Reinhard Döhl | Das Neue Hörspiel im ARD-Spielplan 1969. Stichproben
Gebärklinik.
Sprecher: Solange es Kinder gibt, wird es Kinder geben.
5 schreiende Säuglinge Pos. 1-5.
Chor der 5 Schwestern Pos. 1-5.
M1-M5 (als Väter) Pos. 1-5.
Geschrei der 5 Säuglinge, durchlaufend bis Szenenschluß.
Chor (routinemäßig): Ein Sohn, ein schöner Sohn!
M 1 (gelassen): Aha.
M 2 (ebenso): Aba.
M 3 (ebenso): Aha.
M 4 (ebenso): Aha.
M 5 (ebenso): Aha.
(Geschrei der Säuglinge dauert noch einige Momente unvermindert an, dann jähes Abbrechen, kein Fade-out.) (1)
Mit dieser Sequenz beginnt Ernst Jandls und Friederike Mayröckers Hörspiel "Fünf Mann Menschen", das, 1968 vom Südwestfunk produziert und gesendet, 1969 mit dem renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet und infolgedessen von den meisten Rundfunkanstalten der ARD, dem Rias-Berlin und dem Deutschlandfunk wiederholt wurde. Was den deutschen Hörspielhörern damit in einer nicht vorhergesehenen Verbreitung angeboten wurde, war von der Jury in bemerkenswerter Mehrheit allen anderen Einsendungen vorgezogen worden:
"Die Jury, die in Baden-Baden tagte, entschied sich für diese nur 14 Minuten dauernde Sendung fast einstimmig, nämlich mit 17 von 18 Stimmen. Bei Schluß der Beratungen stand noch das Hörspiel "Ein Blumenstück" von Ludwig Hang zur Wahl, produziert vom Saarländischen Rundfunk (gemeinsam mit dem Hessischen und dem Süddeutschen Rundfunk sowie mit dem Südwestfunk). Begründung des Entscheides:
Ernst Jandl und Friedrike Mayröcker, die als Repräsentanten experimenteller Lyrik bekannt geworden sind, haben zusammen mit dem Regisseur Peter Michel Ladiges zum ersten Male im Hörspiel die Möglichkeiten konkreter Poesie beispielhaft eingesetzt. Sie zeigen exemplarische Sprach- und Handlungsvorgänge, in denen der zur Norm programmierte menschliche Lebenslauf nicht abgebildet, sondern evoziert wird. Dabei nutzen und meistern sie die Möglichkeiten der Stereophonie. Die Sprache ist für die Autoren Material, mit dem sie spielen und zugleich eine unmißverständliche Mitteilung machen, die unsere Zeit ebenso betrifft wie trifft."
Hörspiel und Entscheidung der Jury fanden erstaunlich breite Zustimmung, galten als "Bestätigung einer neuen Funk-Richtung, die sich vom eingebürgerten Hörspiel prinzipiell" unterscheide. "Mit 'Fünf Mann Menschen' beginnt eine neue Ära", attestierte gar Springers "Die Welt". Und intern kommentierte die "Funk-Korrespondenz" diese hörspielgeschichtliche Weichenstellung:
"Die Auszeichnung (...) verdient einiges Aufsehen. Es wird hier im richtigen Moment der Durchbruch einer Art von Hörspielen markiert, die das Zuhören auf eine neue Art reizvoll macht. Was aus den sorgfältigen Formulierungen der offiziellen Begründung nicht unbedingt hervorgeht: dieses Viertelstundenspiel ist amüsant. Es hat etwas von dem Appeal und der Leichtigkeit der Beat-Generation. Pointen ergeben sich aus listig verdrehten Sprachklischees, es herrscht der Pop. 'Fünf Mann Menschen' kontrastiert kraß zum Hergebrachten. Nichts hat es mehr zu tun mit der Fortsetzung der Literatur im anderen Medium, mit dem alten realistischen Geschichtenerzählen oder mit den symbol- und mysterienbeladenen Sprachkunstwerken, die neben Bewunderung allzu häufig auch Unbehagen erregten. Die Entscheidung der Hörspieljury ist progressiv. Sie bedeutet eine Abwendung von den literarischen Treibhausgewächsen."
Es ist nützlich, sich diese anfängliche Zustimmung und Einhelligkeit einmal zu verdeutlichen, da sie sehr schnell hinter einer heftigen, zum Teil sogar unfair geführten Kontroverse um das Neue Hörspiel in Vergessenheit gerieten. Auch wird der Chronist nicht überlesen dürfen, daß die Funk-Korrespondenz von einem "Durchbruch" im "richtigen Moment" spricht. Denn "Durchbruch" meint ja, daß etwas vorhanden sein muß, das durchbrechen kann, das diskutiert und in seinen historischen Bezügen neu befragt werden will. Diese historischen Bezüge aufzuzeigen, historische Spurensicherung sind von Anfang an Aufgabe unserer Sendefolge "Versuch einer Geschichte und Typologie des Hörspiels in Lektionen" gewesen, die zum ersten Mal 1969 mit der WDR 3-Hörspielstudio-Redaktion besprochen und als notwendig verabredet wurde. Während sie damit ins Nachspiel des ARD-Spielplans von 1969 rückt, sind Ernst Jandls / Friederike Mayröckers "Fünf Mann Menschen" direktes Vorspiel. Zu diesem Vorspiel zu rechnen ist ebenfalls das in der Begründung der Jury ausdrücklich genannte "Blumenstück" Ludwig Harigs, der bereits 1966 mit seinem ebenfalls beim Saarländischen Rundfunk produzierten "Fußballspiel" deutlich auf dem Wege des Neuen Hörspiels war. Auch Harigs "Blumenstück" verzichtet auf jedwede Form von Fabel, von Handlung, ist sprachliches Spiel mit den Möglichkeiten der Stereophonie, in Harigs eigenen hintersinnigen Worten
"ein gebinde aus blüten, die die deutsche sprache im zustand der naturseligkeit getrieben hat. kinderlieder, kinderspiele, abzählreime, zitate aus märchen, lese- und naturkundebüchern und stellen aus dem tagebuch des auschwitzkommandanten rudolf höß ranken sich um eine permutationskette, die aus namen von blumen, die auf der rampe wachsen, gebildet ist," (2)
aus der sich langsam und vom Hörer zunächst kaum bemerkt das Ungeheuerliche, das Unmenschliche herausfiltert.
1. SPRECHER
ich kann es nicht erzählen
ich hab's aufgeschrieben
ich weiß es genau
KINDER
komm doch mit
über die felder
über die wege
an den häusern vorbei
siehst du die leute
die tiere sind im stall
überall sind blumen
1.SPRECHER
da war eine rampe
ein altes abstellgleis
zwischen den schwellen blühten im frühling
die blumen. (3)
Und noch ein drittes Hörspiel gehört ins direkte Vorfeld des Spielplans von 1969, Peter Handkes 1968 vom Westdeutschen Rundfunk produziertes Hörspiel "Hörspiel". Der Titel ist weniger programmatisch gemeint als er klingt und gelegentlich aufgefaßt wird. Er steht gleichsam als Kürzel für das Verhörspiel, das da gespielt wird, wobei auch hier aus dem Spiel zunehmend Ernst wird.

Wie Jandl/Mayröckers "Fünf Mann Menschen", die in der Bündelung von Lebensläufen durchaus ihre Vorgänger haben, wie Harigs "Blumenstück", das in der Tradition von Spielen gehört werden muß, die nationalsozialistische Massenvernichtungslager und Ausrottungspolitik thematisieren, läßt sich auch Handkes "Hörspiel" in den größeren Zusammenhang spielerischer Verhöre einfügen, der von Hans Kysers "Prozeß Sokrates" über Anna Seghers "Der Prozeß der Jeanne d'Arc zu Rouen", Bertolt Brechts "Das Verhör des Lukullus" bis zu Friedrich Dürrenmatts "Die Panne", Jan Rys' "Verhöre", Dieter Kühns "Präperation eines Opfers" fächert. Und zugleich unterscheidet es sich wie "Fünf Mann Menschen" und "Ein Blumenstück" von allen Vorgängern durch die Radikalität, mit der auf sprachliche Vorgänge reduziert wird.

Nicht mehr "über etwas" handeln diese Hörspiele, sondern "mit der Sprache selber" wird "eine Wirklichkeit" hergestellt, "in der etwas von der außersprachlichen Wirklichkeit erkennbar wird" (Jürgen Becker). Entsprechend haben die von Handke für das "Hörspiel" vorgesehenen Geräusche auch keine illustrierende, vielmehr kompositorische Funktion, dienen sie in der Realisation
Heinz von Cramers zur dialektischen Ergänzung des Textes.

"Die Geräusche sind real wie die Sprache, aber in dem Maße, wie die Sprache aus realen Situationen gelöst ist und allenfalls die Erinnerung an Reales weckt, sind auch die Geräusche von ihren realen Funktionen abstrahiert, verweisen sie die Phantasie auf das, was in der Welt der Geräusche an Hörbarem möglich ist. Eine von sprachlichen Vorgängen vollends abgelöste Geräuschkomposition wäre eine Konsequenz, die hier bereits angedeutet wird." (4)
In das Vorfeld des ARD-Spielplans 1969 gerechnet werden muß schließlich noch die Frankfurter "Internationale Hörspieltagung" der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Verbindung mit dem Hessischen Rundfunk. Auf ihr stellte Helmut Heißenbüttel im März 1968 dem Hörspiel erneut das "Horoskop", referierten u. a. Werner Spies über das Hörspiel der Nouveau Romanciers, Jyrki Mäntylä über "Zwei finnische Experimente", Paul Pörtner über "Schallspiele und elektronische Verfahren im Hörspiel" und Heinz Hostnig über Erfahrungen mit dem Stereo-Hörspiel beim Saarländischen Rundfunk.

Vor allem der Saarländische Rundfunk war es auch, der seine relativ frühen Möglichkeiten, stereophon zu produzieren, zu Gesprächen mit Autoren nutzte und bereits 1966 auf den "tagen für neue literatur" in hof, die wesentlich der experimentierenden und konkreten Literatur vorbehalten waren, am Rande der Lesungen und Veranstaltungen den anwesenden Autoren die Stereophonie als technische Realisationsmöglichkeit für ihre Texte anbieten konnte. So gesehen war das Frankfurter Referat Hostnigs auch eine erste Bestandsaufnahme, bei der Wolf Wondratscheks "Freiheit oder ça ne fait rien" und Wolfgang Weyrauchs "Ich bin einer ich bin keiner" (beide 1967) neue Hörspielansätze erkennen ließen, die - um weitere Produktionen nun auch anderer Sender vermehrt - im Oktober 1968 Klaus Schöning veranlassen, in einer Sendung des 3. Programms des WDR nach "Tendenzen im Neuen Hörspiel" zu fragen, womit auch die Bezeichnung, der Name gegeben war.

Bis Ende 1968 praktisch noch ante portas, kam es 1969 - wesentlich gefördert durch die Vergabe des Hörspielpreises der Kriegsblinden an Jandl/Mayröckers "Fünf Mann Menschen" und die lobende Erwähnung von Harigs "Ein Blumenstück" - im
Spielplan der ARD und parallel zu ihm zu einem erstaunlich breiten und folgenreichen Durchbruch. Zwar bleiben zunächst noch der Saarländische Rundfunk und zunehmend der Westdeutsche Rundfunk, zu denen sich der Südwestfunk gesellt, federführend und prägend, doch hängen sich zunehmend auch andere Anstalten an einzelne Produktionen an und verhelfen so den Neuen Hörspielen zu einer schnellen und weiteren Verbreitung.

Verbreitung und Diskussion wurden vor allem innerhalb des WDR3 Horspielstudios flankiert von Gesprächen mit den Autoren und Regisseuren, von sogenannten Arbeitsberichten, durch kommentierte Reihen wie "Rekonstruktionen" (Jürgen Becker), "Klischees und Modelle" (Helmut Heißenbüttel), "Dokumente und Collagen" (Heinrich Vormweg). Einzelne umfänglichere Radio-Essays versuchten auch außerhalb der Hörspielprogramme den Hörer zu informieren, so Hansjörg Schmitthenner in einer zweiteiligen Sendung "Wortspiele - Schallspiele. Vorstellung und Analyse der experimentellen Radio-Kunst" im Süddeutschen und Hessischen Rundfunk.

Daß die Sendung, aber auch die Analyse der Neuen Hörspiele zunächst eine Frage der Plazierung, der Möglichkeit, stereophon zu senden, war, läßt sich z.B. dem ersten Halbjahresprogramm 1969 des Norddeutschen Rundfunks ablesen.

"Der Unterschied zwischen den Stücken, die wir im 1., und denen, die wir im 3. Programm bringen, ist nicht mit letzter Genauigkeit zu definieren. Während über die Mittelwelle, die wir gemeinsam mit dem WDR ausstrahlen, vorwiegend literarisch repräsentative Werke kommen, werden im 3. Programm hauptsächlich experimentelle Texte vorgeführt. Doch ebenso wie hier eine pedantische Abgrenzung ohne schädlichen redaktionellen Zwang nicht möglich ist, muß es (allerdings aus technischen Gründen) noch eine andere Art von Inkonsequenz in unseren Programmen geben: Stereohörspiele, repräsentative wie experimentelle, werden nur im zweiten Programm zu hören sein , weil Stereosendungen vorerst ausschließlich dort durchgeführt werden können."
Andere Sender diskutierten die von ihnen produzierten oder übernommenen Neuen Hörspiele - soweit kein 3. Programm vorhanden war - gezielt, wie der Bayerische Rundfunk, im "Nachtstudio":
"Mit der neuen Kategorie der Radiokunst, den Schall- und Klangspielen verschiedener Autoren, die auf vielfältige Weise experimentierend aus dem 'Material' der Sprache Lautgebilde komponieren, und mit der Frage, ob sich das Hörspiel nicht erst jetzt zu einer mit nichts anderem zu vergleichenden Kunstform entwickelt, befassen sich im Zusammenhang mit dem Hörspielprogramm drei Sendungen des Nachtstudios."
Auch der Südwestfunk sendete die von ihm produzierten, coproduzierten oder übernommenen Neuen Hörspiele zweimal im Monat in einem "Hörspielstudio" mit 21 Uhr zu einem relativ späten Termin, bot dabei aber seinen interessierten Hörern im Laufe des Jahres einen beachtlichen Querschnitt, für den er immerhin rund ein Fünftel seiner Sendezeit einsetzte. Ähnlich liegt der Fall beim Sender Freies Berlin, der das Neue Hörspiel zunächst nur als Co-Produzent, allerdings bei gewichtigen Inszenierungen beliefert. Als Produzent und Co-Produzent Neuer Hörspiele muß schließlich noch der Süddeutsche Rundfunk genannt werden, der redaktionelle Beiträge der Hörspielabteilung außerhalb seiner Hörspieltermine auch "in unregelmäßigen Abständen (...) im "Studio für Neue Literatur" zu später Zeit senden konnte.

Aus diesem Konsens, das Neue Hörspiel, seine Spielformen und Absichten zunächst erst einmal vorzustellen, gegebenenfalls zu kommentieren, bricht auffälligerweise der Norddeutsche Rundfunk im letzten Jahresdrittel 1969 aus. Bis dahin war er als Produzent überhaupt nicht und als Co-Produzent nur ausnahmsweise in Erscheinung getreten, hatte allerdings Beispiele des Neuen Hörspiels in größerer Menge und repräsentativer Auswahl "zur Diskussion gestellt". Im letzten Jahresdrittel dient jetzt das 3. Programm

"ausschließlich der Wiedergabe solcher experimenteller Hörspiele, wie sie im letzten Jahr mit größerem Gültigkeitsanspruch als bisher aufgetreten sind. Unsere Hörer sollen sich über die Berechtigung dieses Anspruchs selbst ein Bild machen können. Die Serie trägt den Titel: 'Das Neue Hörspiel - eine Inventur'. Die einzelnen Stücke werden ergänzt durch zum Teil polemische Kommentare und Formanalysen."
Diese "Inventur" des Norddeutschen Rundfunks hat ihre inzwischen historische Bedeutung vor allem darin, daß sie bei ihrem Versuch, "die Problematik des Neuen Hörspiels als Sprachentlarvung und Sprachspiel deutlich" zu machen, Mißverständnisse und Fehleinschätzungen, wie sie in den Jahren 1968/1969 vor allem das Hörspielwerk Günter Eichs erfuhr, nun ihrerseits - und ohne Eich richtiger zu verstehen - durch Mißverständnisse der inhaltlichen und formalen Intentionen des Neuen Hörspiels beantwortet. Besonders deutlich wird dies bei Friedrich Knillis Kommentar zu Ferdinand Kriwets "Oos is Oos", einer Produktion des Südwestfunks aus dem Jahre 1968.

Zur besseren Einschätzung dieses Kommentars muß vorausgeschickt werden, daß Knilli 1961 in einem Bändchen "Das Hörspiel" nicht nur nach "Mitteln und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels" gefragt hatte, sondern sich mit seinen Thesen zugleich in die Gegenposition zu Schwitzkes Auffassung vom literarischen als dem eigentlichen Hörspiel gesetzt hatte.

Für Knilli ist das Neue Hörspiel jetzt ein Produkt der 3. Programme, gespielt von einer "neuen Hörspielmannschaft", die sich zusammensetze aus

"den Redakteuren Hanspeter Krüger, Peter Faecke, den Dramaturgen Johannes M. Kamps und Klaus Sch"öing, der auch Regie macht, den Autoren Jürgen Becker, Bazon Brock, Peter Handke, Gerhard Rühm, Franz Mon, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Ludwig Hang, Paul Pörtner, Wolf Wondratschek, Ferdinand Kriwet und den Regisseuren Heinz von Cramer, Peter Ladiges, Raoul Wolfgang Schnell. In diesem großen Lager des Neuen Hörspiels hat der Hörspielleiter und Regisseur Heinz Hostnig (Saarländischer Rundfunk) die Rolle des Rädelsführers übernommen und der Lyriker und Nachtprogrammredakteur Helmut Heißenbüttel (Stuttgart) spielt den Schutzbeiligen, Seher und Deuter, eine Rolle, die ich ja eigentlich auch zu mimen hätte, denn nicht zuletzt bin ich einer der Erfinder dieses Neuen Hörspiels. Aber diesen Part kann ich schon lange nicht mehr sprechen, denn ich habe sehr bald feststellen müssen, daß im Neuen Hörspiel alles beim alten geblieben ist, und da täuscht mich weder der Großeinsatz radiophoner Maschinerie noch die Massierung linguistischer Theorie. Das Neue Hörspiel ist genauso reaktionär wie das alte Hörspiel. Seine Autoren reagieren bloß auf Politik. Sie verstehen sich als freie Schriftsteller, parteilose Literaten und literarische Übermenschen, spezialisiert auf die Entlarvung politischer Rede, wissend, was gute und schlechte Rede ist, wahre und falsche, schöne und häßliche, sie sind die Entdecker der neuen schönen Welt der neuen schönen Sprachmuster, sind die Spießer der siebziger Jahre. Ihre Heimat ist der Supermarkt der Kulturindustrie." (5)
Knillis Polemik disqualifiziert sich durch ihre Pauschalität selbst, muß aber in einer Darstellung des ARD-Spielplans von 1969 zitiert werden als exemplarischer Beleg zahlreicher Anwürfe, denen sich das Neue Hörspiel bei seiner schnellen Verbreitung alsbald von verschiedenen Seiten ausgesetzt sah. Sie muß zweitens zitiert werden, weil sie eine Position zurücknimmt, die hörspielgeschichtlich von Bedeutung war, obwohl sie in der Einschätzung der Hörspielgeschichte fehlerhaft blieb und dafür jetzt übersieht, daß gerade das Neue Hörspiel an schon einmal um 1930 entwicklungsgeschichtlich Erreichtes wieder anknüpfte. Und sie muß drittens zitiert werden, weil sie die sprachkritische und sprachskeptische Position des Neuen Hörspiels als "völlig idealistisch" abqualifiziert, ihrerseits aber Forderungen erhebt, die nicht weniger blauäugig, ja sogar völlig unrealistisch sind. Es zeugt nicht nur von einem Mißverständnis des gedanklichen Ahnherrn dieser Forderungen, Bertolt Brecht, sondern der grundsätzlich gesellschaftlichen Eingebundenheit des Mediums Rundfunk und seiner Programme, wenn Knillis Kommentar schließt:
"Was wir also brauchen, ist kein Neues Hörspiel, das nur das bessere Alte ist. Was wir brauchen, ist kein Radio-Happening, kein Kollektiv-Hörspiel, kein Hörspiel, das dem Hörer mehr zumutet, kein Schallspiel und kein Mitspiel. Was wir brauchen, ist Mitbestimmung für Hörer, Mitbestimmung für Autoren und Redakteure. Was wir brauchen, ist Demokratie, damit die Massenmedien endlich Medien der Massen wer4en, denn die Funkhoheit der Staaten ist ein Anachronismus, sie erinnert an feudale und faschistische Ständestaaten." (6)
Unausgesprochen steht hinter diesen idealistischen Forderungen das von Knilli und anderen mißverstandene Diktum Brechts, man müsse den Distributionsapparat Rundfunk in einen Kommunikationsapparat umfunktionieren, ein Diktum, das sich Knilli an anderer Stelle auch zitierend zu eigen macht. Der von Knilli in seinem Kommentar u.a. attackierte Helmut Heißenbüttel hat in der Folgezeit diese völlig unrealistischen Forderungen Knillis zweimal aus der Erfahrung des Rundfunkpraktikers zurückgewiesen, in seinem Hörspiel "Was sollen wir überhaupt senden" und kurz nach Sendung des Knillischen Kommentars in einem Gespräch mit Klaus Schöning, das auch auf die Bedingungen der Rundfunkarbeit, eine apparat-immanente "Entfremdung" zu sprechen kommt:
"Zunächst (...) ist es ja so, unter der Voraussetzung dieser Entfremdung, wenn es eine Entfremdung ist, arbeiten wir ja. Wir arbeiten ja im Hinblick darauf, daß wir zu bestimmten Sendezeiten senden, so unbekannt ist sie uns auch nicht, es gibt einen gewissen Spielraum, etwas früher, etwas später. Daß der Apparat da ist, wissen wir auch, und was der für Anforderungen stellt, wissen wir auch, und was das bedeutet, wissen wir auch. Wir arbeiten unter diesen Voraussetzungen. Wenn wir Vorstellungen haben, wie wir etwas verändern, (...) kann man nicht davon ausgehen, daß man sich eine Null-Situation ausdenkt und darüber jetzt ein wer weiß wie ideales Turmgebäude errichtet, oder daß man theoretische Forderungen erhebt und aus denen jetzt ganz bestimmte Folgerungen ableitet, so wie Herr Knilli (...), der Brecht zitiert und sagt: 'Der Distributionsapparat muß in einen Kommunikationsapparat verwandelt werden'. Ja, ich kann mir vorstellen, daß in eine Sendung unendlich viele Telefonleitungen gelegt werden und ununterbrochen Telefongespräche da reingeführt werden, manchmal zehn übereinander, manchmal eines. Das kann man einen Abend machen, dann bricht das Ding zusammen. So einfach - würde ich sagen - geht es nicht. Der Distributionsapparat, wenn man ihn so nennen will, ist das, mit dem wir arbeiten. Und von dem müssen wir zunächst ausgehen, und ich würde sagen, hier ist bestimmt der Punkt, wo man sagen kann, daß Reformen von dem vorhandenen Zustand besser sind als Revolutionen genereller Art." (7)
Eine der Reformen, an die man beim Neuen Hörspiel von Anfang an dachte, war der Versuch, den Hörer zu aktivieren, als "aktiven Mitspieler" zu gewinnen. Nicht mehr "passiver" Konsument ihm als repräsentativ vorgespielter literarischer Werke, solle er "seine Aufmerksamkeit hauptsächlich den akustischen Mitteln und dem formalen Aufbau eines Stückes zuwenden,
"weil in vielen Fällen die bewußte Wahrnehmung der Mittel und das Erkennen der Form erst ein Erkennen des Themas ermöglicht. Bei einiger Übung - guter Wille vorausgesetzt - wird er schließlich registrieren, daß diese Spiele geeignet sind, Denkvorgänge zu beschleunigen oder ganz allgemein Sinneswahrnehmungen zu vertiefen." (8)
Dieser Prospekt Heinz Hostnigs ist keine Einzelforderung, sondern als Hoffnung des Neuen Hörspiels, als Erwartung ans Neue Hörspiel wiederholt zu belegen, etwa in einem programmatischen Aufsatz Hellmut Geißners, der unter der mehrdeutigen
Überschrift "Spiel mit Hörer" die Entwicklung des Neuen Hörspiels von der Mitspielbereitschaft des Hörers mit abhängig sieht.
"Schließlich, da der Hörer es mitkonstituiert, bietet es die Möglichkeit, nicht nur Hör-Erwartung, sondern Bewußtsein zu verändern, je nachdem ob, wobei und wieweit der Hörer mitspielt." (9)
Geißners "Spiel mit Hörer" erschien in der Zeitschrift "Akzente", und zwar im ersten Heft des Jahres 1969, das - von Johann M. Kamps herausgegeben - sich ausschließlich mit den Möglichkeiten eines zeitgenössischen Hörspiels beschäftigte. Unter dem Franz Mon entlehnten Motto "Die Möglichkeiten eines zeitgenössischen Hör-Spiels lassen sich nur vermuten" hatte der Herausgeber neben Geißners Mitspiel-Essay einen eigenen Beitrag zur "Stereophonie im Hörspiel", einen "Überblick" Hermann Nabers über "Hörspiel und Hörspielversuche anderswo", "Polemische Gedanken" Heinz Hostnigs "über die Produktionsbedingungen, einen Bericht Paul Pörtners über seine "Schallspiel-Studien", "Überlegungen Horst Petris zur "Amalgamierung von Sprache und Musik im Hörspiel" und Heißenbüttels "Hörspielpraxis und Hörspielhypothese" gestellt.

Als Gattungsbeispiel diente der Entwurf des Hörspiels "das gras wies wächst" von Franz Mon, dessen realisierte Fassung zur Herbstmesse 1969 in Klaus Schönings Anthologie "Neues Hörspiel. Texte Partituren" nachgelesen werden konnte. Schönings Anthologie versammelte mit Arbeiten von Peter Handke, Richard Hey, Max Bense, Ludwig Harig, Klaus Hoffer, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, Franz Mon, Jürgen Becker, Paul Pörtner, Reinhard Döhl, Wolf Wondratschek, Rainer Puchert, Gerhard Rühm, Ferdinand Kriwet und Mauricio Kagel Beispiele fast aller Autoren, die bis dahin zum Neuen Hörspiel beigetragen hatten. Ihnen wären noch Peter 0. Chotjewitz, Dieter Kühn, Helmut Heißenbüttel (nach 1970) und im Umkreis des 0-Ton-Hörspiels 1971 Michael Scharang und Paul Wühr zuzurechnen. Schönings Anthologie, die 1970 in dem Sammelband Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche auch ihre theoretische Ergänzung fand, umfaßte bezeichnenderweise nicht nur Spiele aus dem Jahre 1969, sondern - die Entwicklungsgeschichte des Neuen Hörspiels andeutend - auch frühere Belege.

Rainer Pucherts "Der große Zybilek" wurde bereits 1966 vom Westdeutschen Rundfunk produziert, 1967 vom Deutschlandfunk "Die Ballade vom Eisernen John". Richard Hey, der Verfasser dieses Radio-Strips, war 1969 einer der ersten, der die Forderung des mitspielenden Hörers in einer Co-Produktion von Radio Bremen mit dem Südwestfunk in die Tat umzusetzen versuchte mit: "Rosie. Radio-Spektakel zum Mitmachen für Stimmen, Musik und telefonierende Hörer.

"Der Präsident eines Automobilkonzerns beauftragt seinen Computer, die Vorbereitung für die Einführung eines neuen Autos zu treffen, das auf den Namen seiner Tochter Rosie getauft werden soll. Seine Herrschaft als Konzernboß ist durch Eduard, einen jungen Außenseiter, dem sich niemand unterordnen will, bedroht. Zu dieser Grundsituation sind mehrere Varianten produziert worden. a) Eduard bedroht den Präsidenten telefonisch b) Eduard protestiert als Küchenjunge und prügelt sich mit dem Küchenchef c) Eduard geht den Weg durch das Bett der sexgeladenen Frau des Präsidenten d) Eduard versteckt sich in der Neukonstruktion, defloriert Rosie und zerstört das Auto. Zu jeder Variante gibt Es Konfrontationsfolgen Eduard/Präsident mit verschiedenen Schlußszenen. Der Hörer hat die Möglichkeit, den Moderator zur Wahl einer bestimmten Variante zu bewegen." (10)
Aus demselben Jahr stammen die in Stuttgart produzierten 17 Hörspiele in Stereo des ungarischen Happening-Künstlers Gabor Altorjays. Bereits 1967 in Budapest konzipiert, konnte er nach seiner Flucht in die Bundesrepublik im Umfeld des Neuen Hörspiels ein akustisches Happening realisieren, das entfernt an die i-Kunst Kurt Schwitters erinnert. "Unerhörte" akustische Fertigteile werden dabei als selbständige "Hörspiele" definiert und unter Zuhilfenahme stereophoner Technik zu einer Mixtur uns tagtäglich umgebender und belastender akustischer Signale und Reize überlagert.
"Die Sendung läuft auf folgende Weise: - die Lautstärke ist nach psychologischen Zeiten geregelt: Schema: Sendung schwach - Hörer verstärken das Empfangsgerät - Sender verstärkt sich enorm - Hörer müssen das Gerät leiser stellen - Sendung wird wieder schwächer - Hörer müssen verstärken usw." (11)
Die Vermutung von Hermann Keckeis, der Hörer solle derart "sein Radioempfangsgerät als Spielzeug entdecken und verwenden" faßt nur das Vordergründige und verfehlt den Hintersinn dieses "Hörspiels", der darin besteht, daß dem Hörer einmal die ihn alltäglich umgebenden Geräusche, die er gar nicht mehr wahrnimmt, als Geräusche bewußt werden. Und zum anderen, daß er die Zwänge des diese akustischen Fertigteile übertragenden Radioapparates ansatzweise dadurch erkennt, daß er gezwungen wird, ständig die Lautstärke zu regeln.

Auch in einem zweiten Fall, bei Konrad Wünsches vom Saarländischen Rundfunk zusammen mit dem Norddeutschen und Süddeutschen Rundfunk produzierten Hörspiel "Sendung" verfehlt Keckeis letztlich den medienkritischen Hintersinn, wenn er beschreibt:

"Anhand einer Geschichte vom Hirtenbuben und dem Wolf, die den eigentlichen Inhalt der Hörspielfabel bildet, stellt die Sprecherstimme Fragen an den Hörer, die ihn zum eigenen Weiterspielen und Überdenken der Geschichte anregen sollen." (12)
Denn bereits der Pressetext läßt die medienkritische Intention des Hörspiels erkennen, läßt ablesen, daß es darum geht, dem Hörer seine Hörsituation und falsche Identifikationsbereitschaft spielerisch zu vermitteln.
"'Sendung' will das Rituelle eines normalen Sendeablaufes deutlich machen und das, was durch dieses Ritual angestrebt wird: die Identifikation des Hörers mit der jeweiligen Sendung. Wie das vor sich geht, zeigt der Autor mit Hilfe eines Moderators, der sich allerdings von seinen Kollegen am Mikrophon dadurch unterscheidet, daß er mit den Formen des Hörerfangs spielt."
Einige locker aneinandergereihte Adressen an den Hörer, wie sie sich durchs ganze Hörspiel ziehen, können einen ersten Eindruck davon vermitteln, in welcher Weise der Hörer weniger zum Weiterspielen angeregt, ihm vielmehr vom fiktiven Moderator mitgespielt wird.
"Ihr Apparat sollte auf Zimmerlautstärke eingestellt sein / Verlassen Sie das Zimmer nicht während der Sendung / Setzen Sie sich / Sie können diese Sendung auch stereophon empfangen / Sie wissen, wo sie sitzen müssen (...) Sie haben gehört / Sie können sich selbst ein Urteil bilden / Wer ist der Wolf / Wer ist der Hirtenknabe, der jämmerlich lachte und schrie / Schreiben Sie auf, wer Ihnen einfällt / Welche Völker welche Parteien / Welche Bevölkerungsgruppen / Nehmen Sie jetzt Papier und Kugelschreiber zur Hand und schreiben Sie / ...Wir werden dann prüfen, ob Sie sich selbst ein Urteil gebildet haben / Aber vielleicht reizt es Sie, der Sache einen anderen Schluß zu geben / Tun Sie das / Oder einen anderen Anfang / Tun Sie das / ...Halten Sie diese Geschichte für geeignet, Unterrichtsstoff der Schule zu werden? / Hätten Sie es lieber, daß die Geschichte mehr dem Gleichnis vom Guten Hirten ähnelt?" (13)
Deutlicher lassen sich dem Hörer wohl kaum die Sender-Empfänger-Situation, die Einkanaligkeit des Massenkommunikationsmediums Rundfunk verdeutlichen. Aber es kommt noch etwas hinzu, die Ausweglosigkeit des Hörers gegenüber diesem Bombardement von Aufforderungen und Fragen, denen er nur dadurch entgehen kann, daß er das Gerät ausschaltet. Und nur das unterscheidet ihn letztlich vom fiktiven Ausgefragten in Peter Handkes "Hörspiel".

Von dem durch Hey, Altorjay oder Wünsche repräsentierten Typus des Mitspiels deutlich zu unterscheiden sind Hörspiele, die das politische Bewußtsein des Hörers aktivieren sollen. Ausgehend von Gedankengängen Walter Benjamins, dessen Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" damals vielfach Anregungen gab, ging es in diesen Hörspielen darum, jede Form ablenkender Ästhetisierung zu vermeiden. Das vielleicht exemplarischste Beispiel dieses Hörspieltypus ist Peter 0. Chotjewitz' vom Süddeutschen, zusammen mit dem Saarländischen und Westdeutschen Rundfunk produziertes Hörspiel "Die Falle oder die Studenten sind nicht an allem schuld". Obwohl Chotjewitz mit den Mitteln der Montage und des Zitats arbeitet, und damit zugleich einem Hörspieltypus zuneigt, den eine Reihe des WDR 3-Hörspielstudios "Dokumente und Collagen" überschrieben hat, ist Die "Falle (...)" in erster Linie nicht als Dokumentation aufzufassen, sondern als eine spielerische Demonstration des Möglichen und Wahrscheinlichen.

"Es ist vielleicht nicht alles so gewesen, wie es hier dargestellt wird, und nicht alles, was dargestellt wird, ist bewiesen. Aber es könnte alles so gewesen sein, wie es dargestellt wird, und es ist wahrscheinlich, daß es so gewesen ist."
Das Hörspiel von Chotjewitz hat vor allem der federführenden Sendeanstalt einigen Ärger beschert, obwohl die Materialien, mit deren Hilfe das Hörspiel die durch den Berlin-Besuch des Schahs ausgelösten Vorfälle des 2. Juni 1967 rekonstruiert, auch vor den Augen eines Historikers bestehen würden. Allerdings werden diese rekonstruierten Vorgänge im Hörspiel für das Medium Rundfunk untypisch präsentiert, nämlich ohne weiteren Kommentar. Auf diese Weise behalten sie weitgehend ihren Materialcharakter, wird der Hörer praktisch aufgefordert, sich seinen eigenen Reim darauf, sich seinen eigenen Kommentar dazu zu machen. Hier läge auch das Moment seiner Aktivierung. Und hier findet sich zugleich eine Wurzel des Mißverständnisses derjenigen, die Anstoß nahmen. Denn indem sie unausgesprochen auf dem "lindernden Kommentar" (Peter Faecke) bestanden, erklärten sie im Grunde genommen den Hörer für unmündig, waren sie kaum entfernt von einer Position, wie sie Anfang der dreißiger Jahre der für den Überwachungsausschuß der Berliner Funkstunde zuständige Ministerialrat Scholz vertrat, wenn er ausführte:
"(...) der Hörer selbst verlangt den verwaschenen, behutsamen, charakterlosen 'goldenen Mittelweg'. Niemand bedauert es mehr als die Zensoren selbst. Und sie betrachten es als ihre Aufgabe, den Hörer langsam, langsam, vorsichtig, nur nicht übereilt, zu größerer Sanftmut zu erziehen." (14)
Lebt Chotjewitz' "Die Falle oder Die Studenten sind nicht an allem schuld" wesentlich von seiner Quasi-Authentizität, die den Hörer zum eigenen Kommentar auffordert, verwendet Ludwig Harig für seine 0-Ton-Collage "Staatsbegräbnis oder Vier Lektionen politischer Gemeinschaftskunde" (Saarländischer Rundfunk / Westdeutscher Rundfunk) nur authentisches Tonbandmaterial, dessen Collage zugleich sein Kommentar ist, arbeitet er - ausgenommen die Einleitung - mit veröffentlichter Sprache, im Gegensatz zu späteren 0-Ton-Hörspielen, die vor allem nicht veröffentlichte Sprache mit ihren unbekannten anonymen Sprechern montieren. (Vgl. Klaus Schöning, "Neues Hörspiel 0-Ton".) Ein solches Arbeiten mit veröffentlichter, mit öffentlicher Sprache setzt beim Hörer Kenntnis des sprachlichen Materials voraus, da nur so durch Schnitt und überraschende neue Zusammenstellung Leerlauf, Geschwätz, aufgesetztes Pathos, aber auch Versprecher und sprachliche Fehlleistungen in aller Konsequenz deutlich werden. Analyse öffentlicher Rede und allgemein unseres sprachlichen Befindens ist dabei letztlich das Ziel derartiger Hörspielversuche, und das meint in einem weiteren Schritt, spielerisch die Frage nach der Glaubwürdigkeit von mit Sprache, in Sprache Vermitteltem stellen.

Diese Absicht steht unausgesprochen auch hinter den Hörspielversuchen Franz Mons. Mit ihm betritt 1969 ein Autor-Regisseur die Hörspiel-Szene, für dessen Arbeiten die Stereophonie unabdingbare Voraussetzung ist.

"die stereophonie ermöglicht ein hörspiel, das sich endlich von der angestrengten illusion in der nähe des hörers agierender stimmen befreien kann, der das monophone hörspiel - gerade weil es geringere plastizität hat - immer wieder nachjagt. die größere realitätsnähe, die sich die erfinder der stereophonie erhofften, schwappt ins absurde über, wenn man mit dem finger genau auf den punkt weisen kann, wo einer spricht, ohne das man ihn sieht, wo man schritte hört und keine füße findet, wo glocken klingen und keine hängen. der mit solch hochgedrillter illusion gefoppte hörer kommt sich als blinder vor, der an seinen platz gebannt ist, wenn er nicht auch noch seinen (hör)raum einbüßen will. und noch schlimmer, er muß - auf eine solche realitäts-realität vereidigt - an seinem zeitlichen orientierungsvermögen zweifeln, denn die von der realitätsillusion geforderte einheit der zeit funktioniert natürlich nicht." (15)
Entscheidend wird Mons Konsequenz, die Stereophonie nicht als "realistisches Medium", statt dessen als "artifizielles Mittel zur Ordnung und Unterscheidung von Hörwahmehmungen" zu werten, die in einer monophonen Realisation ineinander und damit ins Unverständliche fallen würden. Indem Mon die Stereophonie als "syntaktisches Mittel zur Ordnung von Hörereignissen" interpretiert, muß Hörspiel für ihn konsequenterweise "Sprachspiel" werden, "das sich auf den organisierten Laut auch von Wörtern und Sätzen" einläßt, auf die "Konkretheit des lautwerdenden Sprachmaterials". In diesem Sinne materiales oder konkretes Hörspiel, bedarf es für "das gras wies wächst" keiner noch so rudimentären Fabel oder Handlung.
"es handeln die sprachelemente. subjekte sind die wörter, die wörteragglomerationen, die gestanzten redensarten, fragepartikel (...). wörterreihen treten in spannung zu redensarten, redensarten hinterbauen dialoge, dialoge werfen fragen auf, die von wörterreihen beantwortet werden. (...) eine entscheidende rolle spielt das bewußtsein des hörers, das das verwandte sprachmaterial wiedererkennt, das sich erinnert, wo diese prägungen herkommen, wie und von wem sie benutzt worden sind. Das ganze material ist transparent auf einem riesigen hof gebrauchter sprache." (16)
Daß Hörspiele solcher Art mit traditioneller Stimmenführung, mit einem bis dahin üblichen Hörspiel-Sprechen nicht zu bewältigen waren, liegt auf der Hand, und ein Blick in die Textfassungen macht es überdeutlich. Nicht als "Mann", "Frau", "Kind" oder ähnlich sind die Stimmen einleitend ausgewiesen, sondern als "normale männliche stimme", "normale weibliche stimme", "sonore männliche stimme", "altstimme" und "kinderstimme", von denen "kinderstimme" und "normale männliche stimme" zweifach vorgesehen sind. Innerhalb des stereophonen Hörraums sind diesen Stimmen jeweils feste Positionen zugewiesen, wobei weitere Anweisungen lauten: "tropfend, zwischen jedem 'nein' ca. 1" Abstand" oder "abgehackt gesprochen, mit zunehmender beschleunigung. allmählich mehrfache überschichtung (...) mit phasenverschiebung" oder "alle stimmen als flatterstimmen mehrfach sich wiederholend" oder "vervielfachung und verdichtung zur schallsäule".

Eine derart musikalische Stimmenführung war nicht jeden Regisseurs Sache, so daß es im Umfeld des Neuen Hörspiels fast einem Generationswechsel der Regisseure kommt. Die Polemik Knillis nannte mit Heinz von Cramer, Raoul Wolfgang Schnell und Heinz Hostnig bereits drei dieser Regisseure, zu denen sich mit Klaus Schöning und Johann M. Kamps auch Dramaturgen gesellten, einmal, weil beim Neuen Hörspiel die Regie wieder ins Stadium des Experimentierens getreten war, vor allem aber, um die Trennung von Dramaturgie und Regie aufzuheben. In den meisten Fällen wird vom Autor der Regisseur stillschweigend als "Mitautor" verstanden, gelegentlich wird dies auch ausdrücklich formuliert.

Auf dem Wege der Aufhebung spezialisierter Arbeitsteilung treten aber nicht nur Dramaturgie und Regie zusammen, geht der Autor vielmehr selbst auch ins Studio als sein eigener Regisseur, so Franz Mon oder - ebenfalls noch 1969 - Mauricio Kagel. Paul Pörtner möchte sogar noch die technischen Arbeiten bei einer Hörspielproduktion mit hinzunehmen und sähe einen Idealfall gegeben,

"wenn ein Autor oder Komponist zugleich sein eigener Toningenieur und Schnittmeister sein könnte und, wie der klassische Autor sein Werk zu Papier brachte, nun sein Hörwerk zu Band bringen könnte." (17)
Zwar ist dieser "Idealfall" mit Ausnahmen Prospekt geblieben, doch gilt es festzuhalten, daß im Umfeld des Neuen Hörspiels die traditionellen Arbeitsteilungen bewußter empfunden und - wenigstens zu Teilen - aufgehoben wurden, wobei hinzu kommt, daß wie kaum zuvor die Autoren immer genauere Vorstellungen von dem entwickelten, was hinterher herauskommen sollte.

"artikulationen" hieß bezeichnenderweise eine frühe Buchveröffentlichung Franz Mons. Und Artikulationen in einem weiteren Sinne waren dann auch seine Hörspiele seit 1969. Andererseits führte die Arbeit im Studio - sei es teilnehmend oder in eigener Regie - dazu, daß die Manuskripte, die von den Autoren den Dramaturgien eingereicht wurden, zunehmend Vorschlagscharakter hatten, Spielpläne oder Entwürfe waren, die erst nach ihrer Realisierung definitiv "renotiert" werden konnten, z.B. Franz Mons "das gras wies wächst" für die Anthologie "Neues Hörspiel. Texte Partituren."

Spielplan- oder Entwurfcharakter zeichnet auch die drei Hörspiele Jürgen Beckers aus, die nach seinen Prosatexten "Felder", "Ränder", "Umgebungen" in kürzester Zeit entstanden und alle 1969 zum ersten Mal gesendet wurden. Bereits ihre Titel - "Bilder", "Häuser", "Hausfreunde" - deuten über ihre jeweils "offene Schreibweise" auf tieferliegende Zusammenhänge, die wir hier im einzelnen nicht erörtern können. Im Grunde genommen geht es immer um die Lokalisierung eines sprechenden, reflektierenden Ich in den Umgebungen, in seiner Umwelt, die Becker in einem wörtlichen Sinne als "Sprichwörterzeit" (Sprich / Wörter / Zeit) versteht.

"So haben wir nun in der Sprichwörterzeit gelebt und es wird noch einige Fortsetzungen geben; wieder ist die Umgebung fremder geworden, es kommt bald nicht mehr auf die Umgebung an, das ist schon wieder so eine Weisheit; wenn nicht die Abnutzungen spürbar wären, dann hätten wir glattweg sogar gelogen, das wäre das einfachste auch gewesen, man müßte gar nicht mal erfinden, das Spruchzeug liegt ja nur so herum, und wenn mans mit der eigenen Stimme mal versucht, dann müssen wir gleich unterbrechen: das haben wir doch alles schon einmal irgendwo gehört; nun rede dann mal weiter, das passiert ja ständig auch, aber hinhören dann, da reden nämlich immer ein paar Stimmen mehr mit, und komische Geräusche sind dazwischen, Flötentöne, Gebrüll, Geheul, es wird gelacht, es heißt, man sagt das muß man wissen und was meinen wir dazu und wer sind wir eigentlich denn." (18)
Daß der Autor einer solchen Prosa auch das Hörspiel als eine seinen Intentionen gemäße Redeform entdecken würde, war zu erwarten: Daß dies relativ spät geschah, hat hörspielgeschichtliche Gründe. Wie bei anderen Autoren, bei Heißenbüttel oder Mon z. B., stand die Hörspielpraxis auch bei Becker im Wege. Nachdem er "vor zwölf und fünfzehn Jahren vergeblich in dieser Richtung gearbeitet habe", sagt er es selbst in einem Gespräch mit Klaus Schöning 1970, sei er erst "in den vergangenen zwei Jahren auf ein Interesse gestoßen, daß sich nicht mehr einseitig an einer traditionellen Hörspielpraxis orientiert". (19)

Die Folge waren eine Reihe von Hörspielkommentaren, u. a. zu Hörspielen der Nouveau Romanciers, zu Ludwig Harig, Max Bense oder Peter Handke, für die Becker festhält, daß sie nicht mehr "über etwas schreiben, sondern (...) mit der Sprache selber eine Wirklichkeit herstellen, in der etwas von der außersprachlichen Wirklichkeit erkennbar" werde. Eine Charakteristik, die auch für Franz Mons "das gras wies wächst" wie für Jürgen Beckers "Häuser" in Anschlag gebracht werden kann.

Beckers "Häuser" enden: "Ich gehe jetzt hier wieder weg", was mit dem ersten Satz des Hörspiels korrespondiert. Die letzte Sequenz des Hörspiels hebt seine erste auf: "Hier gehe ich jetzt nicht mehr weg." So gesehen hat Beckers Hörspiel sogar so etwas wie eine Handlung. Aber das, was geschieht, geschieht außerhalb des Hörspiels. Nationalsozialismus, Nachkriegszeit, Adenauerära, die Gegenwart der Jahre 1968/1969 werden allenfalls indirekt in sprachlichen Reflexen faßbar.

Daß Hörspiele gleichsam kreisförmig an ihren Anfang rückkehren, war bis dahin vereinzelt bei Frisch, Dürrenmatt, bei Günter Eich vorgekommen. Im Neuen Hörspiel wird es durchgespielt. Bei "Fünf Mann Menschen" von Ernst Jandl / Friederike Mayröcker, indem die Eingangssequenz wortwörtlich wiederholt wird; bei Becker in der Negation des eingangs mitgeteilten Entschlusses, hier nicht mehr wegzugehen, die ihrerseits durch einen neuen Entschluß, hier nicht mehr wegzugehen, negierbar wäre, und so fort.

Eine weitere Möglichkeit versucht Gerhard Rühm in "Ophelia und die Wörter", einer Partitur, die Klaus Schöning für den Westdeutschen Rundfunk realisierte. Man muß, um Rühms "Ophelia (...)" richtig einzuschätzen, daran erinnern, daß der
Rundfunk, speziell die Hörspielverantwortlichen von Anfang an die Adaption von Bühnenstücken für das Programm vorsahen. Hier wäre Rühms "Ophelia (...)" eine Klassiker-Adaption, mit der Einschränkung, daß sie in radikaler Form einen bekannten Klassiker, Shakespeares "Hamlet", ausschließlich auf die Verlautbarungen der Ophelia reduziert. Dieser Reduktion ist gegenläufig ("als Krebs") dieselbe Textvorlage, auf ihre Substantive und Verben in der Grundform reduziert, zugeordnet. "Zweifelst du daran?" ist demnach die erste Äußerung Ophelias, "zweifeln" das letzte Wort des Hörspiels (und das erste Wort der Umkehrung).

Rühm, der mit vielen seiner Hörspiele im Rundfunk Ideen realisieren konnte, die, oft älteren Datums, noch aus den Zeiten der Wiener Gruppe, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre stammten, hat 1969 auf der "Experimenta" in Frankfurt vom Forum-Theater Berlin seine "Ophelia (...)" auch in einer Theaterfassung spielen lassen. In ihr wurde das "visuelle Geschehen von den Begriffen der Ophelia her abgeleitet". Indem die Verben die Regiehinweise "für die Bewegungsmotive", die Substantive die Hinweise auf Requisiten und Projektionen hergaben, entstand ein Spiel mit Multi-Media-Charakter.

Von einer Mixed-Media-Komposition für acht Vokalsolisten, Tonbänder, Filme, Dias, Informationsmedien, Akteure und Gäste geht Ferdinand Kriwet bei seinem 5. "Hörtext", "One two two", aus. Für die "Hörtexte" Kriwets gilt, daß sie neben den "Möglichkeiten der menschlichen und (...) künstlichen Stimmerzeugung" auch "alle elektronischen Möglichkeiten ihrer Analyse und Synthese mittels Aufnahme, Transformation und Montage" nutzen. Wenn Ferdinand Kriwet 1969 festhält, daß "neben unterschiedlichen Aufnahmepraktiken und der Verwendung spezieller Mikrophone (...) vorläufig Schnitt und Mischung" die bei seiner Arbeit "dominierenden Praktiken" seien, weist er sich als einer jener "Autoren oder Komponisten" aus, die "zugleich" ihr "eigener Toningenieur und Schnittmeister" sind, von denen Paul Pörtner als Idealfall einer Aufhebung spezialisierter Arbeitsteilung 'geträumt' hatte.

Man wird für Hörtexte dieser Art, die sprachliches, aber auch vor- und außersprachliches Material demontieren und neu ordnen, um nicht zu sagen: komponieren, allgemein geltend machen müssen, daß sie "zu komplex" sind, um schon beim ersten Hinhören durchschaut zu werden. Es sind Hörspiele, die eigentlich mehrfach gesendet, mehrfach wiederholt werden müßten, die sich - trotz Kommentierung - in ihren vielfältigen Spannungen und Bezügen erst allmählich erschließen. Von einem Musikstück, für das bei komplexer Struktur ähnliches gilt, unterscheiden sie sich durch ihre sprachlichen Partikel, die zum Hören das Verstehen fordern. Von einem "assoziativen Hören" spricht sinnvollerweise eine Kritik des Evangelischen Pressedienstes "Kirche und Rundfunk" und sieht auf einem solchen Weg Schritte zu einem "neuen kritischen Bewußtsein", die Chance einer

"Erziehung zur Laut- und Sprachkritik als Umweltkritik. Die noch nicht voll erkundete Form solcher Hörtexte als "Partitur" schafft gleichzeitig einen musikalisch-rhythmischen Raum; hier ergeben sich Spannungsmomente ganz anderer Art. Das Erkennen von Informationsspots tritt zurück, und im Idealfall wird unterschwellig die wortlose Verständigung erreicht, die den Hörer selbst produktiv macht."
Womit wir noch einmal beim Hörer wären, an dem - wie gerne immer wieder kolportiert wird - das Neue Hörspiel vorbei inszeniert worden sei. Das Gegenteil ist richtig. Wie nie zuvor haben sich nämlich die einzelnen Rundfunkanstalten beim Neuen Hörspiel um seine Vermittlung bemüht. Man muß sich schon einmal die Mühe machen, die Rundfunkprogramme auf begleitende Sendungen hin durchzuschauen, die Manuskript-Archive, die Band-Archive aufzusuchen, um schnell eines Besseren belehrt zu werden. So umfaßt allein die Bibliographie des Westdeutschen Rundfunks, "Hörspiel, Teil 3, Manuskripte", für den Berichtraum 1963-1977 für das 3. Programm 1199 Nummern. Und auch die schon erwähnten 1970 und 1974 herausgegebenen Essay- und Materialienbände sprechen hier eine beredte Sprache. Ja, bis ins Hörspiel hinein ist der Hörer angesprochen, gehen die Versuche, ihn aus verkrusteten Hörgewohnheiten instruktiv hinauszuführen.
"Ein Hörspiel muß nicht unbedingt ein Hörspiel sein, d.h. es muß nicht den Vorstellungen entsprechen, die ein Hörspielhörer von einem Hörspiel hat. Ein Hörspiel kann ein Beispiel dafür sein, daß ein Hörspiel nicht mehr das ist, was lange ein Hörspiel genannt wurde. Deshalb ist ein Hörspieltext nicht unbedingt ein Hörspieltext. Und ein Satz in einem Hörspiel nicht unbedingt ein Hörspielsatz. Und so weiter. Ich weiß überhaupt nicht, was sich ein anderer unter einem Hörspiel vorstellt. Ich weiß nicht, was ein Hörspiel ist." (20)
Das Hörspiel, dem dieses Zitat entnommen ist, Wolf Wondratscheks "Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels", wurde 1970 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden für das Jahr 1969 ausgezeichnet. Und wie der Autor hatte auch die Jury den Hörer vor Augen, wenn sie begründete:
"Wolf Wondratschek macht es den Hörern leicht, die geläufigen Hörgewohnheiten zu verlassen und eine neue Hörfähigkeit zu entwickeln. Er negiert in seinem Stücke überkommene Formen, die eine Geschlossenheit vorgeben, wo Realität sich heute nicht mehr als eine totale begreifen läßt. Konsequent setzt er an Stelle eines Bewußtseinsflusses exakt gefügte Bewußtseinssplitter und läßt aus Mentalität, Umwelt, Biographie und Psyche eines Lastwagenfahrers, aber auch des Autors, der über ihn reflektiert, ein Mosaik entstehen, das neue Denkschemata erkennbar macht und dessen akustische Musterung das Ohr auf eigentümliche, ganz dem Rundfunk zugeordnete Weise reizt."
Heinz Hostnig, Regisseur und als solcher 'Mitautor' dieses Hörspiels, hatte schon 1968 in Frankfurt seiner Meinung Ausdruck gegeben,
"daß es nicht nur die Aufgabe elitärer Studio- und Nachtprogramme sein kann, daß Publikum über experimentelle Literatur und ihre Kriterien zu unterrichten. Auch das Hörspielpublikum darf den Anspruch erheben, mit modernen literarischen Formen konfrontiert zu werden. Denn wo anders als im Hörspiel läßt sich ein Sprachkunstwerk realisieren, das weder an das physische noch an das innere Auge appelliert, sondern allein an das Ohr." (21)
Daß dieser akustische Appell nicht nur von "Sprachkunstwerken" ausgehen kann, erweist ein Überblick über das Hörspiel im ARD-Spielplan 1969, der dem Hörspiel in einer nicht voraussehbaren Breite seine offene Form zurückgewann, der an die Stelle des Endzustandes, den das Hörspiel Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre erreicht hatte, wieder seinen Aufnahmezustand setzte. So gesehen ist es mehr als ein spielimmanenter Hinweis, wenn Mauricio Kagel, Komponist und Hörspielmacher, 1969 sein erstes Hörspiel überschrieben hat: "(Hörspiel) - Ein Aufnahmezustand".

Anmerkungen

1) Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Fünf Mann Menschen, in: Klaus Schöning (Hg.), Neues Hörspiel. Texte Partituren, Frankfurt 1969, S. 115.
2) Ludwig Hang, Ein Blumenstück. Texte zu Hörspielen, Wiesbaden 1969 (Limes Nova 29), S. 141.
3) Ebd., S. 144.
4) Jürgen Becker, zit. nach Klaus Schöning (Hg.), Neues Hörspiel. Texte Partituren, a.a.O., 444.
5) Inventur des Neuen Hörspiels, in: Friedrich Knilli, Deutsche Lautsprecher. Versuche zu einer Semiotik des Radios, Stuttgart 1970 (Texte Metzler 11), S. 80 f.
6) Ebd., S.85.
7) Zit. nach der unkorrigierten Abschrit des Gesprächs Helmut Heißenbüttel / Klaus Schöning, 2.7.1970, S. 7 f.
8) Heinz Hostnig, Erfahrungen mit der Stereophonie, in: Klaus Schöning (Hg.), Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, Frankfurt 1970 (edition suhrkamp 476), S.130.
9) Hellmut Geißner, Spiel mit Hörer, in: Akzente, Jg. 16, 1969, H. 1, S. 42.
10) Zit. nach Günter Zeutschel, Das Hörspiel-Archiv.
11) Zit. nach Hermann Keckeis, Das deutsche Hörspiel 1923-1973, Frankfurt 1973, S.102.
12) Ebd., S. 103.
13) Zit. nach dem Manuskript des Süddeutschen Rundfunks (Archivexemplar, Nr. 1362), S. 3 ff.
14) Zit. nach Christian Hörburger, Das Hörspiel der Weimarer Republik, Phil. Diss. Tübingen 1975, S.19 f. - Vgl. dazu Werner Scholz, Die Aufgaben der Überwachungsausschüsse, in: Rundfunkjahrbuch 1931, S. 19 ff.
15) Franz Mon, bemerkungen zur stereophonie, in: Klaus Schöning (Hg.), Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, a.a.O., S. 126.
16) Ebd., S. 128.
17) Paul Pörtner, Schallspiele und elektronische Verfahren im Hörspiel, in: Akten der Internationalen Hörspieltagung, Frankfurt 1968, S.129; hier zitiert nach der modifizierten Fassung in: Klaus Schöning (Hg.), Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, a.a.O., S. 63.
18) Jürgen Becker, Ränder, Frankfurt 1968, S.109 f.
19) Leo Kreutzer (Hg.), Über Jürgen Becker, Frankfurt 1972, S.27.
20) Wolf Wondratschek, Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels, München 1971 (Reihe Hanser 72), S. 48.
21) Heinz Hostnig, Überlegungen zum Stereo-Hörspiel, in: Akten der Internationalen Hörspieltagung, a.a.O., S. 162.

Druck in Klaus Schöning [Hrsg.]: Spuren des Neuen Hörspiels. Frankfurt: Suhrkamp 1982, S. 59-80.