Ansätzen praktisch ein Studium der Komparatistik ermöglichen und die dritte genannte Gefahr einer zu isolierten Betrachtung der deutschsprachigen Literatur weitgehend reduzieren.

Unter diesen Voraussetzungen werden ferner unter modernen theoretischen Gesichtspunkten besonders Fächerverbindungen wie Literaturwissenschaft und Soziologie, Linguistik und Mathematik ausdrücklich gefördert, wobei zum Beispiel ein in den letzten Jahren wiederholt diskutiertes Thema wie "Literatur und (Natur(Wissenschaft als vergleichbare Tätigkeiten" seine theoretische und praktische Überprüfung erfahren kann.

V

Wenn dieser Band in seinen Beiträgen das gegenwärtige Selbstverständnis der Germanistik spiegeln und sich mit der Zukunft dieser Disziplin beschäftigen soll, verstehe ich Germanistik innerhalb der Konzeption des Instituts für Literatur- und Sprachwissenschaft als eine mögliche Fächerkombination für ein bestimmtes Berufsziel, in der Regel und überwiegend das des Deutschlehrers an Gymnasien. Ich kann dabei nicht die Frage beantworten, wieweit die augenblicklich praktizierte Fächerkombination Literaturwissenschaft/Linguistik/Sprache und Literatur des Mittelalters einen wesentlich neuen Typ des Deutschlehrers ausbilden wird. Daß sich allerdings der in diesem Institut ausgebildete Deutschlehrer von seinem Vorgänger in einigen Punkten unterscheiden wird, macht bereits die neue Fächerkombination deutlich, zeigen auch die von den betroffenen Lehrstühlen herausgegebenen vorläufigen Orientierungsblätter für die Studierenden, denen sich das eben skizzierte zugrundeliegende Konzept in seinen Einzelheiten ablesen läßt.

a) Das vorläufige Orientierungsblatt für die Studierenden der Literaturwissenschaft als allgemeines Studienfach und als Teilfach der Germanistik teilt den Gegenstandsbereich Literaturwissenschaft sinnvoll in Allgemeine (systematische) Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturgeschichte.

Die Neuere deutsche Literaturgeschichte umfaßt die Geschichte der deutschen Literatur (womit grundsätzlich alle schriftlich fixierten Denkmäler von ästhetischer oder historischer Bedeutung gemeint sind) seit etwa 1600, also in den (Epochen) der neuhochdeutschen Schrift- und Literatursprache. Sie bezieht in die Geschichte der Texte und ihrer Autoren die Formen- und Stilgeschichte mit ihren weiteren Voraussetzungen, der allgemeinen Geistes-, Kultur-, Gesellschafts-, Kunst- und politischen Geschichte ein, soweit diese zu dem Verständnis der Texte, ihrer Inhalte und ihrer Sprach- und Stilerscheinungen von Bedeutung sind. Sie verbindet dabei ausdrücklich die Erforschung der deutschsprachigen Literatur mit den Perspektiven zur Weltliteratur seit der Antike. Die Allgemeine Literaturwissenschaft umfaßt die Gebiete der Poetik und Ästhetik sowie der literarischen Kritik, also die Gebiete der literarischen Gattungs- und Formenlehre, Stilistik und Metrik in ihren systematischen und historischen Zusammenhängen. Sie bezieht sich geschichtlich analog auf Gegenstände und Entwicklungen seit etwa 1600, systematisch auf den gesamten Text- und Formenbestand einschließlich der Weltliteratur.

Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturgeschichte treffen sich in den Methoden der Interpretation, die sowohl systematisch (poetologisch) wie historisch verfährt und aus ihnen Kategorien des gesellschaftlichen, geschichtlichen und ästhetischen Verstehens ableitet.

Besonderes Gewicht wird ebenso wie in der Linguistik und Sprache und Literatur des Mittelalters auf die Seminarübungen gelegt, da sie die Möglichkeit gemeinsamer aktiver Arbeit und kritischer Diskussion bieten. Das Seminarsystem soll dabei gegenüber den traditionellen Vorlesungen noch weiter ausgebaut werden, wobei sich bereits heute neue Seminartypen und -techniken (z. B. eigenverantwortliche Übernahme von Seminarstunden einschließlich Diskussionsleitung durch auf das zu behandelnde Thema speziell vorbereitete Studenten) abzeichnen.

Grundsätzlich wird dem Studenten, soweit nicht bereits entsprechende Fächerkombinationen über die Germanistik hinaus gewählt wurden, also auch dem Studenten der Fächerkombination Germanistik die Teilnahme an ergänzenden Seminaren und Vorlesungen der Nachbarfächer im Bereich der Geisteswissenschaften wie Geschichte, Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft, Kunstwissenschaft (die Aufzählung bezeichnet keine Prioritäten) sehr empfohlen.

b) Das vorläufige Orientierungsblatt für Studierende der Linguistik als allgemeines Studienfach und als Teilfach der Germanistik versteht die Linguistik als eine empirische Wissenschaft auf einer gegenwärtig vergleichsweise hohen Stufe der Abstraktion und Theorienbildung. Ihr Gegenstandsbereich sind die menschliche Sprache im allgemeinen und die verschiedenen Einzelsprachen wie Nationalsprachen, Dialekte.

Dabei sind die sprachlichen Mittel von ihrem Funktionieren bei der Kommunikation zu unterscheiden, d.h. Sprachbeherrschung und Sprachgebrauch. Die sprachlichen Erscheinungen werden ferner entweder in ihrem systematischen Zusammenhang zu bestimmten Zeiten (synchronisch) oder in ihren zeitlichen Veränderungen (diachronisch) betrachtet. Somit ergeben sich als Paare gegensätzlicher Untersuchungsaspekte, die in allen ihren Kombinationen bestimmte linguistische Arbeitsmethoden beziehungsweise -bereiche darstellen, Empirie versus Theorie, Sprache versus Einzelsprache, Sprachbeherrschung versus Sprachgebrauch, Synchronie versus Diachronie.

Um die Linguistik als empirische Wissenschaft von den Werturteilen in der Sprachlehre, Sprachkritik und Sprachlenkung zu unterscheiden, wird noch der entscheidende Gegensatz von deskriptiv versus normativ hervorgehoben. Das normative Sprachverhalten hängt allerdings nur mittelbar mit den ersten vier Gegensatzpaaren zusammen, sie gehören als Aspekte der Sprachuntersuchung durchweg zur linguistischen Deskription.

Die vier genannten Untersuchungsaspekte gelten vor allem für den Hauptbereich der Linguistik, die Grammatik. Sie ist die jeweilige Gesamtbeschreibung der Sprachbeherrschung und wird herkömmlich und noch grob in die Strukturebenen Phonetik, Phonologie, Morphologie, Wortbildung, Syntax, Semantik gegliedert.

Weitere Aspekte, die hier aus Raumgründen nicht ausführlich erörtert werden können, aber auch (weil sie kein direktes Studienprogramm darstellen, sind zum Beispiel kontrastive Strukturuntersuchungen; automatentheoretische Grammatiken; Sprachpsychologie; Sprachsoziologie (Paralinguistik) und Sprachgeschichte, die neben linguistischen auch rein philologische Fakten verwertet und je nach Erfordernissen mit gesellschafts-, kultur-, und geistesgeschichtlichen Sachverhalten zusammenfaßt und nach bestimmten Perioden systematisiert.

Innerhalb des Instituts für Literatur- und Sprachwissenschaft bietet der Lehrstuhl für Linguistik neben einer für ein allgemeines Studium der Sprachwissenschaft angebotenen Allgemeinen Linguistik (Struktur der Grammatik; vergleichende Sprachtheorie; Methoden der Sprachanalyse) innerhalb der Fächerkombination Germanistik eine spezielle Linguistik (mit den Schwerpunkten: Neuhochdeutsche Grammatik) nach den genannten Strukturebenen; Stilistik der deutschen Gegenwartssprache; Dialektologie; Neuere deutsche Sprachgeschichte) an.

c) Das vorläufige Orientierungsblatt des Lehrstuhls für Sprache und Literatur des Mittelalters betont die "Ältere Germanistik" als eine historisch orientierte Wissenschaft, die die Germanisch-deutsche Sprachgeschichte und die Altdeutsche Literaturgeschichte (8.-15. Jahrhundert) als Themenbereiche umfaßt. Sie vermittelt als Germanisch-deutsche Sprachgeschichte Sprachkenntnis als Grundlage des Verstehens literarischer Werke, Sprachgeschichte, historische deutsche Grammatik, Etymologie und historische Stilistik. Als Altdeutsche Literaturgeschichte versteht sie literarische Werke als kultur- und geistesgeschichtliche Dokumente, betont aber gleichzeitig die Signifikanz jeder Art sprachlicher Niederschrift. Sie sieht also Dichtung unter allgemeinen kulturgeschichtlichen Aspekten in Beziehung zu anderen Künsten, zu Philosophie und Theologie, mit denen sich Dichtung in bestimmten Grundstrukturen vergleichen läßt. Literatur als Sprachkunstwerk ist ein weiterer Aspekt, unter dem sich mittelalterliche Literatur betrachten läßt. Dabei wird die textkritische Bewertung der Überlieferungen altdeutscher Literatur vor jeder Interpretation hervorgehoben.

VI

Es scheint wichtig, noch einmal zu betonen, daß Germanistik innerhalb eines Instituts für Literatur- und Sprachwissenschaft nur eine von mehreren Fächerkombinationen darstellt, die in Fällen wie Literatur- und Gesellschaftswissenschaft, Literatur- und Kunstwissenschaft über das Institut hinausgreifen; und daß sie im Lehrangebot wesentlich durch das Berufsziel mitbestimmt wird. Die Frage nach der Zukunft der Germanistik ist so wesentlich die Frage nach einer künftigen Vorstellung und Funktion des Deutschlehrers. Und da wäre für die Zukunft durchaus an eine aus mancherlei Gründen wünschenswerte Ersetzung des traditionellen Deutsch(, Englisch-, Französisch- etc)lehrers durch einen beziehungsweise mehrere Sprach- und Literaturlehrer zu denken.

Die für mich grundsätzlichere Frage nach einem Selbstverständnis der Literaturwissenschaft habe ich mit dem Hinweis auf den Auf- und Ausbau eines Instituts für Literatur- und Sprachwissenschaft, durch die auszugsweise Mitteilung der vorläufigen Orientierungsblätter der Lehrstühle für Literaturwissenschaft, Linguistik und Sprache und Literatur des Mittelalters in Stichworten und wenigstens zum Teil zu beantworten versucht. Die Frage nach der Zukunft der Literaturwissenschaft stellt sich für mich als Frage nach der Zukunft einer kombinierten Literatur- und Sprachwissenschaft entsprechend dem oben aufgestellten Katalog möglicher Arbeitsbereiche beziehungsweise dadurch sich anbietender Methoden. Die auszugsweise mitgeteilten Orientierungsblätter deuten dabei bereits an, wieweit hier ein theoretisches und praktisches Selbstverständnis, eine ständige theoretische und praktische Selbstbefragung (insofern haben die Orientierungsblätter für Lehrende und Lernende lediglich Vorschlagcharakter) praktikable Ergebnisse gebracht haben.

Die Betonung der Seminararbeit gegenüber den traditionellen Vorlesungen scheint mir dabei am ehesten auch die vielzitierte Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, die Einheit von Forschung und Lehre wieder zu ermöglichen. Sie ist zudem die sinnvollste Möglichkeit, vieles von dem, was die Orientierungsblätter in der augenblicklich kritischen Situation der Universität als wünschenswert formulieren, in der Praxis zu erproben. Die Rede ist hier allerdings von Seminaren nach einem in der Regel dreisemestrigen Grundstudium, das durch eine in mehrfacher Hinsicht problematische Zwischenprüfung abgeschlossen wird. Dieses Grundstudium bietet in Grundkursen und Proseminaren gleichsam das Handwerkszeug, die Voraussetzungen für eine sinnvolle Mitarbeit in und an den der Zwischenprüfung folgenden Hauptseminaren und Kolloquien. Es wird jedoch Wert darauf gelegt, daß bereits im Grundstudium neben Diskussion und Anwendung fachtypischer, sachbezogener Methoden (im Bereich der Literaturwissenschaft etwa der Poetik, der Interpretation) der Ansatz einer wünschenswerten, ständigen Methodenkritik gegeben wird.

Die Seminararbeit des Hauptstudiums kann demnach einmal die Fähigkeit zu methodenkritischem Arbeiten voraussetzen, wird sie weiter fördern und ermöglicht zum andern auch das Herausbilden der schon erwähnten neuen Seminartypen und -techniken. So wurde - wobei ich mich auf das Zitieren von Beispielen beschränke - unter anderem ein von einem Literaturwissenschaftler, einem Historiker, einem Politologen geleitetes Seminar über Nationalismus im 19. Jahrhundert angeboten. So bewies ein Seminar über die sogenannte Literaturrevolution die grundsätzliche Notwendigkeit, diese Literaturrevolution auf dem Hintergrund einer allgemeinen Kunstrevolution, der grundsätzlichen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse zu diskutieren. Ein Seminar über syntaktische Sonderformen, das von den Lehrstühlen für Linguistik und Literaturwissenschaft gemeinsam angeboten wird, geht etwa von der Hypothese aus, daß ein Sonett formal als sehr komplizierte syntaktische Sonderform angenommen werden kann, und versucht entsprechend, poetologische Fragen mit den Methoden einer exakten Sprachwissenschaft einzukreisen. Ausgehend von der Annahme, daß ein wesentlicher Teil wissenschaftlicher Forschung, bedingt durch neue Themen und Fragestellungen, immer mehr zwischen den klassischen Disziplinen erfolgen wird, verstand ein Arbeitskreis die Behandlung des Themas Schrift und Bild auch als Hinweis auf ein solches Inter-Thema, speziell auf eine Problemstellung zwischen Literatur- und Kunstwissenschaft bzw. -soziologie.

Als ein Beispiel für sich dabei herausbildende, von Fall zu Fall sogar notwendig neue Seminartechniken möchte ich abschließend stellvertretend auf ein Seminar über Epigramm und Sonett hinweisen, das von der Voraussetzung ausging, daß sich das, was sich in einschlägigen Lexika als Beschreibung von Epigramm vorfindet, auf merkwürdige Weise von dem unterscheidet, was man im 17. und 18. Jahrhundert unter Epigramm (darunter etwa auch das Sonett) verstanden hatte. Eine Oberflächenbeschreibung ausgewählter möglichst weitgestreuter Textbeispiele ergab in gemeinsamer Diskussion neben der Forderung nach einer notwendig komparatistischen Methode, der Tatsache, daß ein Thema wie Epigramm und Emblem nur mit Hilfe der Kunstwissenschaft genauer zu behandeln war, eine Anzahl von Themen, die überwiegend in Gruppen erarbeitet wurden. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppen wurden verkürzt, zur Kurzthese zusammengefaßt vervielfältigt und standen so den Seminarteilnehmern eine Woche vor der allgemeinen Diskussion zur Verfügung. Damit waren eine allgemeine Vorbereitung auf das jeweilige Thema ebenso wie eine daraus resultierende befriedigendere Diskussion, als sie in der Regel nach den bisher üblichen langen Referaten erfolgte und meist nur mühsam zustande kam, ermöglicht.

Schließlich bieten sogenannte Wochenendseminare außerhalb der Universität Lehrenden und Lernenden die Möglichkeit, sich gemeinsam mit solchen Themen zu beschäftigen, die über den gleichzeitigen Seminar- und Vorlesungsbetrieb hinausgehen, deren Erörterung aber von allgemeinerem Interesse ist; bisher zum Beispiel: Theater heute; Politische Texte; Schlager, Songs der Beatles, Chansons, Protestlieder; Comic strips.

VII

Mit dem Hinweis auf die Praxis wären das Funktionieren eines Instituts für Literatur- und Sprachwissenschaft wenigstens an der Oberfläche beschrieben, seine Möglichkeiten angedeutet. Wenn ich auf die Frage nach dem gegenwärtigen Selbstverständnis der Literaturwissenschaft mit der Beschreibung eines solchen Instituts zu antworten versucht habe, so verstehe ich meine Anwort als Beschreibung eines der heute probierten Modelle, das ich zur Diskussion stellen möchte. Dieses Modell geht bewußt von praktizierbaren Möglichkeiten aus, und das als Modell Beschriebene versteht sich nicht als idealtypische Lösung. Gleichzeitig spiegelt ein solches Institut als ein mögliches Modell auch den augenblicklichen Stand einer methodenkritischen Diskussion um die Zukunft der Literaturwissenschaft, die sich entsprechend dem Gegenstand, an den sie als Forschung gebunden ist, der Literatur im engeren und weiteren Sinne, als einen ständigen Prozeß der Befragung ihres Gegenstandes und der Selbstbefragung verstehen sollte.

Schließlich scheint mir dem beschriebenen Modell bereits ablesbar, daß eine zukünftige Literatur- und Sprachwissenschaft Spezialisten herausbilden wird, etwa für Poetik, für Literatursoziologle, für Literaturkritik, die aber kaum noch für sich allein, vielmehr sinnvollerweise innerhalb von Arbeitsgemeinschaften auch über ihr Fach hinaus mit anderen Geisteswissenschaftlern, aber auch Naturwissenschaftlern werden zusammenarbeiten müssen.

[Aus: Jürgen Kolbe [Hrsg.]: Ansichten einer künftigen Germanistik. München: Hanser 1969, S. 118-130. (2. durchgesehene u. ergänzte Aufl. 1969; 4. revidierte Aufl. 1970; 5. Aufl. 1971)]