Reinhard Döhl | Mittelalterrezeption im Rundfunk*)
Exkurs über reproduktive und produktive Rezeption

Rundfunksendungen, die bei der Frage nach einer Mittelalterrezeption ins Blickfeld rücken, sind in einem Programm plaziert, das in Aufgabenstellung, Entwicklung und Ausrichtung durch die drei Aspekte Nachricht, Unterhaltung und Kultur determiniert ist. Sie sind funkinterner und funkexterner Kontrolle unterworfen, dem geschichtlichen und literarischen Sachverstand der Programmverantwortlichen ausgesetzt, im Hinblick auf den Hörer gestaltet. Sie Müssen schließlich unter dem Blickwinkel einer reproduktiven oder produktiven Rezeption betrachtet werden (1).

Der Rundfunk als literaturvermittelndes Massenmedium dem Buch quantitativ und dem Fernsehen qualitativ überlegen, kann mittelalterliche Literatur sprechen oder über sie sprechen lassen. Je nach Zielgruppe zeichnen dabei Schulfunk, Literaturredaktion oder Hörspieldramaturgie verantwortlich. Und gleichgültig, ob es sich um Vorträge handelt z.B. von Hans Naumann über altdeutsche Mysterienspiele, den Theophilus als Faust des Mittelalters, ein spätmittelalterliches Spiel von der Päpstin Johanna oder das Puppenspiel vom Dr. Faust (alle 1925) oder "Der Ackermann aus Böhmen" gesendet wird, in beiden Fällen bleibt der Rundfunk reproduktiv, vervielfältigt lediglich, was öffentlicher Vortrag und Lesung auch leisten könnten, wobei überdies der direkte Kontakt mit dem Zuhörer verloren geht.

Innerhalb derart reproduktiv rezipierter Literatur wurde der "Ackermann aus Böhmen" (2) gleichsam zum Bestseller unter den mittelalterlichen Spielen im Weimarer Rundfunk, für den Sendungen in Frankfurt 15.11.1924 und 20.11.1932), Stuttgart (16.11.1924), München (1.11.1925), Berlin (28.3.1926), und Köln (20.11.1929) mit Sicherheit nachgewiesen werden können. Aber auch im deutschsprachigen Ausland (z.B. Basel 19.4.1943) und noch im Rundfunk der Bundesrepublik begegnet dieses spätmittelalterliche Streitgespräch wiederholt im Programm (Köln 22.11.1953 und 1.11.1957).

Wie kein zweites mittelalterliches Spiel ist "Der Ackermann aus Böhmen" geeignet, auf spezielle Aspekte des Themas aufmerksam zu machen.

Da wäre zunächst die auffällige Konzentrierung der Sendungen auf den November (7 von 9 Terminen), also den Monat, in den Allerheiligen, Allerseelen, Buß- und Bettag und Totensonntag fallen. Und auch die beiden restlichen Sendedaten bleiben durch ihre Nachbarschaft zu Karfreitag innerhalb des Plazierungsrahmens, so daß "Der Ackermann aus Böhmen" nicht nur exemplarischer Beleg reproduktiv rezipierter mittelalterlicher Literatur wäre, sondern ein ebenso schlagendes Beispiel medialer Literaturplazierung, in diesem Fall innerhalb eines Jahresprogramms.

Ins Sendespielprogramm ließ sich "Der Ackermann aus Böhmen" relativ problemlos einpassen, weil das Streitgespräch zwischen Ackermann und Tod formal an einen mittelalterlichen Prozeß gemahnt und damit dem Typus des Prozeß-Hörspiels verwandt ist, dessen Beliebtheit sich unter anderem aus seiner Möglichkeit erklären läßt, den Hörer gewissermaßen als Prozeßzeugen zu aktivieren und damit aus einer reinen Konsumhaltung herauszulocken. Inhaltlich ließe sich die Präferenz dieses spätmittelalterlichen Streitgesprächs im Sendespielprogramm begründen mit der mehrfach in der Forschung dargestellten Position seines Autors zwischen ausgehendem Mittelalter und Renaissance, zwischen Augustinischem und humanistischem Menschen- und Weltbild, einer Position, wie sie der ambivalenten Grundhaltung vieler Menschen in der Weimarer Republik vergleichbar erscheinen mochte, wobei die mittelalterliche Lösung der Vorlage konservativen Tendenzen nicht nur des damaligen Rundfunkprogramms entspräche.

Ein derartiger inhaltlicher Erklärungsversuch ist - und das wäre zugleich ein dritter Aspekt - abhängig von genauer Kenntnis der den Sendespielen zugrunde liegenden Übersetzungen und ihrer Bearbeitung, also den Strichen aber auch sprachlichen Eingriffen in den Text, sowie schließlich seiner Inszenierung. Und hier können wir in den genannten Fällen Sendedatum. ja sogar die genaue Sendezeit angeben, aber nur in einem Fall haben sich Manuskript und Aufzeichnung der Inszenierung erhalten, und zwar im Falle der Base1er Inszenierung von 1943, für die Rudolf Frank die Übersetzung und Funkbearbeitung besorgte (3). Und genau diese Inszenierung ist zur Erklärung der Beliebtheit des "Ackermann aus Böhmen" im Sendespielprogramm des Weimarer Rundfunks praktisch wertlos.

Die hier geschilderte Situation ist kein Einzelfall, sondern das konsequente Ergebnis der Sorglosigkeit, mit der ein für ein laufendes Programm planender und produzierender Rundfunk mit seinen Manuskripten und später Aufzeichnungen umging und umspringt. Hinzukommt, daß zahlreiches erhaltenes Material in Krieg und direkter Nachkriegszeit zusätzlich verloren gegangen ist, so daß sich bei der Frage nach der Rezeption des Mittelalters und seiner Literatur im Rundfunk Probleme ergeben können, wie sie eigentlich nur bei verschollenen Texten aus dem Gebiet der Mediävistik zu erwarten wären.

Die Vielfalt, in der reproduktive Rezeption des Mittelalters und seiner Literatur im Rundfunkprogramm zu beachten ist, umfaßt zunächst die Lesung einzelner Texte, die auch in Verbindung mit Musik erfolgen kann. Daneben stehen zahlreichere Vorträge oder Radio-Essays, für die stellvertretend ich einleitend vier Vorträge Hans Naumanns genannt habe, auch um anzudeuten, wie bei reproduktiver Rezeption zugleich Tendenz vermittelt werden kann.

Wichtiger als Lesung und Vortrag sind für die Rezeptionsforschung aber die Sendespiele, deren Auswahl im Weimarer Rundfunk wesentlich mitbestimmt zu sein scheint durch die aus der Jugendbewegung erwachsene, damals äußerst erfolgreiche und stark beachtete Laienspielbewegung. Die Bevorzugung von Passionsapielen, dem "Redentiner Osterspiel", Weihnachtsspielen aus dem Oberuferer Kreis, der Fastnachtsspiele und Schwänke von Hans Sachs deutet jedenfalls in diese Richtung, aber auch die Beliebtheit des "Ackermann aus Böhmen", des mindestens zweimal im Programm nachweisbaren altflämischen Spiels von "Lancelot und Sandarein" lassen sich noch in diesem Sinne deuten. Außerdem hatte mit Eugen Kurt Fischer mindestens ein Rundfunkverantwortlicher auch theoretisch (4) zur Laienspielbewegung beigetragen. Daß das Laienspiel in seiner Geschichte mehrfach ein Berufstheater ersetzte und überwog, so auch im späten Mittelalter, ist in diesem Zusammenhang sicherlich ebenfalls mitzubedenken.

Als reproduktive Rezeption des Mittelalters und seiner Literatur sind aber auch Sendungen zu subsumieren, die literarische Vorlagen oder mittelalterliche Themen mit funkischen Mitteln aufbereiten, wobei die Grenze zur produktiven Rezeption fließend werden kann. Das fächert vom "angewandten Hörspiel" des Schulfunks (5) zu den Präsentationsformen des Hörbilds und der Hörfolge, zum Beispiel über "Das Nibelungenlied" von Arno Schirokauer, der ja nicht nur ein exzellenter Philologe, sondern auch ein Rundfunkpionier und Hörspielautor des Weimarer Rundfunks war.

Fast schon dem Hörspiel zuzurechnen sind Adaptionen, die einen vorliegenden Text in Hörspielform überführen, ohne allerdings an die inhaltliche Substanz der Vorlage zu rühren, in jüngster Zeit Hadayatullah Hübsch's "Konferenz der Vögel" nach dem persischen Versepos "Mantiq Ut-Tair" von Farid ud-Din Attar aus dem 12. Jahrhundert, die der Südwestfunk (1979) in einer Reihe "Begegnung mit dem Mittelalter" sendete, oder eine Berliner stereophone Adaption der altfranzäsischen chantefable "Aucassin und Nicolette" (1972).

Im Programm des Weimarer Rundfunks lassen sich zum Beispiel "Die heiligen drei Könige" nach der Legende des Johannes von Hildesheim (1928) belegen sowie eine weitere Adaption von "Aucassin und Nicolette" (1927), der hörspielgeschichtlich einige Bedeutung zukommt. Sie ist nämlich eines von mindestens sieben Hörspielen, in denen Gerhard Hermann Mostar Ende der 20er Jahre einen eigenständigen Hörspieltypus der "Singfabel" praktisch zu verwirklichen suchte.

Formal sind Mostars "Singfabeln" mit ihrem Wechsel von Erzählprosa und monologisch oder dialogisch gesungenen Verseinlagen so eindeutig der chantefable von "Aucassin und Nicolette" verpflichtet, daß man sie getrost als Muster ansprechen darf, worauf auch ihre Bearbeitung durch Mostar deutet.

Hörspielgeschichtlich ein bemerkenswerter Ausnahmefall, sind Mostars "Singfabeln" rezeptionsgeschichtlich ein möglicherweise einmaliger Beleg dafür, daß eine mittelalterliche Gattung, von der sich überdies mit "Aucassin et Nicolette" ein einziges Beispiel erhalten hatte, nach sieben Jahrhunderten in einem neuen technischen Medium formgebend werden kann.

Daß das Mittelalter und seine Literatur für Mostar allgemein eine besondere Rolle spielte, belegen neben "Aucassin und Nicolette" "Der Tanz von Cölbigk" sowie Adaptionen vom "Armen Heinrich" (Singfabel, 1929) und "Meier Helmbrecht" (Schauspiel, 1946, UA 1947). Daß es darüber hinaus bei genauerem Nachprüfen noch weitere Beziehungen geben kann, sei mit einer Spekulation Horst-Günter Funkes wenigstens angedeutet, der sich durch eine "Gesangspartie" aus "Die drei Marien" an mittelalterlich strukturierte Formen der "Magdalenenspiele" erinnert fühlt (6).

Neben diesen Hörfolgen und Adaptionen mit gelegentlich fließender Grenze zwischen reproduktiver und produktiver Rezeption wenigstens genannt werden müssen auch jene in den Programmen des Weimarer Rundfunks vor allem häufigeren Sendespiele, die an sich bereits produktive Rezeption des Mittelalters und seiner Literatur sind, also Friedrich Hebbels "Nibelungen"-Trilogie ebenso wie Johann Nestroys "Tannhäuser" (1928), Friedrich Schillers "Jungfrau von Orleans". Ernst Hardts "Tantris der Narr" (1928) oder Eduard Stuckens "Gawan" (1928), Jean Giraudoux' "Ondine" (nach der Erzählung von Friedrich de la Motte-Fouque; 1962) oder Julie Schraders "Genoveva oder die weiße Hirschkuh" (1975).

Für die Rezeptionsfrage spannend wird es im Rundfunkprogramm dort, wo Autoren mittelalterliches Personal, mittelalterlichen Stoff oder mittelalterliche Literatur eigenen Intentionen entsprechend aufgreifen, verarbeiten und in eine Form bringen, die so nur und nur so im Rundfunk produzierbar ist: in die Formenvielfalt des Hörspiels. Nur beim Hörspiel läßt sich eigentlich von einer produktiven Rezeption des Mittelalters und seiner Literatur im Rundfunk sinnvoll sprechen (7).

Die Hörspiele, die als Beispiele produktiver Rezeption zur Betrachtung stehen, umfassen nicht nur formal, sondern auch thematisch "ein zu weites Feld", als daß es sich in einem Exkurs bestellen ließe. Versucht man zu klassifizieren, lassen sich relativ leicht drei Gruppen bilden.

Eine erste Gruppe, in der Mittelalterliches Personal die Hauptrolle spielt, in der Figuren des Mittelalters aus der Sicht der Autoren akustisch porträtiert werden, die Päpstin Johanna, Franz von Assisi, Raimundus Lullus, wie immer wieder Jeanne d'Arc.

Eine zweite Gruppe ließe sich zusammenstellen aus Hörspielen, die mittelalterliche Stoffe, bevorzugt Liebesgeschichten des Mittelalters aufgreifen oder transponieren.

Eine dritte Gruppe schließlich knüpft an Texte des Mittelalters an, das Nibelungenlied ebenso wie das Lied vom Kreuzzug gegen die Katharer, um sie eigenen Intentionen nutzbar zu machen.

Daß sich diesem Klassifizierungsversuch nicht alle Hörspiele zuordnen ließen, liegt nahe. Eine Sonderstellung nehmen z.B. die Hörspiele des Finnen Paavo Haavikko ein, die nur vor dem Hintergrund der finnischen Geschichte, finnischer Literatur und ihres Selbstverständnisses richtig bewertet werden können: vor allem die König-Harald-Tetralogie (seit 1974) und die beiden Hörspiele "Audun und der Eisbär" und "Das Feld" (1967), die - in einer Formulierung Helmut Heißenbüttels - "Elemente der Sage, der Geschichte und Der parabelhaften Hintergründigkeit" mischen, "sich dabei aber auf aktuelle Problematik" beziehen. "Zwar", sagt Heißenbüttel im Vergleich, argumentiere Haavikko "materialistisch", wolle "jedoch nicht, wie Brecht, eine unmittelbare Botschaft transportieren" (8).

Vielleicht deshalb bevorzugen diese Hörspiele auch eine Übergangszeit, "Schweden" zum Beispiel "im 14.Jahrhundert als die alten Götter zu sterben begannen" (9), eine Zeit, in der man sich unterstellen möchte. "Ich geh unter den Deckel, unter den Brunnendeckel, da kommt der Hagel nicht hin, da stechen die Mücken nicht", sagt es zum Beispiel König Harald und der Erzähler bestätigt: "Stieg hinab. Es hagelte kräftig. Zog den Brunnendeckel zu und lächelte, König Harald, der langlebige" (l0).

Diese Übergangszeit ist historisch eine Zeit des Mythenverlusts, in der Freyja den Untergang ihrer Welt, der Götterwelt nur überlebt, weil sie sich der veränderten Situation anzupassen vermag, sich einzustellen vermag auf eine neue Zeit, angesichts derer aber nicht nur ihr langsam dämmerte, "daß es nichts Schlimmeres gibt auf der Welt, als ein Mensch zu sein" (ll). Diese Übergangszeit ist aber auch die Zeit, in der Haavikko voller "Galgenpessimismus" Hörspiele und Gedichte schreibt als seine "Stellungnahme zur Geschichte" (12).

Mit dem Mut zur Lücke darf ich mich jetzt aber auf die drei Hörspielgruppen meines Klassifizierungsvorschlags beschränken und dabei zunächst die akustischen 'Porträts' mittelalterlichen Personals exemplarisch umreißen.

Eine inzwischen umfangreichere Forschung zur Jeanne d'Arc-Rezeption hat - aus was für Gründen auch immer - die einschlägigen Hörspiele unberücksichtigt gelassen. Jeder Versuch, dieses Versäumnis wettzumachen, müßte mit Bertolt Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" ansetzen, die in Besetzung sowie Sprecherleistung - das Tondokument ist erhalten (13) - einen unschätzbaren hörspiel- und theatergeschichtlichen Beleg darstellt.

Kann man im Falle Brechts darüber streiten, ob es sich um die Adaption eines Theaterstücks handelt oder schon um ein Hörspiel, der einzige dramatische Versuch der Anna Seghers, "Der Prozeß der Jeanne d'Arc zu Rouen 1431", ist als Auftragsarbeit für das flämische Programm des Belgischen Rundfunks eindeutig ein Hörspiel, wenn auch von der Forschung so stiefmütterlich behandelt, daß der Fernsehfilm von Peter Palitzsch nach der Brechtschen Bühnenfassung aus dem Jahre 1952 bekannter wurde als die ursprüngliche Hörspielvorlage von 1937.

Noch bis heute ist der Text in Westdeutschland gedruckt nicht zugänglich (14), kennt die Sekundärliteratur kaum den Titel. Dabei ist dieses Hörspiel erstens neben Brechts "Das Verhör des Lukullus" eines der wenigen deutschen Exilhörspiele und, als exemplarisches Beispiel eines Prozeßhörspiels, zweitens ein sehr frühes Beispiel des Dokumentarhörspiels.

"Dieser Prozeß", betont das Manuskript einleitend den für ein Hörspiel nicht selbstverständlichen Einsatz von Dokumenten, "wurde in lateinischer Sprache täglich protokolliert. Das Hauptexemplar dieses Protokolls, hergestellt für den Bischof Gauchon von Beauvais, befindet sich im Original in der Deputiertenkammer von Paris. Auf Grund dieses Protokolls, sowie der Gutachten und Berichte von Zeitgenossen, ist das folgende Hörspiel geschrieben" (15).

Gerade in der Beschränkung auf authentisches Material konnte Anna Seghers dem Zuhörer, der hier wiederum der uns schon bekannte Prozeßzeuge wird, Zusammenhänge, Widersprüche aufzeigen, die in den literarischen Bearbeitungen des Stoffes eher verdeckt blieben, die Verquickung zum Beispiel von kirchlichen und politischen Machtinteressen, die in den Fragen und Verlautbarungen des

Bischofs von Beauvais und des Herzogs von Bedford hörbar werden, ein daraus resultierender Wechsel von öffentlichem zu geheimem Verhör, das Unpopuläre dieses Prozesses in dem von Engländern besetzten Land. Der Hörer wird als Prozeßzuhörer gleichsam zum künstlichen Zeitgenossen.

Von einer deutschen Autorin in Paris im Exil geschrieben, vom flämischen Programm des belgischen Rundfunks verbreitet, bekommen umgekehrt der historische Prozeß mit seinen Verhören, Gutachten, Berichten und das abschließende Todesurteil über ein junges Mädchen, das von "Stimmen" geführt auszog, ihr Vaterland zu befreien, eine politische Aktualität, die man nicht unterschätzen darf. So gesehen wäre das Hörspiel durchaus ein wenn auch indirekter (mittelbarer) Diskussionsbeitrag zur Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus, wie allgemein zum Befreiungskampf gegen den Faschismus. Die vorletzten, historisch nicht überlieferten Hörspielworte der Jeanne d'Arc - "Bin ich nicht befreit von der Todesangst? Bin ich nicht befreit von der Angst vor den Machthabern?" (16) - deuten in diese Richtung. Und daß sich der Jeanne d'Arc-Stoff aus dem Geist der Resistance heraus gestalten ließ, bestätigte nach der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen Claude Vermorel mit seiner "Jeanne d'Arc avec nous".

Anna Seghers' akustischer Versuch mit dem Jeanne d'Arc-Stoff ist einer von mindestens fünf Hörspielversuchen, die sich nach 1970 auffällig häufen. Wenigstens erwähnt werden soll der Einfall Peter O.Chotjewitz' , 1970 "Die vier Johannen" Schillers, Shaws, Brechts und Anouilhs vor dem Hintergrund moderner Großstadt und Ferienlandschaft über die Rollen diskutieren zu lassen, die ihnen von ihren Dichtern jeweils zugewiesen wurden (17).

Als Einstieg in die Gruppe der Hörspiele, die mittelalterliche Stoffe, bevorzugt Liebesgeschichten aufgreifen oder transponieren, bietet sich die Theater-Sequenz aus Ingeborg Bachmanns "Der gute Gott von Manhattan" (1958) fast von selbst an, in der die beiden Eichhörnchen und Helfershelfer Frankie und Billy "fünf der schönsten Liebesgeschichten der Welt" ausschreien und dabei von der Antike zum Mittelalter kommen:

BILLY: Tristan und Isolde - Stück von einer langhaarigen Königin und ihrem Helden, einem wirksamen Zaubertrank, einem schwarzen Segel im rechten Augenblick und einem langen schmerzhaften Sterben.
FRANKIE (außer sich): Zur Hölle mit ihnen!
BILLY: Das kommt später, du Narr. Und gleich darauf das süße Sterben des schönen Romeo und seiner Julia im dunklen Verona. Mit Grüften, alten Mauern, einem Mond und viel Feindlichkeit als Versatzstücken.
FRANKIE: Bravo. Die Dolche nicht zu vergessen!
BILLY: Ein Abstecher ins frühe Frankreich. Abälard und Heloise.
FRANKIE (fängt leise und schauerlich an zu lachen): Oh, Billy, ich kann nicht ernst bleiben bei den beiden. Was für eine tolle Liebe, und wie wird Heloise schmachten! Oh, wie peinlich wird das sein. Es juckte mich schon immer so, wenn die stolze Titania den Esel umarmte. Aber das erst. Oh. das ist zum Sterben. Zur Hölle mit ihnen!
BILLY: Die Hölle kommt erst am Ende!
FRANKIE: Ich weiß: Paolo und Francesca. Aber es amüsiert mich so.
BILLY: Meine Damen und Herren! Zwei Liebende, wieder im fernen Italien, ein Lesebuch und seine Verführung als Hintergrund und das Inferno als Ausblick. (18).
Nicht nur die Art und Weise, in der mittelalterliche Liebesgeschichten hier als "grausiges Spektakel" und Schmiere ausgeschrien werden, interessant ist vor allem, welche literarischen Vorkenntnisse Ingeborg Bachmann bei ihren Hörern voraussetzt, denn die den Esel umarmende Titania verweist (in der Geschichte des Huon-Stoffes) auf Shakespeares "A Midsummer-Night's Dream". Und die "Hölle", auf die als dem rechten Ort für liebende Aussteiger das Eichhörnchen Frankie im Verlauf der vollständigen Sequenz fünfmal nachdrücklich besteht, ist die Hölle Dantes, genauer der "zweite Höllenkreis" der "Commedia", in dem Dante den "Sündern im Fleische", den "Schatten", begegnet, "die unserm Leben Liebe einst entführte".

Im 5.Gesang des "Inferno" sind dies unter anderem Tristan, vor allem aber Paolo und Francesca, und durch Dante erfährt der Leser, wie die Lektüre der Liebesgeschichte des Lancilotto zur Gattin des Artus', der Königin Genevra zum auslösenden Moment einer
verbotenen Liebe wird. "Ein Lesebuch und seine Verführung als Hintergrund", bringt Billy auf die prosaische Formel, was Dante in den Versen 127-138 erzählt:

Noi leggevamo un giorno per diletto
   Di Lancilotto, come amor lo strinse:
   Soli eravamo e senza alcun sospetto.
Per più fiate gli occhi ci sospinse
   Quella lettura, e scoloricci il viso:
   Ma solo un punto fu quel che ci vinse.
Quando leggemmo il disiato riso
   Esser basiato da cotanto amante,
   Questi, che mai da me non fia diviso.
La bocca mi basiò tutto tremante:
   Galeotto fu il libro e chi lo scrisse:
   Quel giorno più non vi leggemmo avante. (19)
Die Geschichte Paolos und Francesca da Riminis in ihrer Ausprägung durch Dante für das Hörspiel genutzt hat meines Wissens nur
Ingeborg Bachmann. Überraschenderweise nur einmal belegen konnte ich neben Hardts "Tantris der Narr", der auch als Sendespiel
inszeniert wurde, eine Rezeption des Tristan und Isolde-Stoffes durch das Hörspiel (20), während der Romeo und Julia-Stoff
wiederholt begegnet (21).

Mindestens dreimal sind außer bei Ingeborg Bachmann Abälard und Heloise im Hörspielprogramm der Nachkriegszeit vertreten: eher reproduktiv als produktiv in Ronald Millers "Die Geschichte von Abälard und Heloise" (1973), sehr frei adaptiert in Gerd Peter Eigners "Abel und Luise" (1979). Die interessanteste Adaption und produktive Rezeption der Liebesgeschichte von Abälard und Heloise findet sich aber fraglos in Ludwig Harigs "Warum kann ich nicht vom Truge in die Wahrheit übergehn" (1979), einem Hörspiel, das seinen Titel einem Chanson einer Liedersammlung der Fürstin Sophie von Nassau-Saarbrücken entlehnt hat und dieses Chanson auch gliedernd einsetzt.

Harigs Hörspiel ist zunächst ein Nebenprodukt zu "Rousseau. Der Roman vom Ursprung der Natur im Gehirn", der eine längere und intensive Beschäftigung Harigs mit Rousseau 1978 abschließt. Und es ist zugleich mehr. Ausgangspunkt ist die unglückliche Liebesbeziehung Rousseaus zu Mme. d'Houdetot. Sie wird gespiegelt in der Liebesgeschichte Julies und St. Preux' und parallelisiert mit Abälards Darstellung seiner Liebesbeziehung zu Heloise, auf die sich bekanntlich der spätere Titel von Rousseaus berühmtem Briefroman "Julie ou La Nouvelle Heloise" bezog.

Harig verwendet für sein Hörspiel in wörtlichem Zitat die "Historis calamitatum Abaelardi", "Les Confessions" und die "Lettres de deux amants habitants d'une petite ville au pied des Alpes", und kontrastiert und kommentiert sie mit dem "gesunden Menschenverstand" aus Redensarten und Sprichwörtern, sowie mit Äußerungen heute lebender Menschen im Original-Ton, die er zu den historischen Vorfällen befragte und dabei zu ansatzweise eigenen "Bekenntnissen" bewegen konnte. Die durch die "Historia (...)" veranlaßten "Epistulae" zwischen Petrus Abselardus und Heloisa sind, obwohl sie sich gut den Briefen Julies und St. Preux' hätten parallelisieren lassen, auffallend unberücksichtigt.

Die Erklärung liegt wohl darin, daß es Harig weniger um den Dialog berühmter Liebender ging, als vielmehr um die Perspektive der Liebhaber.Die Figur der Julie ist - da Fiktion Rousseaus - kein Gegenargument. Auch sind die Selbstäußerungen Rousseaus und Abälards stellenweise so eng geführt, daß sie wie ein auf zwei Sprecher aufgeteilter Monolog wirken. Und das Hörspiel endet mit der Parallelisierung ihrer Beschädigungen, die ja nur graduell unterschiedlich sind, dem Leistenbruch Rousseaus, infolge dessen er "nicht einmal mehr die Lästigkeit, (...) die unnütze Kraft der Männlichkeit" fühlte (22), und der Kastration Abälards.

Cum grano salis könnte man sagen, daß Abälard wie Rousseau in Zeiten geistiger Unruhe, der Auseinandersetzung neuen und alten Denkens gelebt haben. Die "Epistulae" eines konkreten Liebespaares, die fiktiven Briefe der "Nouvelle Heloise" belegen dies hinreichend.

Dieser Hintergrund geht in der Subjektivierung Harigs auf Abälard und Rousseau weitgehend verloren, ist allenfalls indirekt in ihren Beschädigungen erkennbar, auf die das Hörspiel pointiert ist. Durch sie erweist sich der Titel rückblickend als unbeantwortbare Frage, auf die auch die "Bekenntnisse" der von Harig Befragten keine Antwort wissen, was ein zusätzliches Gewicht dann bekommt, wenn man die Befragten als stellvertretende Hörer, ihre "Bekenntnisse" als stellvertretende Hörerreaktionen interpretiert.

Man kann die Verkürzungen gegenüber den Originalen in Harigs Hörspiel bedauern. Aber es will ja gerade nicht kanonische Literatur reproduktiv rezipieren, sondern mit einander wechselseitig erhellenden Vorlagen produktiv umgehen. Und dabei kann das Hörspiel durch seine Fähigkeit, frei über Zeit, Raum und Personal zu verfügen, Spielformen entwickeln, die durchaus den traditionellen Göttergesprächen, den Gesprächen in der Unterwelt, den Heroiden vergleichbar sind, wenn man die Eigengesetzlichkeiten des Mediums mit in Anschlag bringt.

Ich komme zur letzten Gruppe und damit zu Hörspielen, die an mittelalterliche Texte anschließen, und beschränke mich dabei auf die anonyme Hörfolge "Geburt des Reiches" von 1933 und Heinz von Cramers zweiteilige "Ketzer-Chronik" von 1981, die beide jeweils sehr beachtet wurden.

Für die "Geburt des Reiches" sind weder Tondokument noch Manuskript überliefert. Eine erstaunlich minutiöse Beschreibung dieser Sendung mit Textwiedergabe innerhalb eines Aufsatzes von Ferdinand Eckhardt (23) haben aber fast den Wert eines Transkripts, lassen sogar die Kenntnis des Sendemanuskripts vermuten, so daß man sie zugrunde legen kann. Dabei geht es nicht um genauere Analyse und Beschäftigung mit einem typischen Beispiel nationalsozialistischen chorischen Hörspiels, einem, wie Eckardt schreibt, "Mysterium", sondern lediglich um die Frage, welche Rolle in ihm dem zitierten Nibelungenlied zugewiesen ist. Ich darf mich deshalb auf das dem Spiel eingelegte, auf musikalische Stimmen und Chor aufgeteilte Gedicht "Geduld" von Dietrich Eckart beschränken und zitieren:

ALT: Uns ist in alten maeren wunders vil geseit
Von helden lobebaaren, von grozer arebeit...
(Pause. Dann Einzelstimmen und Chor)
CHOR: So hebt es an: das Lied der Nibelungen
TENOR: Wem hätte es noch nicht in's Herz gebrannt?
CHOR: Ein Unbekannter, sagt man, hat's gesungen -
BARITON: Ich sage nein; er ist nicht unbekannt.
Wie Donner rollt es schon seit tausend Jahren
Von Meer zu Meer mit ewig neuer Glut.
Um immer wieder neu zu offenbaren.
Was deutsche Kraft vermag und deutscher Mut.
TENOR: Und immer wieder, immer fort auf's neue
Der Welt zu künden bis sie untergeht,
Daß unter Trümmern noch die deutsche Treue,
Daß noch im Flammen sie den Kampf besteht.
ALT: Ein solches Lied - jahrtausendlang erklungen
Und Echo noch die fernsten Zeiten hin:
CHOR: Kein Einzelner hat dieses Lied gesungen,
BARITON: Das ganze Volk verklärte sich darin.
ALT: Des deutschen Volkes Seele hat's geschaffen
BASS: Von ihrer eignen Gräße bermannt
ALT: und wunders vil geseit
CHOR: Von Waffen! Waffen!!!!! (Pause)
ALT: Und diese Seele wäre unbekannt?
TENOR: Glaubt man denn wirklich, was so kühn begonnen,
Verginge jemals unter schmutz'ger Not?
Die deutsche Seele. wie das Licht der Sonnen,
Besiegt die Nacht mit neuem Morgenrot!
BARITON: Wohl kauert noch in all dem schweren Dunkel
An Tür und Tor der Heunen Lügenbrut,
Und ihrer Augen stechendes Gefunkel
Verrät die Gier nach Gold, die Gier nach Blut;
BASS: Doch hält die Wacht, die treue Wacht ein Großer.
TENOR: Der Tronjer nicht
CHOR: Ein andrer ist uns nah.
ALT: Vertraut und fremd zugleich
CHOR: Ein Namenloser,
ALT: Den jeder fhlt und doch noch keiner sah
BARITON: Wie ruhig gehen seine Atemzüge!
Er rührt sich nicht, er wartet stumm und still,
So langsam auch zum Kampfe mit der Lüge:
CHOR: Die Stunde der Vergeltung dämmern will.
BASS: Er wartet still, der Held, auf den wir bauen:
BARITON: Nur manchmal klirrt das Schwert an seinem Gurt,
TENOR: Dann faucht und heult es ringsum voller Grauen,
Das Heunenvolk, der Hölle Ausgeburt.
BASS: Er wartet stumm, vor Augen nur das eine:
CHOR: Die hundertfach an uns begangne Schuld -
TENOR: Schon ist's, als käm's herauf mit hellem Scheine...
ALT: Geduld! (Orgel setzt ein)
CHOR: Geduld! (24)
Vom Nibelungenlied, oder wie es hier im Text bezeichnenderweise heißt vom "Lied der Nibelungen" ist wenig übrig geblieben: die einleitenden Verse der Handschrift C und eine Wiederholung der zweiten Kurzzeile des ersten Verses. Hagen, "der Tronjer", wird als einziger der Helden namentlich genannt. In textlicher Nachbarschaft ist von "Gold" und Wachthalten die Rede, was den "Hort" assoziieren soll, den allerdings jetzt ein anderer, "ein Großer" bewacht. Drohende "Heunen", "Trümmer", "Flammen" und zweimal "Waffen" (mit einem und mit fünf Ausrufezeichen hervorgehoben) verweisen auf das große Schlachten an Etzels Hof: "der Nibelunge Not". Das Wort "Not", sogar als Reimwort, ist an dieser Stelle des Gedichts sicherlich kein Zufall. Und die ebenfalls als Reimwort schon vorher begegnende "(deutsche) Treue" ist schnell als die von den Nationalsozialisten gefeierte "Nibelungentreue" übersetzt. Schließlich dürfen wir noch im klirrenden Schwert, das das "Heunenvolk" im Zaun hält,

Siefrits "Balmung" vermuten, dessen neuer Besitzer - ein "treuer Wächter" und, in deutlicher Parallelisierung zum anonymen Verfasser des Nibelungenliedes, ein "Namenloser" - als Hitler erkannt werden soll: gleichsam zum verlängerten Arm von "Kriemhilds Rache", zum endgültigen Rächer stilisiert. "Dunkelheit", "Nacht", "schmutzige Not" stehen für Gegenwart und Vergangenheit, für "der Nibelunge Not" wie für die Not der Systemzeit.

Diesem dürftigen Nibelungen-Aufguß ist eine akustisch-musikalische Montage vorausgeschickt, in der über dem Basso ostinato der Marschtritte Marseillaise, Internationale und Deutschlandlied miteinander "ringen", bis sich schließlich das Deutschlandlied durchsetzt, vom Horn aufgenommen und an die Orgel weitergegeben wird, in deren letzten "zarten Akkord" eine "wundervoll weiche Altstimme" die ersten Verse des Nibelungenliedes spricht. Abgeschlossen wird der Textaufguß wiederum mit Orgelklang. "Orgel schwillt ganz stark an, baut auf diesem Ton - wie einen gotischen Dom - das Anfangsmotiv des Horst-Wessel-Liedes auf. Das Fortissimo der Orgel abrupt weg. Absage: 'In dieser Nacht wacht Deutschlands bestes Blut!' Leiser Gongschlag" (25).

Sendedatum und -zeit waren die ersten 20 Minuten des 9.November 1933, also eines nationalsozialistischen Gedenktages. Sein Anlaß, der Marsch auf die Feldherrnhalle, wird innerhalb der akustisch-musikalischen Montage des Anfangs dem Hörer durch Schüsse und kurze Zitate deutlich gemacht. Zugleich demonstriert der Basso ostinato der Marschtritte, daß Schüsse diesen Marsch ins Neue Reich allenfalls unterbrechen, auf keinen Fall aber aufhalten konnten.

Der dann folgende assoziative Gedichtumgang mit dem Nibelungenlied verlängert den Weg ins Reich bis in die Geschichte des Mittelalters. Das ist die eine Absicht dieses Hörspiels. Seine zweite Absicht wird erkennbar im Spiel mit der Namenlosigkeit. "Ein unbekannter SA.-Mann hat es geschrieben", betont der Aufsatz Eckhardts und notiert, daß "weder Dichter und Komponist, noch Dirigent, Sprecher, Chöre und Regie" in der Ansage genannt worden seien (26). Das alte deutsche Heldenlied eines unbekannten Verfassers als Aufhänger für ein kollektives Hörspiel um den namenlosen Soldaten, der endlich der Nibelunge Not ein Ende machen wird: auf diese Formel etwa kann man die zweite Absicht der Verantwortlichen bringen. Wie bewußt dabei vorgegangen wurde, ließe sich ergänzend mit der Wahl des in der Sendung nicht genannten Gedicht-Autors Dietrich Eckart zeigen, der der damaligen Literaturgeschichtsschreibung als "Freund des Führers" und erster dichterischer "Vorkämpfer für den Nationalsozialismus" galt und indirekt zu den Opfern des 9. Novembers 1923 gerechnet wurde. "Nach der Revolution in München im November 1923 ins Gefängnis geworfen, überfiel ihn eine schwere Krankheit, der er am 26. Dezember 1923 erlag" (27).

Zeichnet sich die nationalsozialistische Hörfolge "Geburt des Reiches" durch minimalsten Einsatz der Literatur aus, durch die sie sich doch letztlich legitimiert, baut Heinz von Cramer seine "Sequenzen über die Austilgung der katharischen Häresie" (28) fast ausschließlich "nach Texten des 13.Jahrhundertsä auf. Man sollte, um dieses zweiteilige Hörspielmosaik richtig einzuschätzen, sich daran erinnern, daß die Geschichte der Katharer, ihres Glaubens und ihrer Ausrottung bis in die 70er Jahre hinein vor allem Gegenstand historischer und religionsgeschichtlicher Forschung war. Die literarischen Zeugnisse, vor allem das "Chanson de la Croisade", waren nur in Fachkreisen bekannt. Erst nachdem Emmanuel LeRoy Ladurie versucht hatte, die von Jean Duvernoy 1965 veröffentlichten Inquisitionsprotokolle des Bischofs von Pamiers, Jacques Fournier, nicht ausschließlich als Quellen für die Geschichte des

Sektenwesens im Mittelalter und seiner Inquisition zu lesen, sondern als Belege für dörfliches Leben, bäuerliches Denken und Handeln auszuwerten (29), hat sich inhaltlich das Interesse an der Geschichte der Katharer gewandelt, ja in einer größeren Öffentlichkeit eigentlich erst entwickelt. Die Übersetzung der "bäuerlichen Sozialgeschichte" Laduries ins Deutsche (30), die Aufnahme des Buches 1982 in das Programm der Büchergilde Gutenberg deuten dies ebenso an wie die zweiteilige "Ketzer-Chronik" Heinz von Cramers, die 1981 von drei Sendern co-produziert und seither von drei weiteren Sendern übernommen, inzwischen mehr als 30.000 Zuhörer erreicht haben dürfte.

Heinz von Cramer hat seine "Sequenzen über die Austilgung der katharischen Häresie" sinnvoll zweigeteilt. Der erste Teil, "So geht das Lied vom Kreuzzug...", umfaßt wesentlich die vier Kreuzzüge gegen die Katharer und ihre Verbündeten oder Sympathisanten, und endet mit dem Fall von Toulouse, 1229, dem gewaltsamen Anschluß fast der gesamten südlichen occitanischen Welt an Frankreich und der uneingeschränkten Unterwerfung unter die geistliche Herrschaft der katholischen Kirche. Der zweite Teil, "Die Klage vom friedlosen Frieden", schildert die nun folgende Zeit des Terrors und der Inquisition, die Einnahme der letzten Zuflucht der Katharer, der Burg Montségur, und die endgültige Vernichtung der katharischen Häresie. Für jeden dieser Teile bietet eine Textvorlage den roten Faden, um den herum alle anderen Texte gruppiert sind. Das ist im ersten Teil das Kreuzzugslied Guillaume de Tudèles, das mit der Belagerung von Toulouse abbricht, und in Teil 2 das Inquisitionsprotokoll

Vor allem des Bischofs von Pamiers, Jacques Fournier. Um sie und die wenigen erhaltenen religiösen Selbstzeugnisse der Katharer, Gebete und Rituale herum sind Verse der katharerfreundlichen Troubadoure Guilhelm Augier Novella, Tomier, Palazi und Gaucelm Faidits, aber auch Sagen aus den Pyrenäen, gruppiert. In die Collage des ersten Teils sind zusätzlich noch Satiren und Pamphlete der Troubadoure Pèire Cardenal, Pèire Bremond Ricas Novas, Bernart Sicart Marjevols und Guilhem Figueiras kühnes Spottgedicht auf Rom und das Papsttum aufgenommen.

Zusätzlich verwendet Heinz von Cramer für seine Collage historische Musik, Instrumente (Drehleiern, Mundorgeln, Schnarrsaiten, Trommeln) und realistische Geräusche (gleich in der ersten Sequenz z.B. in einer "rapiden Montage aus Stimmen und Geräuschen": Sensendengeln, Dreschen, Blasebalg, Schmieden, Besohlen von Schuhen, knirrschende Räder, Wäschewaschen und -schlagen, Hundebellen). Diese zahlreichen realistischen Geräusche. auch später des Krieges, sollen augenscheinlich auf die Realität eines historischen Geschehens verweisen, das in der zweiten Folge durch den Einsatz auch moderner Musik (u.a. von Varèse) oder am Schluß der ersten Folge mit den Geräuschen moderner Kriegsführung (Bombeneinschlägen, Granatenexplosionen, Maschinengewehrrattern, Sirenen, Flugzeuggeräuschen) akustisch auf die Gegenwart bezogen wird. So daß man vielleicht sagen kann, daß die Regie Heinz von Cramers darauf angelegt ist, einen unerhörten historischen Vorgang zu verallgemeinern und auf die Erfahrung des heutigen Hörers hin zu inszenieren, ihn - ohne in seine Substanz fälschend einzugreifen - zu aktualisieren.

Daß der Autor-Regisseur dabei durchaus parteilich ist, hat er in der Einleitung zum 2.Teil ausdrücklich vermerkt:

Nur in seltenen Fällen, und wenn es sich um Vorgänge aus der hohen Politik handelt, habe ich aus der amtlichen Geschichtsschreibung zitiert; denn ich wollte diesen heiligen Feldzug Roms, diesen Eroberungskrieg des französischen Reichs, diese gesamte Zerstörungs- und Ausrottungskampagne von Christen gegen Christen vor allem und möglichst ausschließlich in der Sicht der Opfer darstellen. (31)
Anders als das nationalsozialistische Beispiel, das von der Suggestivkraft des Mediums Rundfunk ausgehend auf pure und direkte Wirkung zielt, bleibt Cramer aber dem Hörer gegenüber ehrlich, nennt er jeweils seine Autoren bei Namen, nennt er seine Quellen, derart den Hörer - so dieser will - zur nachträglichen Überprüfung des Gehörten auffordernd.

Das Gesagte muß ausreichen, zu belegen, daß eine Rezeption des Mittelalters und seiner Literatur wie in den anderen Medien auch im Rundfunk(programm) stattgefunden hat und stattfindet. Sicherlich weniger spektakulär, ist sie dennoch von Anfang an in einer Quantität vorhanden, die Beachtung verdient und eine genauere Untersuchung rechtfertigt. Daß eine solche Untersuchung unter dem

Aspekt des Mediums erfolgen muß, geht aus dem Gesagten ebenso hervor wie sich der Umfang andeutet. in dem reproduktive und produktive Rezeption des Mittelalters und seiner Literatur in den Programmen begegnet. Das von mir dazu Ausgeführte konnte schon aus Raumgründen nichts weiter sein als Hinweis auf eine noch zu lösende Aufgabe, erster Umriß eines Arbeitsfeldes.


Anmerkungen
*) Vortrag im Rahmen des 2. Salzburger Symposion "Die Rezeption des Mittelalters in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts". Druck in: Mittelalter-Rezeption II. Gesammelte Vorträge des 2. Salzburger Symposions: Die Rezeption (...). Göppingen: Kümmerle 1982 [recte 1983], S. 261-280
1. Diese Unterscheidung gilt für die Medien- wie für die Literaturwissenschaft. Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Rundfunkprogramm kennt sie bereits seit 1924 (Rudolf Leonhard, Wilhelm Fischer). Eine erste systematische Darstellung bietet Helmut Jedeles Dissertation "Reproduktivität und Produktivität im Rundfunk" (Mainz 1952), die in einer "Theorie des produktiven Rundfunks (...) die Voraussetzung zur Grundlegung einer möglichen Ästhetik des Rundfunks" sieht (S. 95 f.). Jedele verweist auf Hans Fleschs ältere Forderung eines "produzierenden Rundfunks", "der nicht wiedergibt, sondern schafft: das Eigenwerk des Rundfunks" (Flesch, Zukünftige Gestaltung des Rundfunkprogramms,1930; zit. nach Hans Bredow (Hrsg.), Aus meinem Archiv. Heidelberg 1950, 5.122), übersieht aber wie schon vor ihm Flesch die gesellschaftliche Implikation, auf die Bertolt Brecht in seinen "Vorschlägen für den Intendanten" (1927) gewiesen hatte mit der Forderung, "die aktuellen Ereignisse produktiv zu machen", "mit den Apparaten" näher "an die wirklichen Ereignisse" heranzurücken "und sich nicht nur auf Reproduktion und Referat" zu "beschränken" (Gesammelte Werke, Bd 18, Werkausgabe edition suhrkamp, S. 121). Zur Verwendung des Terminus "produktive Rezeption" (dafür synonym auch "aktualisierende Rezeption")in der Literaturwissenschaft verweise ich spez. auf Peter K. Stein, Literaturgeschichte - Rezeptionsgeschichte - "produktive Rezeption", einen Versuch unter mediävistischem Aspekt anhand von Beobachtungen zur Günter de Bruyns Nachdichtung von Gottfrieds von Straßburg Tristan im Kontext der wissenschaftlichen und kulturpolitischen Situation in der DDR. Göppingen 1979 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 287).
2. Auch u.d.T. "Der Ackermann und der Tod".
3. Archiviert im RDRS, Studio Basel, unter der Nr.203.
4. Eugen Kurt Fischer, Das deutsche Volksschauspiel. München 1919 (Flugschrift des Dürerbundes, 177); ders., Die Laienbühne als Gesinnungstheater. München 1926 (= Flugschrift des Dürerbundes, 210).
5. Z.B. Alfred Thode, Haithabu, die alte Wikingerstadt, Lehrspiel des Schulfunks (1932). Deutsches Rundfunkarchiv (dafür künftig DRA) 73 U 2150/1.
6. Horst-Günter Funke, Die literarische Form des deutschen Hörspiels in historischer Entwicklung. Diss. Erlangen-Nürnberg 1962, S.42.
7. Der Hörspielbegriff, von dem ich dabei ausgehe, ist umfassender, als er immer noch gehandelt wird. Die mit ihm verbundene Vorstellung des Hörspiels als einer offenen Form zu entfalten, ist in einer Anmerkung nicht möglich. Ich verweise auf die hörspieltheoretischen Ansätze bei Alfred Döblin, Literatur und Rundfunk (in: Bredow, Aus meinem Archiv (vergl. Anm. 1), S.3llff.), Arno Schirokauer, Einwurf in die Aussprache des Hörspiels (in: Rufer und Hörer, Jg 2, 1932/1933, S.85), Helmut Heißenbüttel, Horoskop des Hörspiels (in: Heißenbüttel, Zur Tradition der Moderne. Neuwied/Berlin 1972. (= Sammlung Luchterhand 51), S.203 ff.), Hörspielpraxis und Hörspielhypothese (ebda, S.224ff.), sowie auf meinen Versuch über "Nichtliterarische Bedingungen des Hörspiels" (in: Wirkendes Wort, Jg 32, 1982, H.2).
8. Helmut Heißenbüttel, "Er mischt sich nicht ein, der eine, Gott. Er ist so unparteiisch". Zu den Hörspielen von Paavo Haavikko. In: Mitteilungen aus der deutschen Bibliothek. Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen, Nr.11. 1977, S.43.
9. Paavo Haavikko, Das Feld. Zit. nach dem vervielfältigten Produktionsmanuskript des Süddeutschen Rundfunks (dafür künftig
SDR), Archivnr. 1350, S.(II).
10. Paavo Haavikko, König Haralds lange Reise. Zit. nach dem vervielfältigten Produktionsmanuskript des SDR, Archivnr. 1734, S. 3/4.
11. Paavo Haavikko, Das Feld (vergl. Anm. 9), S.12.
12. Hannes Sihvo, Paavo Haavikkos Stellungsnahme zur Geschichte. In: Mitteilungen der deutschen Bibliothek (vergl. Anm. 8), S.49ff. Ebda, S.54, auch das Wortspiel "Galgenpessimismus".
13. DRA 53-612.
14. Nach dem Erstdruck in der Zeitschrift Internationale Literatur, Moskau 1937, H.5, wurde das Hörspiel selbständig lediglich in Leipzig, 1965 (= Reclams Universal-Bibliothek, 272) publiziert. In der BRD praktisch unzugänglich sind die Produktionsmanuskripte zweier Nachkriegsproduktionen von Radio Frankfurt (dem Vorgänger des Hessischen Rundfunks, 1946) und des Norddeutschen Rundfunks (1959). Erst 1982 erschien das Hörspiel endlich auch in der BRD (Frühe sozialistische Hörspiele. Hrsg. von Stefan Bodo Würffel, Frankfurt 1982 (Fischer Taschenbuch 7032), S.165 ff., allerdings mit falscher Datierung der deutschen Erstsendung (17.Juni 1952 Deutschlandfunk). Die deutsche Erstsendung erfolgte am 13.12.1946 durch Radio Frankfurt. Auch genügt die Textwiedergabe nach der Ausgabe Leipzig 1965 hörspielphilologischen Ansprüchen nicht (vergl. meine Hinweise in "Hörspielphilologie?", im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Jg 26, Stuttgart 1982).
15. Zit. nach dem Produktionsmskt. von Radio Frankfurt, S.5.
16. Ebda, S.29.
17. Bei den weiteren Jeanne d'Arc-Hörspielen läßt sich unterscheiden zwischen Spielen, in denen Jeanne d'Arc Hauptfigur ist (Rolf Schneider, Prozeß der Rechtfertigung Jeanne d'Arcs nach dem Jahre 1450 oder Konstruktion einer Heiligen (1972); ders., Die Heiligung Johannas (1982)) und Spielen, in denen Jeanne d'Arc eine Rolle neben anderen zugewiesen wurde (Elmar Podlech, Die Bewegung der Frauen auf dem Acker(1980); Ilse Aichinger, Gare Maritime (1977)).
18. Ingeborg Bachmann, Gedichte, Erzählungen, Hörspiel, Essays. München 1964. (Bücher der Neunzehn, 111), S.210f. - Man hat den Stammbaum der Eichhörnchen - obwohl sie eine New Yorker Realität sind - bis in die nordische Mythologie zurückkonstruiert, ohne daß diese Eichhörnchen-Genealogie eigentlich zu überzeugen vermöchte. Vergl. H.-G. Funke, Ingeborg Bachmann. Zwei Hörspiele. München 1969, S.55; ferner Otto F. Bests Nachwort zu Ingeborg Bachmann: Der gute Gott von Manhattan. Stuttgart 1970. (Redam Universal-Bibliothek, 7906), S.82.
19. La Divina Commedia di Dante Alighieri Giusta la lezioni del Codice Bartoliniano, Bd 1. Udine 1823, 5.53/54. - Obwohl ich es in diesem Zusammenhang nicht darstellen werde, möchte ich dennoch verweisen auf Hans Rehbergs "Preußische Komädie" (1933), die als bewußtes Gegenstück zu Dantes "Göttlicher Komödie" konzipiert wurde und eine Höllenwanderung durch die preußische Geschichte in die nationalsozialistische Gegenwart in elf Tagen schildert.
20. Joseph Bedier und Louis Artus, Tristan und Isolde (1948).
21. Gerd Oelschlegel, Romeo und Julia in Berlin (1953; auch als Bühnenstück) und Gert Hofmann, Die beiden aus Verona (1960).
22. Zit. nach dem Produktionsmanuskript des Westdeutschen Rundfunks, S.72.
23. Ferdinand Eckardt, Grundsätzliches zu einem Hörspiel des Deutschlandsenders. In: Rufer und Hörer, Jg 3, 1931/1934, S. 422 ff.
24. Ebda, S.424 f.
25. Ebda, S.425.
26. Ebda, S.423.
27. Hellmuth Langenbucher, Die deutsche Gegenwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit. Berlin 1940, S.228.
28. Heinz von Cramer, Ketzer-Chronik 1: "So geht das Lied vom Kreuzzug..."; Ketzer-Chronik II: "Die Klage vom friedlosen Frieden". Sequenzen über die Austilgung der katharischen Häresie nach Texten des 13.Jahrhunderts. Manuskript, Übertragung aus dem Französischen und Musik-Collagen: Heinz von Cramer. Produktionsmanuskript(e) des Bayerischen Rundfunks (1981).
29. Emmanuel LeRoy Ladurie, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324. Paris 1975.
30. Emmanuel LeRoy Ladurie, Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294 bis 1324. Aus dem Französischen übersetzt und bearbeitet von Peter Hahlbrock. Berlin 1980.
31. Ketzer-Chronik II. Zit. nach dem Produktionsmanuskript (vergl. Anm. 27), S.4.