Reinhard Döhl | Zu Peter Hirches "Heimkehr"

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Als Anfang der sechziger Jahre Hörspielbestandsaufnahme gemacht wurde, lautete die Prognose für Peter Hirche günstig:

Zitat

Was Hirche und Meyer-Wehlack betrifft, so gehören sie - neben Rys und Wellershoff - zu den wichtigsten Autoren zwischen dreißig und vierzig, die nun in die erste Reihe vorrücken werden, falls es ihnen gelingt - was freilich notwendig wäre -, ihrem bisher nur schmalen Werk mit weiteren Arbeiten eine gewisse Abrundung zu geben. Nach Eich und Hildesheimer, nach Frisch und Dürrenmatt sind sie als nächste am Zug. Dabei hat Peter Hirche, als der älteste von ihnen (1923 in Schlesien geboren) wohl schon am meisten literarisches Profil. (Schwitzke, 379 f.)

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Dieses literarische Profil hatte Hirche bis 1963 mit 8 Hörspielen gewonnen, also der gleichen Anzahl Hörspiele, mit der auch Friedrich Dürrenmatt in den fünfziger Jahren die Anstalten der ARD beliefert hatte. Es sind dies, nachdem Hirche 1949 mit dem "Hörbild" "Ich will nicht der nächste sein" noch wenig erfolgreich debutiert hatte, in der Reihenfolge der Erstsendungen

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1953 Die seltsamste Liebesgeschichte der Welt
1954 Zum Empfang sind erschienen, (Ein Hörspiel, das auch unter seinem ursprünglichen Titel "Lob der Verschwendung" zitiert wird)
1955 Das Lächeln der Ewigkeit
1955 Die Heimkehr
1958 Nähe des Todes
1962 Lehmann
1962 Der Unvollendete
1963 Der Verlorene.

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Drei von diesen Hörspielen erschienen im Druck: "Nähe des Todes", "Die Heimkehr" und "Die seltsamste Liebesgeschichte der Welt". Zwei von ihnen - "Die seltsamste Liebesgeschichte" und "Die Heimkehr" - gehören inzwischen zum Repertoire der Hörspielarbeit auf den Oberstufen unserer Schulen. (Nach Werner Kloses "Didaktischem Hörspielverzeichnis" formal als Beispiel für "Spiel der fiktiven Partner in bewußt ungenauen Räumen" ("Die seltsamste Liebesgeschichte"), bzw. als "episches Hörspiel" mit "dialogischen Rückblenden" ("Die Heimkehr"). Inhaltlich in der Sinnfrage nach Lebenslauf und Identität ("Die Heimkehr") bzw. in Diskussionen um Liebe und Ehe ("Die seltsamste Liebesgeschichte").

Daß eines der acht Hörspiele, das vom WDR produzierte unveröffentlichte "Lächeln der Ewigkeit" zwischenzeitlich gelöscht ist, sei der Vollständigkeit halber wenigstens angemerkt.

Die Neuproduktion des (ursprünglich in Bremen produzierten) "Hörbildes" "Ich will nicht der erste sein", 1967, führt von der Bestandsaufnahme zur Frage, ob Hirche mit seinen Hörspielarbeiten nach 1963 die eingangs zitierte Prognose bestätigt hat. Und hier müßte die Antwort eindeutig nein heißen, schrieb Hirche doch nur noch drei neue Hörspiele:

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1965 Miserere
1967 Gemischte Gefühle
1968 Die Krankheit und die Arznei.

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Ihnen gesellen sich die Neuproduktion von "Ich will nicht der nächste sein", die nicht unaktuelle Geschichte eines Kriegsgerichtsrates, der 1945 drei Tage nach Kriegsende einen Soldaten hinrichten ließ, und später von der Anklage, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, freigesprochen wird. Schließlich ist "Zero" (1969) kein originäres Hörspiel (mehr), sondern die Bearbeitung eines Theaterstückes. Diese Bearbeitung, sowie die Neuproduktion der ersten Rundfunkarbeit signalisieren, so scheint es aus nunmehr fast zehnjährigem Abstand, das Ende einer Hörspielarbeit, lassen eine Bestandsaufnahme eines Hörspielwerkes sinnvoll scheinen, dessen überwiegend programmatische Titel bereits einen Grundtenor der Hircheschen Hörspiele andeuten.

So umfangreich das Hirchesche Hörspielwerk auf der einen Seite ist, so schmal ist auf der anderen die bisher über ihn vorliegende Literatur. Außer einem Nachwort von Maria Sommer zu "Nähe des Todes" und einer kritischen Analyse der "Seltsamsten Liebesgeschichte" von Friedrich Knilli ist nichts weiter Bedeutendes zu verzeichnen. Dies ist um so erstaunlicher, als Hirche mit "Die Heimkehr", für die er 1955 den Preis des Italienischen Rundfunks erhielt, mit "Nähe des Todes" zwei Hörspiele geschrieben hat, die laut Reclams Hörspielführer "zu den wichtigsten deutschen Hörspieltexten" gehören. Ein drittes, gleichwertiges Stück, "Miserere", gilt - bedingt durch sein Hörspielverständnis, - dem Hörspielführer zwar als "Tiefpunkt", erhielt aber immerhin 1965 den Hörspielpreis der Kriegsblinden mit der Begründung:

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Vielstimmig und temperamentvoll konzertierend, aber in kompositorischer Strenge und mit sprachlicher Präzision beschwört Peter Hirche am Beispiel von ein paar Mietshausbewohnern das Böse und die Bedrohtheit unserer Welt. Er entwirft ein zwar düsteres Bild, aber es ist - wie so oft in Hirches Hörspielen - ohne jeden Zynismus von leiderfüllter Menschlichkeit getragen. Seine Trauer um die Hinfälligkeit des Menschen verbrämt Hirche weder mit poetisierender modischer Ornamentik noch mit pharisäerhafter Rhetorik. Um so eindringlicher sein notvoller Ruf: "Miserere - Erbarme Dich!".

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Wie vielgeschichtig dabei bereits dieser programmatische Titel gehört werden kann, hat Hirche 1967 in einem Gespräch mit Klaus Schöning angedeutet:

Einspielung Gespräch Schöning/Hirche

Es gibt viele Möglichkeiten. Ich könnte mir viele Möglichkeiten denken, wenn ich darüber schreiben sollte. Also Miserere, natürlich zunächst einmal heißt es "Herr, erbarme Dich" aus dem Psalm. Dann gibt es auch die Möglichkeit im Sinne von Brecht, bei dem einen Brechtgedicht kommt vor die Zeile: "Ich bitt Euch, habet mit Euch selbst Erbarmen" - auch diese Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, nach dem, was in dem Hörspiel passiert. Dann eine etwas ironische, vielleicht zynische Möglichkeit, den Titel zu deuten: Dieser Held des Hörspiels, dieser Zeitungsausträger, der sich ja versucht das Leben zu nehmen, von dem wird gar nicht gesagt, warum er das tut, sondern man erfährt eigentlich nur, daß er leidet unter den Schicksalen der anderen, so daß der Titel eine ironische Bedeutung hat. Ich lege mich nicht fest.

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Wer Hirches Hörspielwerk beschreiben will, könnte mit der Feststellung beginnen, daß Hirche die meisten seiner Hörspiele thematisch gewissermaßen paarweise geschrieben hat, daß jeweils zwei seiner Hörspiele gleichsam wie die zwei Seiten einer Münze zusammen zu gehören scheinen. Um dies wenigstens anzudeuten:

Dem Remigrantenstück "Zum Empfang sind erschienen", der Rückkehr des Filmregisseurs John Heath in seine Heimatstadt auf der Suche nach der Vergangenheit, entspricht "Die Heimkehr" der Lehrerin Ruth in ihre schlesische Heimat, die traumatische Rekapitulation ihrer Biographie. Zu der von NS-Zeit und Krieg tragisch überschatteten Geschichte einer Handvoll Waisenkinder in "Nähe des Todes" bilden die in "Lehmann" geschilderten Ferienerlebnisse von 13 Kindern ein fast komödiantisches Pendant. Den tragisch-komischen Erlebnissen eines alten Naturgottes mit den Menschen ("Der Unvollendete") läßt sich der Rückzug des "Einzellers" Oswald von den Menschen ("Der Verlorene") vergleichen. Vergleichen lassen sich schließlich noch die Figuren des Zeitungsausträgers und des Schauspielers in "Miserere" und "Gemischte Gefühle", zwei Hörspielen, die schon durch ihre musikalisch komponierte Stimmenführung strukturell zusammenrücken.

Bereits diese kurze Zusammenstellung mag ausreichen, anzudeuten, daß zumeist eines der beiden Hörspiele in düsteren Farben gehalten ist, während das andere vergleichsweise heiter ironisch daher kommt, so als wolle es Hirche nie bei dem einen Aspekt belassen, als treibe es ihn jedesmal, auch die andere Seite zu zeigen. Das wird vielleicht am deutlichsten, wenn man "Nähe des Todes" und "Lehmann" vergleicht.

Einspielung

Der Erzähler (beginnt auf der Laute die Sarabande von Reusner zu spielen. Nach ein paar Takten spricht er): Sie sind nicht tot, ich habe nicht gesehen, wie sie starben, darum leben sie in ewiger Jugend. Und ich beneide sie. Denn wenn ich sie nicht beneidete, dann müßte ich mich aufraffen und ihren Tod rächen. Und ich dürfte mir die Rache nicht abkaufen lassen, sondern müßte alles tun, was in meiner Macht steht, sie zu rächen, ich müßte jedem erzählen, wie sie gestorben sind. (Er hört auf zu spielen.) Sie haben die ganze Nacht hindurch geschrien, und versucht, mit ihren Händen die Eingeweide in den zerrissenen Bauch zurückzudrängen, und sie sind an den Kanonen festgefroren. Aber niemand will das hören, und ich habe nicht den Mut, die Kränze von den Ehrenmalen herabzureißen und jedem ins Gesicht zu schlagen, der behauptet, es sei süß und ehrenvoll zu sterben. Süß ist nichts auf dieser Welt, und ehrenvoll allein ist es trotzdem zu leben. Ich habe nicht die Kraft, den Mut und die Lauterbarkeit, mich aufzuraffen und ihren Tod zu rächen. Und so bleibt mir nur, um ihnen gerecht zu werden, sie zu beneiden. Nicht deshalb zu beneiden, weil sie tot sind, sondern weil sie jung geblieben sind, in meiner Erinnerung wenigstens. Ihr Großmütigen, laßt mich zurückkehren zu euch, laßt mich teilhaben am Geheimnis eures Glanzes. (Buch, S. 7).

Autor

Mit dieser Bitte, zurückkehren zu dürfen, mit diesem Wunsch einer Heimkehr erinnert sich der Erzähler in die Welt eines Waisenhauses zurück, an seine Bewohner, die - wie die Einleitung andeutet - mit Ausnahme des Erzählers unschuldige Opfer eines brutalen Systems und seines Krieges werden. Doch wird das Hörspiel, auch das macht die Einleitung zugleich deutlich, diesen sinnlosen Tod nicht schildern, nicht den "Mut" aufbringen, "die Kränze von den Ehrenmalen herabzureißen", das "dulce et decorum est" zu entlarven. Es wird die Geschichte der Heimkinder, die Geschichte vom Verlust ihrer Heimat nur bis an den Anfang vom Ende erzählen, in der selbsttäuschenden Annahme einer "ewigen Jugend". Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß die "Heraufbeschwörung des vergangenen Glücks (...) nur durch einen Balanceakt gerechtfertigt werden" könne,

Zitat

indem das spätere Schicksal der Kinder zugleich berufen und vergessen wird, (Dedner, 131),

Autor

was zugleich ein spezielles Dilemma des Hörspiels der fünfziger Jahre andeutet.

Ganz anders, spielerisch, gleichsam im Zahlenspiel führt der Erzähler in die Ferienspiele von 13 Kindern ein, in ihre Erlebnisse mit dem Miniatur-Pegasus Lehmann, in ihre zeitbegrenzte Beheimatung.

Einspielung

Nigel: Lehmann, - Lehmann war die Rettung. Es ist nämlich nicht so leicht, dreizehn Kinder groß zu ziehen, wenn man nicht verheiratet ist und keine treusorgende Mutter die gröberen Arbeiten übernimmt. Tatsächlich waren es ja auch nicht meine eigenen Kinder. Aber sie lebten in einem Hause mit mir und erwarteten, daß ich mich um sie kümmerte. Eins bis fünf waren meine Geschwister, sechs und sieben Schulfreunde von drei und vier, - sie hatten ursprünglich nur die Schularbeiten abschreiben wollen und waren dann gleich dageblieben, - acht hatten wir in der U-Bahn gefunden, schlafend und etwas verwahrlost, von neun wußte niemand, woher er gekommen war, zehn bis zwölf hatten wir mit dem Hause übernehmen müssen, - sie wollten um keinen Preis aus der Bibliothek ausziehen, an die sie gewöhnt waren; sie gaben übrigens nur sehr ungern ein Buch heraus, worunter die Bildung der anderen natürlich litt - und dreizehn war gelegentlich mit der zweiten Post abgegeben worden. (Mskt., S. 1)

Autor

Der in fast allen Hörspielen Hirches deutlich präsente Erzähler bedarf der besonderen Aufmerksamkeit, nicht nur seiner formalen Funktion wegen. Formal muß er die verschiedensten Aufgaben erfüllen. Das Spiel einleitend und kommentierend gliedernd in "Zum Empfang sind erschienen". Als Erzähler und Stimme in einem Spiel, an dem er beteiligt ist, etwa in "Nähe des Todes",("Lehmann", "Der Verlorene", "Die Krankheit und die Arznei"). Als monologischer Erzähler seiner eigenen Geschichte in "Der Unvollendete". Hierher würden wir auch als Sonderform den Monolog der alten Frau in "Die Heimkehr", den Monolog des Zeitungsausträgers Edmund in "Miserere" und die in sieben innere Stimmen aufgefächerte Selbstbefragung der "Gemischten Gefühle" rechnen (zumal die Stimmen, die den Monolog Edmunds begleiten, der Stimmenwechsel in "Gemischte Gefühle" keinen Eigenwert haben, Ähnlich den die Erinnerungen Ruths zäsurierenden Stimmen des Arztes und der Schwester in "Die Heimkehr".) "Die Aufstellung in sieben Stimmen", merkte Hirche, der seinen Hörspielen oft sehr genaue Anweisungen vorausschickt, für die Regie an -

Zitat

Die Aufteilung in sieben Stimmen ist keine schematische, (...) nicht so, daß jede Stimme durchgehend etwas bestimmtes repräsentiert (...). Der Wechsel der Stimmen ist eher musikalisch.

Autor

Und in dem Gespräch mit Klaus Schöning begründet er diese gleichsam musikalische Struktur inhaltlich:

Einspielung Gespräch Schöning/Hirche

(einblenden) einerseits war ich der Meinung, bin ich der Meinung, daß ein innerer Monolog, wie er im Hörspiel so oft legitim angewandt wird, daß dieser innere Monolog in einem Menschen den dauernden Fluß der Gedanken sich ja auch mehrstimmig abspielt. In unseren Überlegungen tauchen Gegenstimmen auf und Abschweifungen und Assoziationen, nicht, daß man unbedingt nun das festlegen muß, das ist die Stimme des besseren Ich, und das eine ist die Stimme des Gewissens, und das andere ist die Stimme des Versuchers. Um diesen Eindruck wiederzugeben, das ist ja ganz realistisch, diese Tatsache, daß viele Stimmen in uns sprechen, habe ich das aufgeteilt. (Mskt., S. 4/5)

Autor

Unter diesem Gesichtspunkt sollte man einmal die wegen ihrer Verschränkung zweier innerer Monologe zum Dialog immer wieder gerühmte "Seltsamste Liebesgeschichte" umgekehrt als einen auf zwei Stimmen aufgesplitteten Erzählermonolog lesen, was sicherlich zu einem interessanten Interpretationsneuansatz führen würde. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man auch die Stimmen der Schwester Gertrud, des Studienrates Dr. Theißmann in "Nähe des Todes" als "innere Stimmen" des Erzählers hören.
Daß dies nicht an den Haaren herbeigezogen ist, ließe sich mit zwei Bemerkungen des Erzählers in "Zum Empfang sind erschienen" belegen.

Einspielung

Erzähler: Ich werde ihn aber nichts von Amerika erzählen lassen, denn - wie wir alle - weiß ich gar nichts von drüben. Amerika, nicht wahr, ist das große Geheimnis. (Mskt., S. 1)

Autor

heißt es dort in der einleitenden Erzählung ziemlich zu Anfang, und kurze Zeit später:

Einspielung

Erzähler: Aber nicht davon soll die Rede sein, und Mister Heath - ich will es nur gleich verraten - ist auch gar kein Amerikaner, ich lasse ihn nur von dort kommen, weil es glaubwürdiger erscheint, daß ein tüchtiger Mensch es dort drüben zu etwas gebracht hat.
(Mskt., S. 2)

Autor

Deutlicher kann kaum gesagt werden, daß dieser Mister Heath, daß die Stimmen des folgenden Spiels Fiktionen des Erzählers sind, da es ja schließlich der Autor ist, der den Erzähler erzählt. Zugleich könnte gefragt werden, ob diese mehr oder weniger deutlich monologischen Hörspiele Hirches nicht eigentlich Stimmen und Gedankenspiele in einem Autormonolog sind.
Ebenso bedeutsam ist ein jeweiliger Bezug zu Kinderstimmen, den Kindern der Spiele. Daß Kinder in den Hörspielen Hirches eine wichtige Rolle spielen, ist schon früh festgestellt, aber zunächst funktionell nicht hinterfragt worden. Erst 1967 hat Schöning eine Differenzierung versucht und Hirche dazu befragt:

Einspielung Gespräch Schöning/Hirche

Schöning: Herr Hirche, in vielen Ihrer Hörspiele finden sich Kinderszenen. In "Zum Empfanmg sind erschienen" bewegen Sie, wenn auch indirekt, den Emigranten, in Deutschland zu bleiben, in "Der Verlorene" finden sich lange Passagen zwischen Vater und Sohn. In "Miserere" füllen die Kinderszenen den ganzen vierten Satz aus und illustrieren die Bemerkung aus dem Hörspiel "Nähe des Todes", in dem es heißt: die Kinder tun schon alles, was sie als Erwachsene auch tun werden. Und in "Der Unvollendete" resumiert der zerrissene Gott, daß er jetzt über den Menschen viel milder denkt, besonders aber über die Kinder. Was für eine Funktion haben diese Kinder in dem poetischen Kosmos des Peter Hirche?

Hirche: Wie Sie schon selber sagten, sie haben jedesmal eine andere Funktion natürlich. Grundsätzlich ließe sich sagen, daß in der Welt Kinder einen gewissen Prozentsatz ausmachen, daß also in Hörspielen, die versuchen, die Welt zu schildern, auch Kinder
vorkommen müssen. Dahinter liegt aber wahrscheinlich noch etwas anderes, sozusagen eine philosophische Idee, daß also diese Trennung im Gegensatz..., die unser Denken seit ewigen Zeiten bewegt, daß diese Trennung falsch ist und uns nicht mehr weiterführt. Also zum Hörspiel die Trennung von Gut und Böse, und Kinder scheinen mir nun in einem Zustand jenseits von Gut und Böse zu leben. Gut und Böse haben keine Bewandtnis für sie. Sie sind weder gut noch böse, sie sind ursprünglich, das, was Gut und Böse ist, lernen sie erst, das wird ihnen erst eingetrichtert, dieses Denken in gut und böse, in dem Unterschied. (Mskt., S. 5/6)

Autor

Man sollte hier noch einen Schritt weitergehen und - die Richtigkeit unserer These, die Hörspiele Peter Hirches seien im Grunde genommen innere Monologe ihres Autors, unterstellt - (weiter)fragen: welches Gewicht die zahlreichen Kinderszenen in der Gedankenwelt ihres Autors haben, oder anders gefragt: welche persönlichen Probleme des Autors sich in den Kinderszenen spiegeln. Auch hier kann ein Vergleich zweier Hörspiele weiterhelfen. Gegen Schluß, in "Epilog und Nachspiel" die Erzählung "Nähe des Todes" abschließend, verabschiedet sich als letztes der Waisenkinder Jeannot. Erzähler und Hörer wissen, daß dies ein Abschied in vielfacher Hinsicht ist.

Einspielung

Erzähler:  Umsonst. Ich kann sie nicht mehr sehen, und es kommt der Augenblick, die Wahrheit zu begreifen. Nicht sie haben mich verlassen, es ist meine Schuld allein. Vielleicht bleiben die Hände ausgestreckt nach mir, aber ich kann sie nicht fassen. Ich rede über mancherlei und sage von Toten, daß sie leben. Aber ich will damit nur sagen: sie leben in der Erinnerung, und das ist zu wenig, wenn nichts von ihnen bleibt, als ein paar Erinnerungen. Das ist zuletzt nicht besser, als wenn sie nie gelebt hätten. Und deshalb...
Jeannot: He, du!
Erzähler: traurig) Bist du noch da, Krümel?
Jeannot: (munter) Sag mir Gutnacht.
Erzähler: Gutnacht.
Jeannot: Englisch?
Erzähler: Good night.
Jeannot: Französisch?
Erzähler: Bonne nuit.
Jeannot: Kinesisch?
Erzähler: (lächelnd) Tintoretto.
Jeannot: (herausplatzend) Ich hab dich mehr lieb als...
Erzähler: Als was?
Jeannot: (lachend) Du weißt schon! (Er entfernt sich.) Du wirst schon wissen
(Nach einem Augenblick des Nachdenkens beginnt der Erzähler auf der Laute die Aria von Hinterleitner zu spielen.) (Buch, S. 60)

Autor

Auch der Miniatur-Pegasus Lehmann verabschiedet sich am Schluß des Hörspiels von den Kindern. Auch sein Abschied ist ein Abschied für immer. Aber anders.

Einspielung

Lehmann: Heute abend gebe ich meine Abschiedsvorstellung. Unten im Kohlenkeller, am Klavier. Der Springbrunnen muß natürlich eingeschaltet werden. Und vielleicht hängen wir Lampions im Garten auf.
Nigel: Also bitte, wir hängten Lampions im Garten auf und schon zum Abendbrot. Und nach dem Abendbrot gingen wir in den Keller an das Klavier. Die Kinder standen dicht davor, und Lehmann trabte über die Tasten. Und wen er mit der Schnauze anstieß, der fing an zu singen.
(Klavierspiel)
Kevin: Als Toms Trompete in das Wasser fiel, riefen alle Flundern, alle Walfische: Ach!
Rebekka: Denn Flundern lieben das Trompetenspiel.
Und die Wale tanzen gerne Walzer danach.
Tom: Riesenblasen stiegen
Robin: Aber das Vergnügen
störte sehr
plötzlich der
Schrei
Alle: Hai!
Roswita: Ei und weih,
wenn der Hai
Sid: übernimmt
und ergrimmt,
Alli: weil das Ding
aus Messing
soviel Krach
macht!
Buttje: Er naht mit Brausen!
Alle: Und wir gleich jausen!
Nelly: Zeigt die scharfen Zeene!
Norbert: Plomben hat es keene.
Ellis: Und sagt bescheiden:
Alle: Und sagt bescheiden?
Ole: Sein Sie nett,
spiel'n Sie's Forellenquintett!
(Gelächter)
Nigel: Die Kinder lachten noch, als Lehmann mir zunickte. Dann schwang er sich auf vom Klavier und flog zum Kellerfenster hinaus. Einen Augenblick sah er groß aus gegen die Scheibe des Mondes. (Mskt., S. 48/49)

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Aber nicht nur Miniatur-Pegasus Lehmann verabschiedet sich, auch für die Kinder ist es eine Abschiedsvorstellung von der unschuldigen, heilen Ferienwelt in der Geborgenheit eines Hauses. Die Eltern werden zurückkehren. Die Ferien sind zu Ende. Der Alltag holt sie ein. "Sag nicht mehr Dady zu mir", weist Nigel seine Schwester zurecht -

Zitat

Sag nicht mehr Dady zu mir. Morgen kommen die Eltern zurück. Die Ferien sind zu Ende.
Aber die Kinder wollen es nicht glauben. Sie liefen hinaus in den Garten und riefen: Lehmann! Lehmann! und tatsächlich antwortete jemand: Was ist denn los? Aber es war nur ein Nachbar, der zufällig Lehmann hieß. (Mskt., S. 50)

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Nigel, der Erzähler und älteste der Kinder dieser Ferienidylle, erlebt bereits bewußt den Abschied von einer heilen Kinderwelt. Als schuldhafte Entfernung, die nicht wieder rückgängig zu machen ist, als schmerzhafte Erinnerung an Unwiederbringliches erfährt der Erzähler in Nähe des Todes seinen Versuch, sich einer unschuldigen Kinderwelt, der Geborgenheit des Heims noch einmal zu nähern. "Die Heimkehr" der sterbenden Ruth wiederholt nur noch einmal den Verlust von Kindheit und Heimat. Ihre viel zitierten, aus dem Zusammenhang des Schlusses herausgelösten Sätze, "Ich habe alle sehr lieb" und "Mehr Glück, als ich ertragen kann", dürfen darüber nicht hinwegtäuschen, wirken aus dem historischen Abstand zu gewollt, fast aufgesetzt. Den Verlust von Heimat und Kindheit, von Heim und Kindheit (ein für Hirche untrennbares Begriffspaar) formuliert auch der Schluß von "Miserere":

Einspielung

3. Mädchen: Und wenn ihr denkt, das dies ein kalter Winter ist, dann irrt ihr euch. Ihr habt nicht erlebt, wie die Winter zu Hause waren. Und sie dauerten ewig. Nicht nur ein paar Tage. Und der Schnee war viel weißer. Natürlich waren auch die Öfen viel größer und die Wände viel dicker. Von den Kuchen will ich gar nicht reden, nur daß die Rosinen viel süßer waren. Aber ihr sagt, daß ihr keine Rosinen mögt, und sie sind ja auch nicht das Wichtigste. Sicher ist morgen Freitag und wir werden Fisch essen. (Buch, S. 48)

Autor

Gleichsam in Umkehrung führt "Miserere" aber auch die grausame Welt der Erwachsenen im kindlichen Spiel, als Kinderspiel vor, spielen die Kinder im "IV. Satz" jene Kriegswelt nach, der die Waisenkinder in "Nähe des Todes" mit einer Ausnahme zum Opfer fallen. Im spielerischen Nachvollzug einer unmenschlichen Erwachsenenwelt wird die Unschuld einer Kinderwelt verspielt.
Das mag alles ein wenig übertrieben herausgehört klingen, läßt sich aber anhand der Hörspiele belegen als literarische Ausformung der Hircheschen Erfahrung eines Kindheit- und Heimatverlustes, den die 'Front- und Heimkehrergeneration', der der 1923 in Schlesien geborene Hirche ja angehört, existentiell erlebte. (Der Emigrant Heath, den spielende Kinder zum Dennoch-Bleiben bewegen, ist im Grunde genommen ebenso ein gespieltes Stückchen Hirchescher Persönlichkeit wie der die Erinnerung an das Heim beschwörende Erzähler Emminger in "Nähe des Todes". Das traumatische Nacherleben des Verlustes von Kindheit und Heimat, einer nicht mehr möglichen Heimkehr dorthin gehört ebenso zur Hircheschen Erfahrungswelt wie die Schuldgefühle Ruths oder Emmingers, wie das Leiden seiner Figuren. "Warum?" fragen Autor-Erzähler in "Zum Empfang sind erschienen" -

Einspielung

Erzähler: Warum leidet mein Geschöpf? Der Mann, den ich zurückkehren ließ? (Mskt., S. 43)

Autor

Nicht von ungefähr ist das Leiden an dem Verlust von Heimat und Kindheit, sind die Schlesische Heimat Hirches, die Kindheit in Schlesien immer wieder thematisiert, in "Die Heimkehr", in "Nähe des Todes"; ja sogar noch der zitierte Schluß von "Miserere" verweist in wenn auch abstrakter Formulierung dorthin zurück. Daß Hirches Hörspiele auch Autobiographisches enthalten, zumindest, "was den Hintergrund betrifft", hat Hirche gesprächsweise selbst berichtet:

Einspielung Gespräch Schöning/Hirche

(einblenden) Ja nur, was den Hintergrund betrifft, da ist also meine Heimatstadt Görlitz geschildert - in etwa - ich bin erstaunt: es haben ein paar Leute an mich geschrieben, die ohne meinen Namen zu kennen, das Hörspiel gehört haben und dann sagten, das muß ja Görlitz sein. Einer hat sogar gesagt, dieser Dr. Theißmann, das ist unser Lehrer Studienrat Dr. Gatter, was in etwa stimmt. Ich meine, ich habe eine Figur genommen, die ich auch gekannt habe, und die ich natürlich sehr verändert habe, nur als Idee, der hat mich damals sehr beeindruckt, der ist 33 aus dem Schuldienst entlassen worden und ins KZ gesperrt worden wie dieser Dr. Theißmann. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen dem gegenüber gehabt, ich konnte ja nichts dafür, ich war ja erst zehn Jahre alt, aber das lebt eben als Erinnerung, und das habe ich dann verarbeitet. (Mskt., S. 19)

Autor

Als Selbstaussprache in Gedanken- und Stimmenspielen könnte man derart eigentlich das gesamte Hirchesche Werk Hören, als Artikulation des Verlustes von Kindheit und Heimat, als Artikulation eigener Leidenserfahrung. Das weist thematisch/inhaltlich das Hörspielwerk Hirches eindeutig dem Hörspiel der fünfziger Jahre zu, über das es nach 1960 vor allem formal hinausweist durch die musikalische Struktur von "Miserere" und "Gemischte Gefühle", eine Struktur, (die jedoch bereits in früheren Hörspielen angelegt, oft durch die auf Bedeutung drängenden Inszenierungen verdeckt wurde.

Ob Hirche zu seiner Thematik und ihrer Ausgestaltung als Schlesier besonders prädestiniert war, ließe sich fragen. Maria Sommer, Lektorin und gute Kennerin Hirches, hat dies jedenfalls bei ihrem Versuch, das Thema "Gnade" als "Grundakkord" des Werkes herauszufiltern, vermutet.

Zitat

Bei Hirche klingt - wie bei jedem Menschen, dem es gegeben ist, zu sagen, was er leidet - ein immer wiederkehrender Grundakkord auf. Alles, was er bisher geschrieben hat, ist, mitunter offensichtlich, oft verschlüsselt, doch spürbar für jeden, der in ein Werk hineinzuhorchen vermag, auf einen Begriff bezogen: die Gnade. Der Mensch, tödlich allein inmitten einer Welt voll Lebewesen, zu denen er Beziehung entweder sucht oder halten muß, vom Schicksal ergriffen, das auf ihn zustürzt und dem er nicht ausweichen kann, bedarf der Gnade, um zu überstehen, um den Sinn zu finden, der in seinem Dasein verborgen liegt. Selten wird in all diesen - äußerlich schmalen - Werken von Gott gesprochen. Aber es scheint, als ob den Menschen aus dem Lande Jakob Böhmes eine alte Sehnsucht eingeboren sei, das Erlangen nach der unio mystica, nach dem Einswerden mit Gott. Der Schlesier Peter Hirche ist alles andere als ein eifernder Frömm1er, der Autor Hirche kein Missionar. Doch immer wieder stellt er jene Frage. Und die Gnade kommt nicht vom Menschen, sie kommt von Gott.

Autor

In kaum einem Hörspiel kommt diese Perspektive deutlicher heraus als in "Die Heimkehr", an jener Stelle, wo die Lehrerin von den Kindern um "das englische Lied" gebeten wird, in dem 'Mißverständnis' der Lehrerin:

Einspielung

Ruth (als junge Frau): Und was wollen wir nun singen, Kinder?
Die Kinder (durcheinander): Das englische Lied, Fräulein Ruth. Ach, bitte, singen Sie das englische Lied. Ja, das englische Lied.
Ruth (singt und spielt auf der Laute):
Because they were always together,
together as sunshine and day -
Die Kinder: (beginnen unruhig zu werden)
Ruth: (wird immer schneller):
Because they were always together
they were always happy and gay.
Die Kinder(durcheinander): Nein, das englische Lied, Fräulein Ruth, das Lied von den Engeln.
Ruth (beginnt in größter Hast die zweite Strophe):
Because they were always so happy,
so happy as nobody else,
because...
(Sie muß vor dem Lärm der Kinder aufgeben. Einen Augenblick Stille)
Ein kleiner Junge: Nein, das englische Lied wollen wir hören. Das Lied von den Engeln.
Ruth (gequält): Ich weiß nicht, was ihr meint.
Ein ganz kleines Mädchen (singt):
Ich weiß ein lieblich Engelspiel,
da ist all Leid vergangen:
im Himmelreich ist Freude viel,
ohn End und Ziel;
dahin soll uns verlangen.
(Ein zweites Kind fällt ein, sie singen zweistimmig weiter)
Da zieht Gott ab der Lande sein
ein Ringelein von Golde:
Sieh, edle Seele, das sei dein,
ja, das sein dein,
denn ich
Ruth (dazwischen): Aber ich darf sie doch nicht mehr unterrichten, die Kinder.
(Der Gesang endet). (Buch, S. 32).

Autor

Und auch das letzte Spiel Hirches, "Die Krankheit und die Arznei", scheint diesen "Grundakkord" anzuschlagen, wenn der Jurastudent, der dem später bei den Nationalsozialisten aufsteigenden inhumanen Polizeikommissar bei einer brutalen Menschenjagd hilft, dabei, "Schuldige zu zeugen, indem man Menschen lange genug schuldig spricht, einen Ausgestoßenen solange zum Verbrecher zu erklären, bis er sich selbst für einen Verbrecher hält" ( so sinngemäß der Pressetext), wenn dieser Jurastudent infolge dieser Erfahrungen zum Priester wird.)

Und trotzdem greift die Interpretation Maria Sommers noch zu kurz. Denn in einem positiven Sinne erscheint diese "Gnade" selten. Im Gegenteil, in einer Wirklichkeit, die charakterisiert ist durch den Verlust von Kindheit und Heimat, von Geborgenheit und Unschuld, scheint weitgehend auch die Fähigkeit, Gnade zu empfangen, verloren gegangen zu sein, erscheint sie allenfalls als vage Hoffnung, als Tagtraum des Autors, als letztmögliches Aufbäumen einer leidenden Resignation.

"Was man nicht "ändern kann", formulierte Hirche 1967, "das muß man mit Gefaßtheit ertragen". Auch dies verweist auf einen Grundtenor der Hörspiele der fünfziger Jahre, rekapituliert als resignative Formel eine Grundhaltung, zu der sich, auf die sich nach Borcherts frühem "Schrei" die 'Front- und Heimkehrergeneration' jetzt zurückgezogen hatte.

Am hektischen äußerlichen (Wieder)Aufbau wollte und konnte sie sich nicht beteiligen. Leidend rückgebunden und rückblickend sahen sie auch keine Veränderungsmöglichkeiten, hielten sie - aus ihrer Erfahrung - die sinnlose Wirklichkeit für zu stark.

Einspielung Gespräch Schöning/Hirche

Ich dränge nicht auf Veränderungen, aber - ich würde sagen - ich habe versucht, doch immer wieder versucht, Gegenbeispiele aufzustellen, als in "Nähe des Todes" beispielsweise die Schwester Gertrud und der Studienrat Theißmann, die da versuchen, eine andere, eine vernünftige Welt eine kleine, vernünftige Welt zu schaffen und die dann allerdings scheitern daran, weil die Wirklichkeit des Staates über die hinwegläuft." (Mskt., S. 4)

Autor

Was blieb, war stellvertretend die Klage um den Verlust von Heimat und Kindheit, der Blick zurück, immer wieder. Eine positive Wendung, die utopische Hoffnung, mit der Ernst Bloch 1959 sein "Prinzip Hoffnung" offen hielt, war dem Hörspiel der fünfziger Jahre, war Peter Hirche (noch) nicht möglich.

WDR III, 11.12.1978