Reinhard Döhl | 50 Jahre Kölner Dramaturgie
Eine historische Revue / 4

Einspielung
Miserere

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Diese Sequenz ist Teil des vierten Satzes von Peter Hirches "Miserere", das der WDR 1965 sendete. Ein Hörspiel, für das ein Autor 1966 den Hörspielpreis der Kriegsblinden zugesprochen bekam. Damit fiel zum ersten Mal ein angesehener Hörspielpreis auf eine Produktion der Kölner Dramaturgie, wurde zum ersten Mal öffentlich bestätigt, daß die Kölner Dramaturgie den Anschluß an das führende Hörspiel gefunden hatte. Gleichzeitig ist Peter Hirches "Miserere" einer der bezeichnendsten Belege für die Veränderung der Hörspiellandschaft Mitte der sechziger Jahre. Das macht dieses Hörspiel fast zu einem Dreh- und Angelpunkt unserer heutigen Sendung, die die Jahre 1960 bis 1968 Revue passieren lassen soll.

Wir dürfen erinnern: Die bisherige Entwicklung der Kölner Dramaturgie war wenig kontinuierlich verlaufen. In einer ersten Phase des Aufbaus 1927 bis 1933 unter Ernst Hardt gab es ein Nebeneinander von adaptiertem Bühnenstück und Hörspiel, fand wesentlich unter dieser aufeinander bezogenen Perspektive die Erprobung seiner Möglichkeiten statt. 1933 bis 1945 folgte unter NS-Intendant Glasmeier und der Programmleitung Eugen Kurt Fischers eine Phase ideologischer Gleichschaltung von Rundfunk und Hörspiel, in der die Hörspielarbeit schließlich ganz zum Erliegen kam.

Als nach 1945 eine künstlerische Hörspielarbeit wieder möglich wurde, führte die Konstruktion des Rundfunks in der britisch besetzten Zone zur Teilung der gemeinsamen Mittelwelle des damaligen Nord-Westdeutschen Rundfunks, und zwar so, daß das Funkhaus in Hamburg die Originalhörspiele sendete, das Funkhaus in Köln dagegen bis 1960 fast ausschließlich für den Funk eingerichtete Bühnenstücke produzierte. So wurde nach dem Kriege unter Leitung Wilhelm Semmelroths zwar die klassische Bühne im Westdeutschen Rundfunk wieder neu aufgebaut, kam es aber zu keiner eigentlichen Hörspielarbeit, während sich die anderen Rundfunkanstalten Westdeutschlands einen aktiven und qualifizierten Stamm von Hörspielautoren heranzogen, während vor allem von Hamburg aus das erste große Kapitel des Nachkriegshörspiels geschrieben wurde.

Als Wilhelm Semmelroth 1960 zum Fernsehen wechselte und Friedhelm Ortmann von ihm die Leitung der Hörspielabteilung, besser der akustischen Theaterabteilung übernahm, stand ihm kein eigener Autorenstamm zur Verfügung. Hinzu kam, daß viele Hörer zum Fernsehen abgewandert waren, so daß er sich gleichzeitig auf eine völlig veränderte Mediensituation einstellen mußte. Keine beneidenswerte Ausgangssituation und dennoch, wie die Zukunft zeigen sollte, eine glückliche Konstellation.

In einem Gespräch, das vor ein paar Wochen aufgezeichnet wurde, skizziert Friedhelm Ortmann seine Ausgangsposition rückblickend so:

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Ich muß mit der zweiten Frage eigentlich anfangen. Wir hatten schon einen gewissen Stamm von Hörspielautor en und nur sie bedienten eine Art von Hörspiel, das der leichten Unterhaltung diente, was ja nichts Böses ist. Da hatten wir ja so Sendereihen "Neues aus Schilda" und "Es geschah in..." und so. Es waren also im guten Sinne Gebrauchsautor en und der Schwerpunkt des Programmes vor 1960 lag in der Tat bei der Adaption von Bühneninszenierungen, was zu tun hatte mit einer gewissen Arbeitsteilung zwischen Hamburg und Köln, da wir ja noch die lange Mittelwelle hatten. Das zum einen - und das Hinwenden zum Fernsehen, das Hinwenden des Publikums zum Fernsehen brachte uns umso stärker in den Zwang, jetzt zu sagen: Ja, was machen wir denn jetzt mit dem Hörspiel , es hat ja wenig Sinn, daß wir zum Beispiel "Hamlet" senden und das Fernsehen bringt es am nächsten Tag in Bild und Ton, so daß daher auch von da der Zwang, eine Notwendigkeit und auch eine künstlerische Absicht dahinterstand, da nun was zu tun.

Autor

Es ist kaum übertrieben festzuhalten, daß die Hörspielarbeit des Westdeutschen Rundfunks 1960 praktisch noch einmal bei Null beginnen mußte. Dabei fehlten Ortmann nicht nur Autoren, hatte er es nicht nur mit einer neuen Hörerlandschaft zu tun, er hatte nicht einmal eine für seine Absichten ausreichende Dramaturgie.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Also, bei dem, was vorhanden war, war eine Dramaturgin, Frau Wach, und dann ich dann, wir waren unterbesetzt, bei dem, was wir vorhatten. Dieser Apparat mochte ausgereicht haben da, wo das Hörspielprogramm doch ziemlich klein war, jedenfalls im Vergleich zu heute, und wir waren unterbesetzt und mußten versuchen, wo wir unseren Laden aufbauen können und dann sind wir angefangen. Hier in Köln ist etwas sehr Gutes, worum uns alle Funkhäuser eigentlich immer sehr beneidet haben. Wir haben früh angefangen, uns einen guten Assistentenstamm zu suchen, die also in der Praxis arbeiteten, also im Studio, als ehemalige Regieassistenten, und auch als Lektoren in der Dramaturgie. Genau auf diese Weise war also eine gewisse Auswahlmöglichkeit da für mich und dann war es eben so damals, daß eben Herr Krogmann da war und Herr Schöning bei uns Assistent war, beides Kollegen, der eine in der Dramaturgie und der andere machte Regie. Also, da hatte ich eine gewisse Auswahlmöglichkeit, nicht wahr, und auf diese Weise wurde die Dramaturgie ausgebaut und je mehr Mitarbeiter, umso leichter ist es natürlich, sich auf die Suche zu begeben nach jungen Autoren.

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Dieser schrittweise Ausbau der Dramaturgie führte im Laufe der Jahre zu einer gezielten Heranbildung eines dramaturgischen Nachwuchses, von dem auf die Dauer auch andere Anstalten profitierten.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Ich hätte so gerne gesagt, daß damals über dem Wege der Assistenten wir eine sehr starke Nachwuchsförderung gemacht haben und daß es dann ja sogar so ging, daß andere Sender sich bei uns bedienten. Herr Krogmann, also der ging nach Baden-Baden, Dieter Carls ging nach Stuttgart, dann ging er nach Berlin, jetzt ist er wieder bei uns.

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Eine derartige Breitenwirkung sieht 0rtmann jedoch für die Zukunft nicht mehr gegeben. Wenn er aus heutiger Sicht einschränkt:

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Das was da in Bewegung gesetzt wurde, scheint der Vergangenheit anzugehören, weil die jetzige Situation, das waren ja alles freie Mitarbeiter damals, weil die jetzige Situation arbeitsrechtlich so verfahren ist, daß wir bei der Beschäftigung freier Mitarbeiter, neuer Leute, Nachwuchsförderung und so weiter ja wahnsinnig beengt sind und das ist eine schreckliche Situation.

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Ein weiterer Schritt zum Aufbau einer sinnvollen Hörspielarbeit war die Auseinandersetzung mit dem Hörer. Man wollte und mußte in Erfahrung bringen, welche Hörer nach dem Aderlaß durch das Fernsehen dem Rundfunk verblieben waren, wo ihre Interessen im Bereich des adaptierten Theaterbereichs lagen. Für diesen Zweck wurden in den Jahren 1962 bis 1965 drei Hörerbefragungen durchgeführt, die Hörerinteressen und Hörerwünsche sondieren sollten.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Ich meine, wir wollten ja nicht in den leeren Raum hinein produzieren, sondern wir wollten auch wissen, was unsere Hörer denn von den vielen Versuchen, die wir machten, mit neuen Autoren, wo wir Arbeiten vorstellten, die durchaus noch nicht Meisterleistungen waren, ob das einen Sinn hat, ob das von unseren Hörern akzeptiert wurde, ja, und im Hinblick auf Bühnenstücke wollten wir einfach wissen, weil wir ein riesiges Archiv haben, wollten wir einfach wissen, wie denn die einzelnen Titel in der Hörergunst rangieren und wir hatten ja damals das Dritte Programm hinzubekommen, auch ins Hörspiel hinein, und wir wollten dieses Dritte Programm auch bestücken mit Spielen, die sich die Hörer wünschen.

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Zu den Bemühungen, mit den Hörern schnell und zügig in ein Gespräch zu kommen, gehörte zum weiteren die Einführung von Programmheften, Dokumentationen der Hörspielarbeit und des Hörspielselbstverständnisses seit 1961 sowie seit 1962 die Publikation von Hörspieljahrbüchern, die in Auswahl den Ertrag dieser Arbeit vorstellten. Programmheft und Hörspieljahrbuch waren Bestandteil des neuen dramaturgischen Konzeptes, müssen mit ihm zusammen gelesen werden und nicht als zufällige Nebenprodukte, wie Friedhelm Ortmann anläßlich des Gesprächs nachdrücklich betont.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Es kam nicht zufällig nebenher und die Absicht war ganz eindeutig Publikation, fertig, aus. Nicht wahr, wir hatten damals Dieter Kühn und Wellershoff ja auch, wo wir sagten, die Texte sind so ausgezeichnet und so gut, daß wir versuchen wollen, einen Ver1ag zu finden, ich meine, es ist ja nicht das erste Hörspielbuch, was herausgegeben wurde; Stuttgart gab damals bereits eins raus; Hamburg gab damals eins raus, und wir wollten da einfach nachziehen, und zwar mit jungen Autoren, und durch die Zusammenarbeit mit einem Kölner Verlag gelang das auch. Es war eine ganz gezielte Absicht, nicht wahr. Die Bücher wurden natürlich nicht rasend gekauft - leider, und das Hörspielprogrammheft verfolgte die gleiche Absicht. Wir wollten einfach einmal in solcher Form der Öffentlichkeit vorlegen, wie groß unser Programm ist, das vorher immer, na ja so: Hörspiel gibt es auch. Aber was das dann mittlerweile ein Block im Programm geworden war, von welchen künstlerischen Überlegungen ausgegangen wurde bei der Arbeit und bei der Herstellung eines solchen Spielplanes, das wollten wir einfach mal dokumentieren, und dieses Heft hat sich ja sehr gemausert

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Sind die Hörspieljahrbücher oft Fundort nur schwer greifbarer, hörspielgeschichtlich wichtiger Texte, bilden die Programmhefte, die sich schnell zu der heutigen Form mauserten; für die Jahre des Aufbaus wichtige Quellen, vor allem auch über das Verhältnis Dramaturgie - Hörer. Ihnen lagen zum Beispiel Fragebögen bei. Sie spiegelten im Abdruck von Zuschriften das Hörerecho im Für und Wider. Sie lassen ablesen, wie unter einer regen und für die damalige Zeit sicher einmaligen Beteiligung des Hörers das Hörspiel in die Diskussion geriet.

Es sind zunächst Ergebnisse von Hörerumfragen, die veröffentlicht wurden. Danach ergab die Auswertung der Antworten, die auf die Frage eingingen: Welche Gattung von Hörspielen schätzen sie besonders? folgende interessante Verteilung:

1) Ernste Hörspiele 21,1%
2) Bühnenstücke 20,6%
3) Hörspiele nach literarischen Vorlagen 20,1%
4) Kriminalhörspiele 16,9%
5) Heitere Hörspiele 15,8%
6) Mundartliche Hörspiele 5,5 %
Diese Verteilung ist nicht nur wegen des eventuellen Gleichauf von ernstem Hörspiel, Bühnenstück und Stück nach literarischen Vorlagen bei der Hörergunst interessant, sie ist vor allem interessant wegen der daran gemessenen relativ geringen Prozentzahlen für Kriminal-Hörspiel und heiteres Hörspiel. Denn diese relativ geringen Prozentzahlen deuten an, daß der Unterhaltungsanspruch, den größere Kreise an den Rundfunk stellten, jetzt augenscheinlich vom Fernsehen befriedigt wurde, daß die Hörerumschichtung dem Hörspiel sogar zugute kam.

Von einer Nebenwirkung derartiger Hörerumfragen berichtet ein Brief aus Bielefeld.

Zitat

Ihr Hörspielprogramm gefällt mir. Es ist gut abgewogen. Ich bin erst auf Ihre Hörspiele aufmerksam geworden, als ich von Ihrer Hörerumfrage hörte, Musikliebhaber, und finde, daß Sie sich wirklich Mühe mit den Hörern machen. So fühlt sich der Hörer in Ihre Arbeit einbezogen.

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Das Bemühen der Kölner Dramaturgie um junge Autoren geriet erklärlicherweise besonders in den Widerstreit der Meinungen. So heißt es kritisch aus Hamburg:

Zitat

Es war für mich in früheren Jahren das größte Vergnügen, Hörspiele zu hören, jetzt höre ich mir nur mehr den Anfang an, dann stelle ich ab, da mich das einfach nicht interessiert und genauso geht es meiner Frau. Wir können ja einfach nicht mit. Wenn diese Hörspiele in Theater verfilmt oder gespielt würden, die Theater und Kinos müßten zumachen.

Autor

Dagegen haben einem Hörer aus Marburg am meisten die Hörspiele gefallen, die ihm nicht gefallen haben. Warum?

Zitat

Man kann sich mit diesen Spielen viel intensiver auseinandersetzen als mit denen, die mit unseren, (das heißt mit meinen) Anschauungen in Resonanz stehen, und man kann sich köstlich über die anderen ärgern.

Autor

Die Kölner Dramaturgie ließ diesen Widerstreit der Meinungen jedoch nicht nur in den Programmheften zu Wort kommen, sondern ließ sich viel mehr von ihnen 1963 zu einem folgenreichen Schritt ermutigen. Sie versah im Programmheft des zweiten Halbjahres 1963 einige Hörspiele mit einem Sternchen und forderte die Hörer auf,

Zitat

Uns Ihre Meinungen zu diesen Sendungen mitzuteilen. Wir beabsichtigen, diese Hörspiele im ersten Halbjahr 1964 im Dritten Programm zu wiederholen. Dieser Wiederholung soll sich eine Diskussion zwischen Hörern, Kritikern, Autoren und Regisseuren anschließen. Titel der geplanten Sendereihe "Hörspiel in der Diskussion".

Autor

Damit war eine bis heute bestehende Sendereihe geboren, deren Geburt dieser etwas langatmigen Beschreibung kaum bedurft hätte, wäre sie nicht der hörspielgeschichtlich seltene und beinahe klassische Fall eines, wie man heute sagen würde, Feed back. Auch die Presse verfolgte die Vorgänge in der Kölner Dramaturgie aufmerksam und spiegelte in zahlreichen Veröffentlichungen gewissermaßen öffentlich das Für und Wider der Hörerdiskussion, stimmt mit einer positiven Bewertung der Aufbauarbeit zu. So notiert 1961 die "Politisch Soziale Korrespondenz":

Zitat

Die vom Sender angekündigten Hörspiele lassen erkennen, daß der Westdeutsche Rundfunk es sich angelegen sein läßt, das moderne Hörspielschaffen zu pflegen. Man findet erfreulich viele junge Autoren und vielleicht ist diese Vielseitigkeit die Methode, um langsam aber sicher dem Hörfunk eine erstklassige Mannschaft von Hörspieldichtern zu schaffen.

Autor

Und ein Jahr später schreibt "Das Neue Rheinland":

Zitat

Aus manchen Anzeichen könnte man schließen, daß der WDR sich anschicke, die Bedeutung des alten Hörfunks neben dem effektvolleren Fernsehen neu einzuschätzen. Am entschiedensten geht das Hörspiel seinen Weg. In seinem Programm, das an Raum gewonnen hat, treffen sich junge Autoren mit Versuchen, neue Inhalte und Formen zu finden. Dabei wird beim einzelnen Autor wie im Gesamtprogramm eine klare Richtung des Suchens erkennbar.

Autor

Bevor die in dieser öffentlichen Honorierung der Aufbauleistung angesprochenen jungen Autoren, die sich herausbildende erste klassische Mannschaft, die neuen Inhalte und Formen des Hörspiels diskutiert werden können, muß geklärt werden, was das in der zweiten Pressenotiz hervorgehobene Gesamtprogramm einschließt. Der Hörspieldramaturgie standen nämlich mit dem Ersten, Zweiten und Dritten bald drei Programme zur Verfügung, in denen die Hörspiele nicht zufällig plaziert wurden, für die vielmehr gezielt produziert oder übernommen wurde.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Das System lag eigentlich darin, daß das damals, daß die Hörspiele im Ersten Programm, die ja nur alle vierzehn Tage kamen, im Wechsel mit Hamburg, eine gewisse Gewichtigkeit hatten. Die Stücke, von denen wir glaubten, daß sie einem größtmöglichen Publikum zur Kenntnis gebracht werden sollten. Im Zweiten Programm gingen wir einmal, das hat auch etwas mit den Tagen zu tun, an denen gesendet wurde, einmal auf problematische Stücke, auf schwere Stücke, und auch auf unterhaltende Stücke, wo wir ganz großen Wert drauf gelegt haben; das Dritte Programm haben wir damals wieder aufgebaut. Es hatte verschiedene Funktionen damals. Es gab einmal die Möglichkeit, endlich einmal gezielt Hörspiele anderer Sender vorzustellen und nicht nur zu tun, als wenn wir ganz alleine senden würden, und dann fingen ja die Experimente ja auch an, oder Stücke, von denen wir sagten, die wollen wir zur Diskussion stellen. Und das hatte ein großes Echo und das war ja dann auch sehr gut, weil dann ja Hörer eingeladen wurden zu uns und es fand dann eine große Diskussion statt, und die wurde gesendet im Dritten Programm.

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In diesem Sinne war die eigentliche Hörspielarbeit der Kölner Dramaturgie für den Hörer quasi doppelt plaziert: Im Gesamtprogramm, wie im nationalen und im internationalen Hörspiel, Kontext und Vergleich. Daß im Gesamtprogramm das adaptierte Bühnenstück weiter seinen Platz behielt, ist bereits angemerkt worden und entsprach damit rund 20% der Hörerwünsche; aber auch hier änderte sich schnell die dramaturgische Handschrift.

Ein Beispiel soll dies belegen. Sowohl von Wilhelm Semmelroth als auch von Friedhelm Ortmann ist eine Inszenierung von Shakespeares "König Lear" als Tondokument enthalten. War Ortmanns Inszenierung eine von mehreren Beiträgen zum Shakespeare-Jahr 1964 , so verdanken wir die Inszenierung von 1955 vor allem dem Wunsch Semmelroths, Fritz Kortner vor das Mikrofon der klassischen Bühne des Westdeutschen Rundfunks zu bekommen. Hören Sie einen Ausschnitt der hörspieltechnisch nicht unproblematischen Heide-Szene. Zunächst in der Inszenierung Wilhelm Semmelroths.

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King Lear III,2

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Und jetzt dieselbe Szene in der Inszenierung von Friedhelm Ortmann mit Ernst Schröder als Lear.

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King Lear III,2

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Angemerkt werden sollte noch, daß so verschieden wie die Inszenierung auch die Einschätzung der Vorlage durch die beiden Regisseure ist. Während Semmelroth das Stück für den Funk eigentlich wenig geeignet findet, ihm ging es lediglich um den Schauspielersprecher Fritz Kortner, hält Ortmann den "Lear" für eines der wenigen Stücke Shakespeares, die sich einer Interpretation im Funk nicht entziehen. Das aufgezeichnete Gespräch macht deutlich, wo und wie Ortmann die funkischen Möglichkeiten sieht.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Im "Lear" ist die Heideszene und da ist es auf der Bühne immer so schlimm oder schwierig für einen Schauspieler, auf der einen Seite ist also ein gewaltiges Getöse zugange und der Schauspieler muß nun auf der Bühne mit Kraft darüber hinweg und so wird das immer ein ungeheures Gebrülle. Muß nicht sein, aber so ist es gemeinhin. Donnern muß es, aber wie kann man es fertigbringen, daß man diesen Text einmal ganz intensiv denken kann, also nicht brüllen gegen ein Gewitter, und da kam ich dann an eine andere Stelle, wo also "Lear" von den Töchtern des Hauses verwiesen wird und wo es heißt: Schließt die Tore. Und da haben wir denn entwickelt, also, diese Tore wurden gigantisch, das waren nicht irgend welche Dogentore, sondern halt es war das Gefühl, er ist aus der gesamten Welt ausgesperrt. Das war so ein gewisser Rhythmus, in dem die Dinge runterfielen und zu einem Dröhnen wurden. Dieses Dröhnen setzte sich fort und blieb in der Luft schweben und wurde immer dünner und zurück blieb ein einziger heller Ton. Und dann kam der Text in der Heide. Wissen Sie, das klingt jetzt wie ein Trick, aber man braucht schon eine gewisse Zeit, um auf so eine Lösung hinzukommen.

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Wichtig ist, daß Ortmann das, was hier akustisch passiert, was ihm in anderen Fällen die Musik, vor allem Enno Dugens, an akustischer Kulisse baut, aus dem Text ableitet. Für ihn ist ein Text, ob Hörspiel oder Theaterstück, zugleich Konzeption, Partitur, die es sorgfältig nachzuspielen gilt. Stil, pointierte es Ortmann 1964 in einem Gespräch mit Klaus Schöning im WDR III, sei nicht vorher da, stelle sich bei der Arbeit am Stück ein. So könne jedes Stück in der Realisation anders werden, was dann dazu führe, daß sich der Regisseur nicht so recht einordnen lasse. Diese Grundhaltung hat sicherlich mit dazu beigetragen, daß von der Kölner Dramaturgie sehr bald eine Vielzahl von Regisseuren beschäftigt wurde, daß von einem dominierenden Stil der Kölner Dramaturgie auch von daher nicht gesprochen werden kann. Stilvielfalt, nicht Stillosigkeit, ist also das eine, auf der anderen Seite ermöglichte eine derartige Grundhaltung von Anfang an eine breite Fächerung der jungen Autoren, die es jetzt der Kölner Dramaturgie zu gewinnen galt. Dabei kamen Autoren und Dramaturgie auf den verschiedensten Wegen zueinander. So erinnert sich Dieter Kühn 1966 in einem Gespräch an seine Anfänge als Hörspielautor:

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Kühn: Ich hatte vor sechs Jahren ein Hörspiel geschrieben, ohne genaue Vorstellungen, wie wohl so etwas vor sich gehen muß, wie man das einschickt. Ich hatte das Hörspiel eingeschickt. (...) Das war 1959. Und ich hatte dann das große Glück, das Hörspiel wurde sofort angenommen. Sie können sich vorstellen, daß es damals für einen nun wirklich noch jungen Autor sehr animierend war, nun das gleiche noch einmal zu versuchen. So bin ich eigentlich zum Hörspiel gekommen. Ganz einfache Erklärung.

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Andere Stücke kamen auf dem Wege des Wettbewerbs in den Funk und nicht alles, was hier auf der Suche nach jungen Autoren auf den Tisch kam, war gleich perfektes Hörspiel, sendereifes Manuskript.

Die Mischung von Dramaturgie und Handwerk, die Bereitschaft der Regisseure, auch Stücke mit dramaturgischen Schwächen zu inszenieren, in denen Praktiker Möglichkeiten einer akustischen Rettung erkannten, war für den Aufbau der nächsten Jahre charakteristisch, damit verbunden die Absicht, Autoren für die Hörspielarbeit zu gewinnen. Dazu war der personelle Ausbau der Dramaturgie wesentliche Voraussetzung, denn jetzt konnte man systematischer auf Autorensuche gehen.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Und dann haben wir ganz gezielt Leute zu uns eingeladen, auch, was vorher nicht in dem Maße der Fall war, Leute einzuladen, wenn Manukripte kamen, wo man sagte, der Stoff ist gut, aber wo man sagt, da fehlt noch was, hier sind Macken. Unserer Meinung nach, her mit dem Mann, wir wollen ihn kennenlernen. Und so trudelte das alles zusammen. Ich meine, es ist ja nicht so, daß wir gleich am ersten Tage damit Erfolg hatten, das brauchte schon seine Zeit, eine gewisse Anlaufzeit von zwei/drei Jahren.

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Immerhin standen bis 1963 mit Dieter Kühn, Christian Noack, Rainer Puchert , Detlef Müller, Adolf Schröder und Gerhard Braunisch dem Kölner Dramaturgenteam ein halbes Dutzend Autoren zur Verfügung, zahlten sich die Mühen des Aufbaus langsam aus. Adolf Schröders Hörspiel "Gelassen stieg die Nacht an Land", Dieter Kühns "Reduktionen" und Rainer Pucherts "Das Appartementhaus" gaben bereits eine erstaunliche Themen- und Formenvielfalt ab. Sieht man auf die Geburtsjahre dieser Autoren, Adolf Schröder 1938, Dieter Kühn 1935, Rainer Puchert 1934, wird man ihnen mit Recht das Etikett des jungen Autors zugestehen; aber auch in einem übertragenen Sinne sind sie junge Autoren in einer ARD-Hörspiellandschaft, die durch weitgehende Stagnation in der Gattungsentwicklung charakterisiert war. Wichtige Autoren der fünfziger Jahre, wie Leopold Ahlsen, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer, Claus Hubalek hatten sich aus der Hörspielabteilung teilweise oder ganz zurückgezogen. Günter Eichs nur noch zögernd gelieferte, immer radikalere Hörspielbeiträge, seine zahlreichen Fassungsänderungen, acht allein für "Die Stunde des Huflattichs", belegen Stagnation und Krise ebenso, wie eine nach 1960 immer theoretischere und historische Beschäftigung mit dem Hörspiel. 1961 erscheint Friedrich Knillis zunächst folgenloses, gegen das traditionel1e literarische Hörspiel konzipierte Plädoyer für ein "totales Schallspiel" ("Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels"). 1963 legt Armin P. Frank mit "Das Hörspiel" eine von mehreren Dissertationen zum Thema vor. 1963 und 1964 werden die materialreichen Arbeiten Heinz Schwitzkes, "Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte" und Eugen Kurt Fischers "Das Hörspiel - Form und Funktion" veröffentlicht.

Diese Publikationen, Vergewisserungsversuche auch des Hörspiels der fünfziger Jahre, seiner historischen Rückversicherung und zugleich Krisensymptome, nehmen zu einer Zeit Bestand auf, in der der Westdeutsche Rundfunk seine Hörspielproduktionen eigentlich erst startet. Zu den jungen Autoren, in denen die Kölner Dramaturgie in dieser Phase der Stagnation und Hörspielkrise einen neuen Anfang versuchte, gehörte der 24-jährige Adolf Schröder, dessen erstes Hörspiel "Gelassen stieg die Nacht an Land" provokativ anderes meinte, als der von Mörike entlehnte Titel den Hörer zunächst vermuten ließ.

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Gelassen stieg die Nacht an Land

Autor

Schröders Albtraum wurde mit dem Förderpreis der Kurt Magnus-Stiftung ausgezeichnet. Eine Ermutigung für den Autor, eine Ermutigung aber auch für die WDR-Dramaturgie und ihre Arbeit. Nur einem Hörer aus Essen kam der kalte Kaffee hoch, war diese Art der Vergangenheitsbewältigung eines Deutschen unwürdig.

Zitat

Die alte Geschichte beweist ganz andere Dinge, aber ich sehe nicht ein, daß die Weltöffentlichkeit durch ein solches Greenhorn wieder einmal hohnlachend auf uns zeigen soll.

Autor

Anders honorierten die meisten Hörer und auch die Pressekritik dieses Bemühen Schröders und anderer Autoren um Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung mit Interesse. So hob der katholische Pressedient "Funkkorrespondenz" besonders hervor, daß Schröder vom Alter her unschuldig, sich dennoch der Schuld stelle und erkennt richtig, daß Schröder, aus eben dem selben Grunde sinnvoll die Form des Traumspiels wählt.

Zitat

Die Vergangenheit wirkt als nachträglich erlebte Wirklichkeit, als Gegenwart, sie wirkt unheimlich realistisch, weil sie sich nicht mit der Abwicklung eines logisch durchdachten Handlungsfadens aufhält, sondern die Dämonie des Vernichtungswahns in grell beleuchteten szenischen Bildern sichtbar macht. Die Bilderfolge ist sehr geschickt zu einem ganzen verknüpft, Übertreibungen in der sprachlichen Formulierung und die Aufdringlichkeit der Geräuschkulisse haben hier ihre gute Berechtigung. Beides dient unverkennbar zur Erschütterung im visionären Miterleben. Der Erstling Adolf Schröders verdient allen Respekt. Die Regie von Heinz Wilhelm Schwarz hat offenbar dank einem sorgfältig ausgewählten Sprecherensemble alle Möglichkeiten eines ausgezeichneten Manuskriptes zur Geltung gebracht.

Autor

Vor allem zwei Autoren stehen mit ihren Arbeiten fast modellhaft für das Themen- und Formenspektrum der Hörspielarbeit dieser Jahre, obwohl die Zustimmung, die sie bei Hörern und Kritik fanden, zunächst keinesfalls einhellig war: Dieter Kühn und Rainer Puchert. Beide Autoren haben schon sehr früh Hörspiele eingebracht, die jeweils bestimmte Positionen in der Hörspielentwicklung und im Gesamtprogramm markieren. Will man überspitzen, kann man sagen, daß sie die beiden Seiten der Hörspielmünze sind, die von der Kölner Dramaturgie folgenreich geprägt wurde.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

An Kühn hat mich immer sehr fasziniert seine klare, kühle zielende Diktion, das fand ich immer sehr schön, manchmal dachte ich, ach Gott ja, es fehlt mir wohl eigentlich etwas Poetisches, er hat mal ein Stück geschrieben, was wir nie gemacht haben, wo eine Szene drin war, die für mich einen ganz neuen Ton hatte. Bei Puchert ist es eigentlich etwas Chaotisches, was mich immer wieder fasziniert. Wenn ich daran denke, daß sein erstes Hörspiel, was wir produzierten, war das "Appartementhaus" , wo eine Fülle von Szenenfetzen darstellen sollten, ein Hochhaus, in dem also Leute wohnten, wo also unter Verzicht auf eine gewisse dramaturgische Logik einfach so eine Szenenwucherung mehr hingesetzt wurde und wo man damals sagte: Das versteht doch kein Mensch! Für uns sind diese Hörspiele heute längst Gebrauchsware oder was.

Autor

Das interessanteste Hörspiels Kühns aus dieser Zeit ist fraglos "Reduktionen" (1963). Die Geschichte eines Mannes, dem von einer totalitären Macht gewissermaßen Wort um Wort die Sprache verboten wird, bis ihm schließlich nur noch das eine Wort 'ja' zu sagen erlaubt ist. Dieser Konflikt Macht / Sprache, von Günter Eich in seiner berühmten, aber aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängten Büchner-Preisrede 1959 zum ersten Mal radikal diskutiert, wird von dem eine Generation jüngeren Dieter Kühn in vereinfachender Gradlinigkeit zum bitteren Ende durchgespielt. Fluchträume, auch die der sprachlichen Tarnung, will er seiner Spielfigur nicht mehr zugestehen. Hans Karl Heiser, lobte der evangelische Pressedienst "Kirche und Rundfunk" die Inszenierung:

Zitat

Hans Karl Heiser inszenierte die ohne Zweifel erregende Zwiesprache mit Hans-Jörg Felmy und Peter Lühr so schonungslos und konzessionslos, daß einem das anfangs aufkommende Lachen über die Ausweichversuche des bedrängten Normalbürgers in eine sprachliche innere Immigration bald verging.

Einspielung
Reduktionen

Autor

Was uns rückblickend an Dieter Kühns "Reduktionen" so wichtig ist, ihre Mischung von Sprachspiel in einem wörtlichen Sinne und Tendenz war trotz der späten Hörspiele Eichs für die damaligen Hörer augenscheinlich noch nicht recht faßbar. So jedenfalls ließe sich die Reaktion erklären, die sich in manchen negativen Pressereaktionen indirekt spiegelt. Zum Beispiel, wenn die "Ruhrnachrichten" Kühns Hörspiel als "aufdringlich belehrend und reichlich konstruiert" empfinden, wenn die "Rheinische Post" von "einem absurden Experiment" spricht, dessen Schlußblitz mit 75 Minuten Geduld zu teuer bezahlt sei. Immerhin spricht die "Rheinische Post" auch von einem "kühnen Wortexperiment" während die "Zeit" kritisiert:

Zitat

In diesem Hörspiel, bei dem es um Wörter geht und nicht um Worte, hätte man besonders darauf achten sollen, daß die Begriffe klar bleiben. Anscheinend haben weder der Autor noch die Leute beim Funk gemerkt, daß immer wieder "Worte" gesagt wird, wo "Wörter" gemeint sind. Ein Fehler war, daß große Längen im Text blieben. Sie wegzuschneiden, wäre keine Reduktion gewesen, sondern hätte diese sonst ausgezeichnete Sendung erheblich verbessert.

Autor

Diese Anregung hat die WDR-Dramaturgie aufgegriffen und bei späteren Wiederholungen des Hörspiel in einer verkürzten Fassung gesendet. Anders als Kühn, dessen Hörspiele konsequent aufeinander folgen, von einer klaren und aufsteigenden Linie, spricht etwa "Kirche und Rundfunk", erprobt Rainer Puchert fast in jedem neuen Hörspiel auch eine neue Dramaturgie, neue Spielformen. Vor allem er stand deshalb bald im Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzungen, nachdem der Westdeutsche Rundfunk 1961 mit "Das Appartmenthaus" das vierte Hörspiel Pucherts vorgestellt hatte.

Einspielung
Das Appartmenthaus

Autor

Die Zustimmung von Hörer und Presse waren nahezu einhellig. Sowohl für die von Puchert gewählte Form der "Momentaufnahme" wie für die Regie.

Zitat

Friedhelm Ortmann war bemüht, den einzelnen Steinchen dieses Mosaiks möglichst viel realistische Farben zu geben, auch für die Musik. Die winzigen Szenen haben nichts außerordentliches, aber das Mosaik , das Puchert aus ihnen errichtet, vermittelt einen sehr plastischen Eindruck vom Leben der Großstadt, aus deren Betriebsamkeit alles Menschliche verbannt zu sein scheint. Die Musikmontagen, die hier zum wesentlichen Bestandteil des Hörspiels werden, schuf Enno Dugend.

Autor

Daß Pucherts Wahl der Technik der addierten Momentaufnahmen aus einem ursprünglichen Interesse am Film resultiert, von hier ihren wesentlichen Impuls bekommen hat, dürfte in unserem Zusammenhang weniger interessant sein als die akustischen Variationsmöglichkeiten, die er dieser Technik in den folgen Hörspielen abzugewinnen versucht. In seiner dreiteiligen Bestandsaufnahme "40 Jahre Hörspiel im WDR" hat Klaus Schöning 1967 versucht, das formal spielerische Spektrum der Puchertschen Hörspiele nachzuzeichnen.

Einspielung

Schöning: Von den akustischen Collagen "Das Apartmenthaus" und "Porträt einer Flaute" über die in Sprach- und Assoziationspartikeln aufgelösten inneren Monologe, etwa in "Der Schaukelstuhl" und "Stiche", dem Sprach- und Geräuschexperiment Stumpf, die von der Kritik wegen der gewagt, gewollten Sprachvergewaltigung unterschiedlich aufgenommenen Travestie "Der große Zybilek".

Einspielung
Der große Zybilek

Autor

Nicht zuletzt Helmut Heißenbüttels Analyse dieses Hörspiels als einer sprachlichen Marionettenwelt, einer Sprachkunstwelt, die unmittelbar aus der Materialität der Sprache wirke, mag Klaus Schöning bewogen haben, den "Großen Zybilek" 1969 in seine Anthologie "Neues Hörspiel - Texte, Partituren" als einen frühen Beleg, als Vorstufe mit aufzunehmen. Wie dem immer sei, von Puchardts Hörspiel läßt sich der Bogen zum sogenannten "Neuen Hörspiel" jedenfalls ebenso schlagen wie von Dieter Kühns "Reduktionen. Vor allem, wenn man die noch modellhaftere "Sprachregelung" hinzunimmt, die Kühn 1970/71 schrieb, zu der die "Reduktionen" mehr als nur eine Vorform darstellen. Den rückblickenden Betrachter nimmt es ein wenig Wunder, daß ausgerechnet die umstrittenen Hörspiele Kühns nie in der inzwischen auf 43 Sendungen angewachsenen Reihe "Hörspiel in der Diskussion" Gegenstand der Diskussion waren. Die Reihe wurde am 19. März l964 mit einer Diskussion über Rainer Pucherts "Stiche" im WDR III eröffnet.

Einspielung Diskussion:

Sie wollen also Lindenblütentee?

Ich will keinen Lindenblütentee, absulut nicht, aber ich möchte mich nicht, wenn ich mich 8 oder 10 Stunden am Tag mit den Problemen dieses Daseins auseinandersetzen muß, auch noch abends nach einem bequemen Feierabend auch noch mit diesen psychopathischen Problemen auseinandersetzen, wie es hier zum Ausdruck kommt.

Ein ganz kleiner Einwand, Herr Vorwohl, dann müssen Sie 90% der Weltliteratur und Weltdramatik wegschmeißen.

Damit ist die Frage erledigt.

Es gibt ja auch die Auswahl zwischen mehreren Programmen. Die Auswahl hindert ja nicht diese eingeschlagene formal-technische Seite, die Herr Sauer eben hat anklingen lassen, daß sie fortgeführt wird in einer Form, die nicht eine allgemeine Zufriedenheit hervorruft der Sache gegenüber.

Aber es gibt ja nicht nur Leute, die Unterhaltung wollen.

Ja, das ist ja keine Unterhaltung, eine Thematik und Problematik ist ja insofern Unterhaltung, wenn man sich mit ihr auseinandersetzen muß. Wenn ich z.B. philosophische Gedankengänge vorgesetzt bekomme, mit denen ich mich auseinandersetzen muß, dann ist das für mich eine Unterhaltung, nämlich mit dem Grundgedanken - aber hier ist doch der Grundgedanke, daß ein Psychopath aufgelöst wird in Wortfetzen, und diese Wortfetzen dann zu einer Geräuschkonstruktion zusammengeführt wird und zum Schluß an sich kein Ergebnis zeitigt.

Ich möchte zunächst einmal sagen, ich glaube nicht, daß Herr Wolf ein Psychopath ist, dann möchte ich noch auf eins kommen, was Sie eben gesagt haben, wenn man de ganzen Tag über sich mit den Problemen und mit den Sorgen und Nöten auseinandergesetzt hat des Alltags und des Lebens, dann will man abends entspannt werden. Es ist aber die Frage, setzt man sich, wenn man in Sorgen und Nöten und Problemen drin steckt, mit ihnen auseinander? Ich meine, gerade bei den Spielen von Puchert geht es immer um Auseinandersetzung mit den Problemen von jedermann und indem man mit ihnen noch einmal konfrontiert wird, kommt es überhaupt erst zu einer Auseinandersetzung, zu der man sonst vielleicht gar nicht kommt. Das sind Fragen, die jeden doch irgendwie angehen.

Autor

Nachdem in Programm und Diskussion erst einmal der Anfang gemacht war, stießen bald auch weitere junge Autoren zur Kölner Dramaturgie. Über die ins Programm eingebrachte Spielbreite zog Klaus Schöning 1967 erste Bilanz:

Einspielung

Schöning: Bei einer Durchsicht des Spielplanes der letzten vier Jahre, also von 1963 bis 1967, fallen aus einer Vielzahl entdeckter junger Autoren vor allem auf: Konrad Hansen, Erasmus Schäfer, Peter Stripp, Paul Wühr, Günther Seuren und Theodor Weißenborn. Auch bei diesen Schriftstellern und bei dem einen, Erasmus Schöfer, ausgezeichnet mit dem Förderpreis der Kurt Magnus-Stiftung für sein Hörspiel "Der Picadon", und Peter Stripp kommt das zeitkritische Engagement, bei den anderen, Günther Seuren und Theodor Weißenborn, das formale Erperiment stärker zur Geltung, während Konrad Hansen die Linie des sogenannten "absurden Hörspiels" in einer neuen und bestechenden Variante fortsetzt, exemplifiziert in brillianter Dialektik Paul Wühr die Hörspielimmanente Möglichkeit des fast abstrakten Dialogs. Bemerkenswert erscheint dabei die Tatsache, daß die schriftstellerische Laufbahn von Günther Seuren und Theodor Weißenborn nicht mit dem Schreiben von Hörspielen begann, sondern daß sie sich bereits als Erzähler, Romanciers oder Filmtexter einen Namen in der literarischen Öffentlichkeit gemacht hatten.

Autor

Die Vielfältigkeit eines derartigen Hörspielangebots, die sich dieser Bilanz leicht entnehmen läßt, läßt sich auch einer zweiten informativen Sendereihe abhören, die in den Jahren 1965/66 eingerichtet wurde. Wie zuvor in den Programmheften, hatten jetzt in der Reihe "Junge Autoren im WDR" diese die Möglichkeit zur Selbstdarstellung, und Diskussion ihrer unterschiedlichen Hörspielkonzeptionen. Dabei ist auffallend, daß schon sehr früh Autoren unterschiedlichster Richtungen besonders auf die Sprache abstellen. So kommentiert bereits im Programmheft für das zweite Halbjahr 1962 Dieter Kühn:

Zitat

Das Hörspiel konzentriert sich auf die Sprache. Der erste Grund, warum ich mich auf das Hörspiel konzentriere. Nichts lenkt hier vom Wort ab. Der Hörer wird nicht mit kompletter Szenerie gesättigt. Seine Konzentration ist größer, weil ungeteilt zwischen optischen und akustischen Eindrücken; er ist aktiver. Vermutlich schreibe ich auch deshalb gerne Hörspiele, weil ich sie gerne höre. Schließlich ist die Sprache am lebendigsten, wo sie gesprochen wird, und so erscheint mir die Zukunft des Hörspiels hoffnungsvoll. Da in bescheidener Position mitwirken zu dürfen, fördert natürlich die Lust am Schreiben von Hörspielen. So ist jedes Hörspiel eine Antwort auf die Frage, warum ich Hörspiele schreibe.

Autor

Vier Jahre später stellt sich Erasmus Schöfer mit einer Reihe "Junge Autoren im Hörfunk" vor, dem er den dramatischen Titel "Hörspiel als Erfindung der Sprache" gibt. Radikaler als Kühn und gleichzeitig gattungsbezogener formuliert er:

Zitat

Das Hörspiel ist mehr als eine weitere Facette der Literatur. Es ist eine grundlegend neue Möglichkeit der Sprache. Die sogenannte Konkurrenz des Fernsehens für den Hörfunk hat das Hörspiel von dem Mißverständnis befreit, es sei Drama mit fehlender Optik. Sie hat es nicht notgedrungen in eine Enklave getrieben, wo es mühsam von den Rundfunkanstalten als kulturelles Aushängeschild am Leben gehalten, ein Dasein für Experten und Hörbesessene fristet, im Gegenteil, diese Konkurrenz hat die Erkenntnis seiner Eigenständigkeiten in der Theorie gefördert und in der Praxis zu jener Konzentration auf die dem Hörspiel wesentlichen formalen Regeln geführt, die seit einigen Jahren zu beobachten ist."

Autor

Wie die Hörspiele, so spiegelt auch fast alles, was sich aus diesen Jahren an Hörspieldiskussion und Selbstdarstellung und Kritik erhalten hat, in einem umfassenden Sinne die Krise, zunehmend aber nun nicht mehr die Stagnation , sondern die Entwicklung des Hörspiels aus dieser Krise heraus. Am markantesten ist in diesem Zusammenhang vielleicht die Vergabe des Hörspielpreises der Kriegsblinden an Peter Hirche.

Hirche zählt eigentlich nicht zu den WDR-Autoren. Sein Hörspielmanuskript "Miserere" war vielmehr erst nach einer Odyssee durch zahlreiche Dramaturgien der ARD nach Köln gelangt. Rückblickend will es scheinen, daß hier durch die eigene Situation geschärfte Augen erkannten, was andere Dramaturgen übersehen hatten: Die Neuansätze in diesem Hörspiel. Bereits Hirches Vorbemerkung zur Produktion von "Miserere" signalisiert sie und kann zugleich gelesen werden im Gegensatz zu einem Inszenierungsstil, wie er dominierend in den fünfziger Jahren entwickelt worden war.

Zitat

Das ganze Hörspiel, nicht nur der erste Satz, muß sehr schnell ablaufen - nur Bruchteile von Pausen jeweils, kein Ausspielen der Situationen, kein Sentiment, alles sachlich, beiläufig, gleichmütig, nichts bedeutungsvoll, eher eine gewisse Schnurzigkeit, keine Geräusche, außer den beiden im Text angegebenen, und natürlich keine Musik, keine Schritte, keine Türen, kein Klopfen usw. Das Kommen und Gehen der Personen soll angedeutet werden durch die Art, wie sie sprechen, allenfalls dadurch, daß sie lauter oder leiser werden.

Die beiden einzigen Geräusche sind also der durch den Text erklärte Lärm des abstürzenden Kronleuchters und im vierten Satz die Salve aus der Maschinenpistole; das Lachen der Kinder, das die vorhergehenden Szenen trennt, sollte dabei von Mal zu Mal so variiert werden, daß auch die Salve der Maschinenpistole wie eine weitere Variation in etwa wirkt. Keine Angst vor Kinderszenen; was bei Inszenierungen mit Kindern oft danebengeht, kann hier nur förderlich sein. Es sollen ja nicht Kinder dargestellt werden. Daß diese Texte von Kinderstimmen gesprochen werden, ist ein Mittel der Stilisierung oder wenn man so will, der Verzerrung. Vor allem, das Hörspiel enthält keine Aussage und keine Kritik. Das Hörspiel ist eine Darstellung, wenn man so will, in Form einer Collage. Die Stellungnahme des Autors liegt allein im Titel.

Autor

Eine genaue hörspielgeschichtliche Einordnung von "Miserere" ist schwierig. Auf keinen Fall stellt dieses Hörspiel jenen Tiefpunkt dar, den Reclams Hörspielführer behauptet. Ähnlich wie Eichs "Man bittet zu läuten" ist es vielmehr so etwas wie ein Zwischenglied zwischen dem Hörspiel der fünfziger Jahre im sogenannten Hörspiel der Innerlichkeit und dem sogenannten Neuen Hörspiel, das sich Ende der sechziger Jahre nachdrücklich in den Vordergrund spielt. In einzelnen Zügen dem Hörspiel der fünfziger Jahre sicherlich noch verpflichtet, weisen Eich im Spracheinsatz, Hirche vor allem formal auf dieses Neue Hörspiel voraus. Von einer Doppelfunktion des Hörspiels dem Hörer sowie auch seinem Autor gegenüber sprach der Intendant des Westdeutschen Rundfunks, Klaus von Bismarck, um dann eindeutig Partei für ein neue Wege und Formen suchendes Hörspiel und damit für die Hörspielarbeit der Kölner Dramaturgie zu ergreifen.

Einspielung von Bismarck:

Das Hörspiel hat also nicht nur selbstverständliche und verpflichtende Aufgabe, einen Service an seine Hörer zu erfüllen, sondern darüber hinaus muß es sich verpflichtet fühlen, den Autoren gegenüber, und gerade den Autoren gegenüber wach und aufgeschlossen zu sein, die neue Formen und Wege suchen; auch dann, wenn diese Bemühungen und dieses Ringen nicht immer sogleich und überhaupt nicht dem Geschmack des Publikums entgegenkommt. Es gibt keine Instanz, meine Damen und Herren, die einem Schriftsteller direkt oder indirekt diktieren kann, was er zu schreiben hat und was nicht. Man kann ihm auch nicht vorwerfen, daß er seinen literarischen Anspruch nach eigenen Maßstäben mißt, ganz egal, ob sein Bemühen von Erfolg gekrönt ist oder nicht. Eine Kunstform, die dem Künstler nicht mehr die Möglichkeit gibt zu experimentieren, auch zu protestieren, zu revoltieren, eine solche Kunstform gehört ins Museum. Soll das Publikum getrost protestieren, wo es ihm in der einen oder der anderen Form zuviel wird, das ist notwendig, wenn so Protest gegen Protest steht, ist dem Hörspiel wie jeder anderen Kunst die beste Chance gegeben, lebendig zu bleiben. Wenn der WDR seit zwei Jahren, seit 1964, in seinem III. Programm eine Sendereihe eingerichtet hat mit dem Titel "Hörspiel in der Diskussion", so drückt das auch die Absicht aus, in so direktem Kontakt mit den Hörern die Gefahr zu vermeiden, sich nur l'art pour l'art in einem elfenbeinernen Turm für sich selbst zu beschäftigen."

Autor

Wie schon von Bismarck, so setzt auch Hirche sich mit dem Vorwurf der Esoterik auseinander, um dann fortzufahren:

Zitat

Keine legitime Kunstform geht durch Nebenwege und Umwege an ein Ende, unzählige mögliche Richtungen machen im Gegenteil den Reichtum aus. Und was heute geschieht, wenn ich es richtig sehe, ist im Gegenteil ein Suchen nach neuen formalen Möglichkeiten, nicht aus Eitelkeit, sondern um der Verfeinerung willen. Jede Kunstform strebt nach immer größerer Freiheit, nach immer größerer Genauigkeit, beides schließt sich nicht aus: die größere Freiheit im Inhalt wird durch größere Genauigkeit der Form erträglich gemacht und größere Freiheit der Form ermöglicht größere Genauigkeit im Darstellen.

Autor

Wie weit trotz allem das Hörspiel "Miserere" noch rückgebunden war an das sogenannte Hörspiel der Innerlichkeit, erkannte vor allem vielleicht sein Regisseur Oswald Döpke, dessen eigenwilliger Inszenierung das Stück seine Auszeichnung sicherlich mitverdankt. Döpke hatte eine Stimme des Hörspiels, die Stimme Edmunds, mit Hannes Messemer besetzt.

Einspielung
Miserere

Autor

Gefragt nach dem Grund für diese eigenwillige Besetzung, antwortete Oswald Döpke Klaus Schöning in einem Gespräch 1967:

Einspielung Gespräch Schöning / Döpke

Döpke: Ja, ich kenne den Autor Peter Hirche seit vielen Jahren und kenne eine gewisse Gefahr, die in all seinen Stücken sichtbar ist, nämlich die Gefahr, ein bißchen zu romantisieren und zu sentimentalisieren, sich einer gewissen Wehmut hinzugeben, der in der gleichweise ein gewissermaßen dichterisches Flair seiner Stoffe, aber eben auch eine Gefahr liegt, und ich wollte durch eine betont unterkühlte virtuose Stimme wie die Messemers möglichst rasante Diktion durch ein schnelles Sprechtempo dieser Gefahr Hirches begegnen. Und Hirche war ja dabei und ich glaube, er war erstaunt, er hatte damit gerechnet, daß das Hörspiel 45 Minuten lang werden würde und es wurde dann 28, glaube ich, nicht wahr; denn es ist nicht so, daß mir daran lag, durch ein schnelles Sprechtempo den Hörern die Möglichkeit zu folgen, zu nehmen. Das war es nicht, aber ich wollte gegen diesen wehmütigen Überhang des Stückes angehen.

Schöning: Obwohl sich dieses Stück ja bemüht, sehr distanziert zu sein. Wir wissen, die Kinderszenen am Ende sind doch ein Versuch, hier ein gewisses Sentiment zu durchbrechen; oder sehen Sie das anders?

Döpke: Nein, das ist sicherlich richtig. Ich finde, daß diese Kinderszenen, wenn Sie mich nach meinem persönlichen Urteil fragen, das beste an diesem Hörspiel ist. Es ist großartig, wie er die Welt begreift als eine Welt, in der die Kinder bereits vorbereitet werden oder sich selber vorbereiten, böse Situationen, die der Erwachsenen so rechtzeitig durchzuspielen, daß sie sie dann als Erwachsene bereits perfekt beherrschen.

Autor

Oswald Döpke ist einer der vielen Regisseure, die Friedhelm Ortmann seinerzeit nach Köln holte. Andere Namen sind bereits in dieser Sendung genannt worden, und doch wäre ihre Liste unvollständig, würde man sie nicht um die Namen Roaul Wolfgang Schnell, Günther Sauer, Ludwig Krämer, Gustaf Burmester, um wenigstens die wichtigsten zu nennen, ergänzen. Sie alle stehen für eine Stilvielfalt der Inszenierungen, die seither die Hörspielprogramme des Westdeutschen Rundfunks auszeichnet. Diese Stilvielfalt nachzuzeichnen, versuchte eine neunteilige Sendefolge im Dritten Programm in den Jahren 1967/68 "Das Hörspiel und seine Inszenierung". Was diese Sendefolge noch nicht sehen konnte, läßt der historische Abstand erkennen, nämlich die befruchtenden Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Temperamenten der Autoren, der Formen und der Themenvielfalt der Stücke und den verschiedenen Handschriften ihrer Regisseure. Dadurch wurden Wechselwirkungen freigesetzt, die nicht zuletzt aus einer neuen Entwicklung des Hörspiels eine Entwicklung zum Neuen Hörspiel machten. Neben den eigenen Inszenierungen bot die schon genannte Reihe "Hörspiele anderer Sender" mit von 1963 bis 1967 insgesamt 59 Sendungen dem Interessierten eine umfassende Orientierungshilfe über das Hörspielschaffen anderer, auch ausländischer Rundfunkanstalten. Als Orientierungshilfe für den Hörer sind auch zahlreiche weitere im Dritten Programm eingerichtete Reihen zu verstehen. Sie sind seither ein Spezifikum der Kölner Dramaturgie. Seit 1965 im Programm, bündelten sie thematisch Hörspiele verschiedener Autoren unter Reihentiteln, wie "Der Mensch im Zeitalter der Technik" (1965), "Der totalitäre Staat und das Individuum" und "Jugend in unserer Zeit" (1966), "Der Krieg - Darstellungsversuche im Hörspiel" (1967), "Verlust der Identität" (1968). Thematisch versuchte die Reihe "Hörspiel des Absurden" (1966), aktuelle Hörspielentwicklung darzustellen. Vor allem einen gattungspezifischen Aspekt ging 1967 die Reihe "Der innere Monolog im Hörspiel" nach, während mit der von Helmut Heißenbüttel kommentierten Reihe "Experiment und Kritik der Sprache im Hörspiel" (1968) kurz vor dem Ausscheiden Ortmanns als Leiter der Hörspielabteilung Autoren des später sogenannten "Neuen Hörspiels" zum ersten Mal vorgestellt wurden. Alle diese Reihen boten aber nicht nur für den Hörer thematisch formale Orientierungshilfen, sie boten zugleich der Dramaturgie Möglichkeiten, Hörspiele der von ihr geförderten Autoren mit Hörspielen anderer Anstalten der ARD und des Auslands in thematische Zusammenhänge zu stellen und so sich, den Autoren und den
Hörern des Westdeutschen Rundfunks Vergleichsmög1ichkeiten zu schaffen. Neben diesen Reihen, für die Kommentatoren wie Martin Esslin, Ludwig von Friedeburg, Alfred Kantorowitz, Alfons Silbermann, Paul Schallük gewonnen werden konnten, richtete sich außer einem grundsätzlichen Interesse am Hörspiel des Auslands, das in exemplarischen Beispielen zweisprachig, in Originalsprache und Übersetzung vorgestellt wurde, das Hauptaugenmerk Ortmanns auf das finnische und osteuropäische Hörspiel, vor allem auf das der CSSR sowie auf das Hörspiel von Radio DDR. 1967 kann "Kirche und Rundfunk" feststellen:

Zitat

Mehr und mehr differenziert sich unser Bild vom Hörspielschaffen in den Ländern Osteuropas. Nicht zuletzt dank der intensiven Bemühungen des Westdeutschen Rundfunks, überall die besonderen und eigenartigen Leistungen aufzuspüren, um sie den Hörern hierzulande zugänglich zu machen.

Autor

Nicht ganz unbeteiligt am Programmaustausch mit Radio DDR ist ein in diesen Jahren wichtiger, bisher noch nicht genannter Hörspielautor, Horst Mönnich. Von ihm inszenierte Ortmann u. a. 1964 eine vierteilige Hörspielfolge "Der vierte Platz". An sie, an ihren po1itischen Stellenwert, an die Zusammenarbeit mit Horst Mönnich erinnert sich Ortmann im Gespräch:

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Und er erzählte mir diesen Stoff, den ich also sehr faszinierend fand, die Geschichte von der Suche nach den Kindern nach den durch die Kriegsereignisse verloren gegangenen Kindern, und dieser Stoff, so wurde uns sehr bald klar, bekam nur Gewicht, wenn er in einer gewissen Breite vorgestellt wurde. Nun, so kam das zustande und dann wurde es ja auch damals eine große Gemeinschaftsproduktion, die ARD-Sender schlossen sich ja an und für mich entscheidend eigentlich war, im Rückblick, und wir haben es ja vor zwei Jahren wiederholt, weil die letzte Sendung "Im Kreidekreis" eigentlich damals von Mönnich aus einer Überlegung geschrieben worden war oder wo er einen Standpunkt bezog, der damals durchaus noch nicht aktuell war, sondern erst später durch Willy Brandt erst seinen Ausdruck fand, nämlich die Akzeptierung von Geschichte auch. Das nämlich, muß ich sagen, ist auch heute noch wichtig und der Programmaustausch mit Radio DDR, der dann auch stattfand, übrigens auch durch Mönnich angeregt wurde, war uns auch wichtig, weil wir da auch mal sagten: Was macht Ihr denn? Oder. Was machen wir? oder so. Das war damals ein wenig mühsam, denn wir stießen auch auf Schwierigkeiten, wurden aber durch unseren damaligen Programmdirektor und unseren damaligen Intendanten so stark unterstützt, daß wir das wirklich machen konnten. Und auf diese Weise kam Rolf Schneider zum Beispiel, wurde Rolf Schneider in der Bundesrepublik bekannt, durch seine Arbeit, wie er dann auch für uns schrieb; er hat ja dann auch den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhalten.

Autor

Hören Sie eine kurze Sequenz des ausgezeichneten Hörspiels "Zwielicht".

Einspielung
Zwielicht

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Allerdings ist dieses Hörspiel nicht auf dem Wege des Programmaustausches gesendet, sondern von Schneider direkt für eine westdeutsche Rundfunkanstalt geschrieben worden. Über den Programmaustausch lief sein Hörspiel "Das Gefängnis von Pont Iaevec" (1966), eine Gaunerkomödie aus der Normandie, der der Westdeutsche Rundfunk noch im gleichen Jahr in einer Eigenproduktion das gesellschaftskritisch angelegte Hörspiel "Ankunft in Weilstätt" folgen ließ. Weitere DDR-Autoren, die über den Programmaustausch den westdeutschen Hörern vorgestellt wurden, waren Manfred Bieler und Jörg Dost, während von den jungen Autoren des WDR von Radio DDR übernommen wurden: Dieter Waldmann, Erasmus Schöfer und Rainer Puchert. Zu diesem mit Mühe geknüpften Kontakt, der die Jahre 1966/67 nicht überdauerte, wurden selbstverständlich kritische Stimmen laut, die sich ebenso gegen die Sendung von Hörspielen von Radio DDR im Westdeutschen Rundfunk richteten, als auch gegen die Sendung von Hörspielen westdeutscher Autoren in der DDR. U.a. mit der Begründung, daß in der ostberliner Auswahl der WDR-Hörspiele eine propagandistische Tendenz zu erkennen sei. Dagegen und grundsätzlich hatte bereits das Programmheft 1966 angemerkt:

Zitat

Der im vergangenen Halbjahr mit Rolf Schneiders Hörspiel "Das Gefängnis von Pont Levec" eingeleitete Programmaustausch zwischen der Hörspieldramaturgie von Radio DDR und der Dramaturgie des WDR hat eine Welle der Zustimmung ausgelöst. Wie zu erwarten war, gab es auch einige kritische Stimmen, die sich dagegen wandten und den Austausch für überflüssig hielten. Die Einwände vermögen uns nicht zu überzeugen. Es scheint uns wichtig, mit unseren Landsleuten ins Gespräch zu kommen. Wir sehen keinen Grund, aus diesem Gespräch unsererseits irgendwelche Themen auszuklammern, über die wir hierzulande freimütig diskutieren können.

Autor

Von größerer Dauer und schon früher zustande gekommen, waren wechselseitige Kontakte und fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Tschechischen Rundfunk, der Hörspieldramaturgie in Prag, die durch eine Reiseinitiative Ortmanns wesentlich gefördert wurden.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Wir bekamen immer Manuskripte sporadisch aus der Tschechoslowakei von Autoren. Die Stücke hatten eine seltsame Faszination, aber wir dachten: Verflixt noch mal, wir müßten doch einmal hinfahren, wir müssen jemand kennenlernen. Das war 1962/63, wo also der Eiserne Vorhang ganz dick war. 1963 war es. Und da sind wir einfach hingefahren. Und daraus hat sich ein wunderbarer Kontakt entwickelt, auch mit den Kollegen selbst, die am Sender waren, muß man sagen. Und auf diese Weise zum Beispiel kam ein Hörspielautor von ganz hohem Range Ptacek, dessen Hörspiele wir ja fast alle hier gesendet haben, und dann kam es auch dazu, daß dieser schöne und fruchtbare Kontakt, er hatte zur Folge, daß wir dann eingeladen wurden. Der Oswald Döpke hatte von Peter Hirche "Miserere" in Tschechisch gemacht. Ich wurde eingeladen, um von Horst Mönnich "Am Ende des Regenbogens" zu machen. Das war mir sehr wichtig, ich muß sagen, diese Öffnung nach drüben war uns allen sehr wichtig.

Autor

Die Schlußsequenz aus Ptaceks zweitem Hörspiel, das der Westdeutsche Rundfunk 1966 zur Erstsendung brachte, "Schnecke am Trapez", soll die eine Seite dieser Zusammenarbeit belegen.

Einspielung
Schnecke am Trapez

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Auf der anderen Seite dieser Zusammenarbeit steht aber nicht nur ein bis ca. 1969 andauernder Manuskriptaustausch, sondern die Beteiligung der Kölner Damaturgie am Internationalen Hörspielwettbewerb von Radio Prag 1966. Der Tschecboslowakische Rundfunk hatte ost- und westeuropäische Sender eingeladen, je drei ihrer wichtigsten Hörspielproduktionen der letzten Zeit einzureichen. Unter den zwölf von einer Vorjury ermittelten Arbeiten, die dann in tschechischer Sprache produziert wurden, befanden sich mit Peter Hirches "Miserere", Horst Mönnichs "Am Ende des Regenbogens" und Peter Stripps "Am Sonntag" gleich alle drei vom WDR eingereichten Hörspiele. Sowohl bei der Vorjury wie bei der Preisvergabe erreichten sie ausgezeichnete Plazierungen. Der einzige und erste Preis ging schließlich an Hirches "Miserere".

Das letzte Hörspielzitat der heutigen Revue soll schließlich einen für Friedhelm Ortmann sehr wichtigen Autor vorstellen, Horst Mönnich, von seinen Hörspielfolgen und Hörspielen scheint uns "Am Ende des Regenbogens" rückblickend am wichtigsten, zumal es im deutschsprachigen Bereich wohl das erste Beispiel eines medienkritischen Hörspiels ist. Über die speziellen Probleme, vor die sich die Regie in einem Fall gestellt sah, berichtet Ortmann:

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

In "Am Ende des Regenbogens" war die Aufgabe, darzustellen, daß Leute am Bahnhof ankommen und sie sind verblüfft, weil also da Tausende von Menschen dastehen und ihnen zujubeln. Sie wissen überhaupt nicht, warum, und werden jetzt, wie also der Karnevalsprinz durch die Stadt gefahren, zu ihrem Haus, wo ihrer ein besonderes Ereignis harrt. Nun, diese Fahrt durch die jubelnde Menschenmenge nun darzustellen, ist sicher ganz einfach, indem man sagt, ja, dann fahren wir einfach mal durch, mit dem Auto oder wie auch immer, aber wie ist es künstlerisch zu fassen. Das ist die Frage. Außerdem war "Der Regenbogen" gedacht als eine sehr kritische Auseinandersetzung mit dem Medium Fernsehen und gegen diese Vermittlung von Glücksvorstellungen, die da so suggeriert werden, also, das ist eine kritische Sache, und da war dem Autor eingefallen, daß er plötzlich, um das auch klarzumachen, wie also der Apparat der Kameras zum Beispiel gnadenlos reagiert, auf die Gesichter geht und da die Träne trifft und so etwas. Was ich textlich formulierte in Kommandos, wie man das nun jetzt auffängt, nicht wahr, und das technisch behandelt, da sind dann eben halt Sachen gefunden worden, die Verbindung, was heute eine Kleinigkeit wäre, durch die Synthesizer und was weiß ich, was ja damals jedenfalls wir noch nicht hatten, dadurch bekam dieser Durchgang eine künstlerische Überhöhung mit Hilfe von Technik und in dem Falle ganz richtig, wie Sie eben sagten, Tricks.

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Gleichsam als Illustration dieser Werkstattäußerung jetzt die entsprechende Sequenz des Hörspiels.

Einspielung
Am Ende des Regenbogens

Autor

Der Überblick über die Entwicklung der Hörspielarbeit des WDR von 1960 bis 1968 wäre unvollständig, ohne die Erwähnung der Hörspiele in rheinischer und westfälischer Mundart, die einer Umfrage zufolge von fünf Prozent der Hörer regelmäßig gehört wurden. Diese Sendungen in der redaktionellen Verantwortung von Fritz Peter Wari für die rheinischen und Wolfram Rosemann für die westfälischen Hörspiele bildeten nach nahezu zwei Jahrzehnten immer noch einen festen Bestand im Gesamtprogramm.

Als Friedhelm Ortmann 1968 seine Arbeit als Leiter der Hörspielabteilung niederlegte, hatte er zusammen mit seinen Mitarbeitern der Dramaturgie Traute Wach, Hans-Gerd Krogmann und Klaus Schöning, Drittes Programm, seit 1966 von Dr. Paul Schultes in der Leitung, seit 1967 von Klaus Mehrländer in der Produktion unterstützt, eine Abteilung in der Größe und Bedeutung aufgebaut, die ihn immer häufiger vor die Alternative Schreibtisch oder Studio stellte.

Einspielung Gespräch Ortmann / Döhl

Eine gewisse Arbeit ist abgeschlossen und dann kam etwas ganz Entscheidendes hinzu, ich entdeckte plötzlich, daß mich der Schreibtisch anfing aufzufressen und das drückte sich in ganz lapidaren Zahlen aus, denn ich meine, ich komme vom Theater und ich möchte auch immer Theater machen als Äquivalent und stellte dann plötzlich fest, daß ich ~ 1966 sechs Theaterinszenierungen nicht machen konnte, wo ich dann in mich gegangen bin und gesagt habe: Was ist nun, bist Du in erster Linie Regisseur oder Abteilungsleiter usw."

Daß Ortmanns Ausscheiden als Leiter der Hörspielabteilung, seine Übergabe der Leitung an Dr. Schultes dann 1968 fast nahtlos verlief, hatte mehrere Gründe. Zunächst einmal blieb Ortmann dem Westdeutschen Rundfunk als Regisseur erhalten. Sein Nachfolger Dr. Schultes konnte ferner ein eingearbeitetes Team von Mitarbeitern übernehmen, in dem jeder seine eigenen Verantwortlichkeiten hatte und erfüllte. Ein Mitarbeiterteam, daß es bei der immer noch wachsenden Abteilung nun möglichst reibungslos zu erweitern galt. So wurde möglich, daß zum ersten Mal die Kontinuität der Hörspielentwicklung über eine Phase der Kölner Dramaturgie hinaus gesichert war. Dabei hatte die gemeinsame Arbeit in der vierten Phase gleichsam von einem Punkt Null 1960 begonnen, das Hörspiel aus der Krise auf ein internationales Niveau und bis zum sogenannten Neuen Hörspiel geführt, das es im Übergang zur fünften Phase der Kölner Dramaturgie 1968 nur noch zu entwickeln galt. Anders als unter Ernst Hardts Leitung ist diese Entwicklung nicht nur von einem Stil geprägt, hat sich vielmehr im Wechselspiel zwischen Dramaturgie und Regie, zwischen Regisseur und vor allem jungen Autoren, aber auch in der Diskussion mit dem Publikum ein Stilpluralismus herausgebildet, der dem Hörspiel eine erstaunliche Vielfalt für eine weitere Entwicklung ermöglichte.

WDR III, 19.12.1977