Reinhard Döhl
Kunstraum/Sprachraum
[Katalogtext Pforzheim]

Wenn eine Ausstellung "Kunstraum/Sprachraum" überschrieben wird, rückt dies nicht nur Kunst und Sprache, Schrift und Bild im Tertium des Ausstellungsraumes zusammen, es verweist gleichermaßen auf ein ästhetisches Phänomen des 20. Jahrhunderts, das Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre mit der in Amsterdam zusammengestellten, von der Kunsthalle Baden-Baden übernommenen Ausstellung "Schrift und Bild" erstmals öffentlich wurde. Flankiert und ergänzt wurde diese Ausstellung durch eine Berliner Präsentation "Skripturale(r) Malerei" sowie eine Ausstellung auf der Darmstädter Mathildenhöhe, die erstmals mit moderner japanischer Sho-Kunst bekannt machte. Dietrich Mahlow, der damalige Leiter der Baden-Badener Kunsthalle, blieb von der Aktualität dieses grenzüberschreitenden Phänomens sogar so überzeugt, daß er 1987 in Mainz im Gutenberg-Museum und anderenorts unter dem Titel "Auf ein Wort" eine zweite Bestandsaufnahme versuchte, in der ersten Ausstellung Übersehenes nachtrug und die Entwicklung aufzeigte, die sich aus der wechselseitigen Begegnung von Bildender Kunst und Literatur, zum Beispiel im Umfeld von Concept art und Rauminstallationen inzwischen ergeben hatte.

Eine dieser Ergänzungen betraf die konkret-visuelle Poesie, die, von der brasilianischern Noigandres-Gruppe ausgehend, über die Ulmer Hochschule für Gestaltung vermittelt (Max Bill/Eugen Gomringer), seit Ende der 50er Jahre zu einem der Wasserzeichen der Stuttgarter Schule/Gruppe um Max Bense wurde. Diese Stuttgarter Schule/Gruppe war wesentlich international ausgerichtet, faßte jedoch, wie die von Stuttgart (mit)aufgebauten Ausstellungen "Text Buchstabe Bild" (Zürich) und "Akustische Poesie / ? Konkrete Poesie / Visuelle Poesie" (Amsterdam u.a.) belegen, den Begriff nicht in dem engen Sinne, in dem Gomrrger die konkrete Ljteratur schulbuchfähig gemacht hatte. Sie orientierte sich vielmehr an Vorstellungen Hans Arps, nach denen bereits Gedichte Wassily Kandinskis, der Zürcher Dadaisten und Kurt Schwitters über den Ansatz hinaus konkrete Poesie gewesen seien, aber auch an Vorstellungen des schwedischen Künstlers Öyvind Fahlströms, der neben dem Bildkonkretismus vor allem die musique ccncrete eines Pierre Schaeffer, aber auch die Sprachkneter aller Zeiten, darunter die griechischen Bukoliker und Alexandriner, Rabelais, Lewis Carroll, Gertrude Stein und die Dadaisten mitt einbezog. Was im Idealfall den "Kunstraum/Sprachraum" noch um den "Klangraum" erweitern würde.

Mit Kurt Schwitters ist zugleich ein Künstler genannt, der, nachdem die Kubisten erstmals Schriftzeichen in ihre Bilder und Collagen integriert hatten, mit seinen Gedichten, Collagen und Assemblagen, die er Merzgedichte, Merzzeichnungen und Merzbilder nannte, zentral ins Vorfeld der Pforzheimer Ausstellung gehört. Ein kleiner Exkurs soll dies verdeutlichen.

Für Kurt Schwiters hatten sich (wie auch für andere Dadaisten) die bürgerlichen Kunst- und Moralvorstellungen durch die Brutalitat des 1. Weltkrieges selbst korrumpiert, war jede traditionelle (auch ästhetische) Ordnung der Werte durch eine als "wahnsinrig" empfundene Zeit aus den Angeln gehoben. Dagegen wollte Hans Arp eine "elementare Kunst" setzen, "die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde herstellen sollte", während Schwitters einen gesellschaftlichen Mißbrauch der Kunst ausschließen wollte durch eine "Verkürzung des Weges vor der Intuition bis zur Sichtbarmachung des Kunstwerkes". Seine Gleichgültigkeit dabei allen Materialien gegenüber führte Schwitters zugleich zu einer Materialkunst für die erstens jeglicher Zivilisationsabfall als mögliches, verteilbares und entform(el)bares Material unter anderem galt. Da die Abfälle der Zivilisation z.T aber auch lesbar waren, sprengte dies zweitens die Grenzen des nur anschaubaren BiIdes in Richtung der Literatur, erfolgte zugleich eine Grenzüberschreitung, die in beiden Richtungen funktionierte.

In einem schon 1919 geschriebenen Aufsatz "Merz" erklärte Schwitters Kunst als einen ,"Urbegriff, erhaben wie die Gottheit, unerklärlich wie das Leben, undefinierbar und zwecklos". Ein solches Kunstwerk, "erhaben" und banal, "undefinierbar und zwecklos", läßt aber für den, der es herstellen will, die Beschränkung auf nur eine Kunstart nicht mehr zu. "Die Beschäftigung",fährt Schwitters denn auch fort, "mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. lch habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen."

Schwitters hat das Ziel des Merzgesamtkunstwerks nicht erreicht, blieb aber mit seinen Merzgedichten, Merzzeichnungen, Merzbildern und einem dreimal begonnenen Merzbau, der ja auch so etwas wie ein "Kunstraum" geworden wäre, auf seinem entschiedenen Weg, die Welt, die sich ihm in ihren Abfällen und ihrer trivialen Wirklichkeit darstellte, zu "vermerzen", d.h. aus den Abfällen des Alltags und der Zivilisation Kunst zu machen, "Kunst und Nichtkunst" zu einem "Merzgesamtweltbild" zu vereinigen. Er ist dabei, was sein Ziel betraf, genauso sympathisch gescheitert wie die Romantiker mit ihrem erzromantischen Plan, die Welt zu poetisieren. Und er hat gleichzeitig in dieser Tradition entschieden die Weichen gestellt für Künstler, die nach dem zweiten Weltkrieg erneut versuchten, Dichtung und Bildende Kunst, den konkret-visuellen Text und die Collage für ihre Absichten nutzbar zu machen, für Franz Mon zum Beispiel, der, neben seinem literarischen und Collagenwerk, mit seinen Hörspielen auch einen gewichtigen Beitrag zur akustischen Poesie geleistet hat. Oder in dieser Ausstellung für Jiri Kolár, der Ende der 50er Jahre als bereits renommierter Autor das Medium wechselte und heute fast ausschließlich als Collagist bekannt ist. Oder für den Verfasser, der neben akustischen und konkret-visuellen Texten in direkter Auseinandersetzung mit dem Schwitterschen Oeuvre seit Ende der 50er Jahre ein umfangreiches Collagenwerk geschaffen hat.

Für diese Künstler gilt wie schon für Schwitters', Arp, Kandinsky, Schönberg und andere Maler, Musiker oder Dichter zu Beginn des Jahrhunderts, daß sie Doppelbegabungen sind und damit einer Tradition zugerechnet werden müssen, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts herschreibt und dort zum Beispiel mit den Namen Goethe (der lange Zeit nicht wußte, ob er bildender Künstler oder Dichter sein wollte) oder Füssli besetzen läßt, der, ursprünglich Dichter, seine literarischen Ambitionen nach einem Medienwechsel in der Historienmalerei befriedigte. Füsslis Entscheidung für die Malerei, Goethes dann entschiedenes Dichtertum müssen auch gesehen werden vor dem Hintergrund von Überlegungen Moses Mendelssohns und Lessings. Nach Lessings in "Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie" getroffener berühmter und folgenreicher Unterscheidung waren die Zeichen der Bildenden Künste Farben und Formen im Raum, ihr Bereich daher das Nebeneinander von Körpern. Die Poesie dagegen benutze artikulierte Töne in der Zeit, die ein Nacheinander von Handlungen fordern. Zwar gebe es Grenzüberschreitungen, doch seien sie bei jeder der beiden Kunstarten durch ihre Mittel nur andeutungsweise möglich. Hatte Lessing damit die altehrwürdige Formel "ut pictura poesis erit" (wie das Bild sei die Poesie) außer Kraft gesetzt, setzte Schwitters mit seinen lesbaren Bildern und anschaubaren Texten, setzen die ihm folgenden Collagisten mit ihren Grenzüberschreitungen jetzt Lessings Außerkraftsetzung außer Kraft, restituieren sie erneut - wenn auch unter anderen Konditionen - ein ,ut pictura poesis". Und das nicht nur im Prinzip Collage.

Wenn Ilse und Pierre Garnier, der Begründer des "Spatialismus" (was ein weiteres Mal auf "Sprachraum" verweist, in den letzten Jahren ihre Texte durch ein einfaches, dennoch komplexes Zeichensystem ergänzen oder ersetzen, wäre dies, vor allem bei Pierre Garnier, ein weiterer Beleg für den in den modernen Künsten aktuellen (großen und kleinen) Grenzverkehr, in seinem Fall in eine der arte povera verwandte ikonographische Textur, die sich auf traditionelle Weise nicht mehr lesen läßt.

Mit den Doppelbegabungen Ilse und Pierre Garnier kommt zugleich ein weiterer Aspekt dieser Ausstellung zur Sprache. Was sich in der engen Zusammenarbeit zwischen Braque und Picasso, in der Korrespondenz zwischen Kandinsky und Schönberg, im Dialog zwischen Franz Marc und Else Lasker-Schüler oder den Gemeinschaftsdichtungen der Dadaisten und Surrealisten anbahnt, erfährt als Tendenz zum Dialogischen in den Künsten seit den 50er Jahren eine erneute Verstärkung. Nicht nur in der Internationalität der konkret-visuellen Poesie oder des Prinzips Collage, sondern in einer zunehmenden Neigung zu gemeinsamer künstlerischer Produktion. Hier hat Pierre Garnier mit dem japanischen Dichter Seiichi Niikuni in den 60er Jahren nicht nur ein spatialistisches Manifest verfaßt sondern auch eine größere Menge französischjapanischer Gedichte geschrieben, in ihrer Mischung lateinischer Buchstaben und Kanji-Zeichen exemplansche Beispiele für die Vielsprachigkeit visueller Poesie.

Diese Tendenz zum Dialogischen hat in den letzten Jahrzehnten die unterschiedlichsten Formen künstlerischer Interaktion ausgebildet: poetische Korrespondenzen in Tradition der japanischen Kettengedichte (Renga / Renshi), in denen internatonale Künstler in ihren jeweiligen Nationalsprachen gemeinsam dichten, oder eine mail art, in der Künstler sich auf gestalteten Postkarten über Konzepte, aber auch zu gemeinsamen Themen austauschen (vgl. die Stuttgarter Postkarten-Ausstellung anläßlich des 50. Todestages von Else Lasker-Schüler mit ihrem deutlichen Bezug auf die Korrespondenz zwischen

Else Lasker-Schüler und Franz Marc, oder die letztjährige mail-art-Ausstellung Im Stuttgarter Wilhelmspalais). Eine weitere Spielart, im Internet visuell und akustisch, literarisch, grafisch und musikalisch miteinander in den Dialog zu treten, deutet sich seit 1996 an in zwei international angelegten Projekten: einem Heißenbüttel- und einem Gertrude-Stein-Projekt, von denen letzteres gleichzeitig mit einer Ausstel!ung vernetzt war. An all diesen Interaktionen waren außer den schon genannten Künstlern wenigstens zu Teilen auch Paris .X., Iris Caren Metzger, Kei Suzuki und Wil Frenken beteiligt (neben anderen, die nur aus Raumgründen in der augenblicklichen Pforzheimer Ausstellung keinen Platz finden konnten).

Zu den künstlerischen Aktivitäten Wil Frenkens gehören in letzter Zeit ein offen angelegtes Chlebnikov-Prolekt (das zugleich eine weitere Traditonslinie, nämlich zum russischen Futurismus, andeutet), das Drucken (das, in Folge des holländischen, von den Nationalsozialisten ermordeten Druckers Werkman, in Stuttgart durch Klaus Burkhardt, Hansjörg Mayer und eben Wil Frenken eine vielfältige Ausformung erfahren hat) und eine sich in zahlreichen Buchobjekten abzeichnende Idee des Buches, in der sich Mallarmés livre-Konzeption und Apollinaires Prospekt des ,sichtbaren und hörbaren Buches der Zukunft bündeIn.

Vergleichbares, wenn auch mit anderen Intentionen, geschieht in den gemeinsamen Performances des russischen Wissenschaftlers und Dichters Wjatscheslaw Kuprijanow und des gebürtigen Dresdner Künstlers Paris .X., wenn sie ausgelegte Schieferplatten und Kupferbleche um die zerknüllten Seiten vorher gelesener Gedichte vermehren zu einer Unordnung, hinter der sich sehr wohl ein vom Betrachter erahnbarer Sinn verbirgt, wenn er erkennt, daß das scheinbar achtlos beiseite geworfene Wortmaterial eine Energie ist, die in der Welt bleibt, vermehrt um jene Worte und Energien, die sich aus den von Paris .X. in dieses scheinbare Chaos ausgestreuten Kupferbuchstaben ergeben könnten.

Eine weitere Art von Zusammenarbeit praktizieren seit den 80er ]ahren der japanische Shomeister Kei (Okei) Suzuki und der Verfasser, indem sie einmal im Sinne der Shokunst miteinander schreiben und experimentieren, aber auch, indem sie versuchen, die traditionelle Pinselschrift, deren Charakteristikum die für den Betrachter stets erkennbare Linie ist, mit dem abendländischen Prinzip der Collage zu verbinden, also zwei heterogene, sich im Grunde ausschließende Verfahrensweisen zu synthetisieren suchen.

Die Einzelarbeiten Kei Suzukis, die in dieser Ausstellung vor allem gezeigt werden, schlagen zugleich den Bogen zurück zu den eingangs genannten Ausstellungen, und hier konkret zu dem Stichwort Schritt. Schrift, so hatten diese Ausstellungen gezeigt, kann in ihrer Begegnung mit Bild auf vielfache Weise in Erscheinung treten, als Schriftbild, Bilderschrift, Schrift im Bild oder Schrift als Bild, um die in diesem Zusammenhang wichtigsten zu nennen. Jede Kultur hat hier ihre eigenen Traditionen ausgebildet aber auch von anderen gelernt. In Europa hat man, wenn man in diesem Sinne von Schrift spricht, vor allem an die berühmten Schreibmeister zu denken, an Kalligraphie. Ihnen ging es, vor allem nach Erfindung des Buchdrucks, darum, eine Balance zu finden zwischen der dienenden Aufgabe der Schrift, das heißt ihrer Lesbarkeit, und einem möglichst ansprechenden Schriftbild, das zugleich Ausdruck der künstlerischen Fähigkeiten ihres Schreibers war. Im Falle der Shokunst, die hartnäckig als japanische Kalligraphie bezeichnet wird, geht es aber genau darum nicht. Im Gegenteil: indem der Shomeister sich die größte Freiheit beim Schreiben der Kanji, der Schriftzeichen nehmen kann und nimmt, um sich, seine Befindlichkeit, seinen inneren Zustand auszudrücken, entstehen oft Schriftbilder, die selbst ein Kenner kaum mehr 'entziffern' kann. Wobei hinzukommt, daß nach einem Satz des Zen-Philosophen Daisetz T. Suzuki Kunst erst dort entsteht, wo sie den Zustand des Formlosen erreicht hat; eine Überzeugung, die sich auf merkwürdige Weise mit dem Schwitterschen Diktum berührt, daß man den Begriff der Kunst erst loswerden müsse, um zur Kunst zu gelangen. Beide Traditionen aber, die der europäischen Kalligraphie und die der japanischen Shokunst, treffen nach den eingangs erwähnten Ausstellungen jetzt in der Pforzheimer Ausstellung erneut zusammen in den Arbeiten Thomas Kubischs und Kei Suzukis. Und sie laden wie alle anderen Exponate den lesenden Betrachter und den betrachtenden Leser ein, die Unterschiede aber auch die Gemeinsamkeiten zu sehen und verstehen zu lernen.

[Osaka, Dezember 1996]