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Reinhard Döhl | ...auch ein Berchtesgadener Künstler!

Wer sich Person und Werk Hermann Finsterlins nähern will, stößt schnell auf Widersprüche, auf Rätsel, die sich oft nur schwer lösen lassen. Die einschlägige Literatur kennt ihn als utopischen Architekten und ordnet ihn dem Expressionismus zu. Und wenn er auch Zeit seines Lebens keine seiner utopischen Ideen verwirklichen konnte, die praktische Architektur beginnt, wenn auch zögernd, ihm zu folgen. Gelegentlich präsentiert man Finsterlin fast ausschließlich als Maler, nicht ohne auf die Schwierigkeiten historischer Zuordnung zu verweisen, auf Finsterlins Herkunft vom Jugendstil aber auch die Surrealität seiner Bilder. Drittens nennt man Finsterlin auch noch als Dichter, verlas und verliest - nachdem Finsterlin selbst 1953 diese Kombination erstmals erprobt hatte - im Rahmen von Ausstellungen und Eröffnungen Gedichte des Künstlers, wie ich es jetzt auch tun möchte.

Das erste Gedicht ist "Musik der Kugeln" überschrieben und spielt unter anderem auf die Sphärenmusik an, was neben Architektur, Malerei und Dichtung auch die Musik noch ins Spiel bringt. Es lautet:

O Ihr lichten Charaktere
Die so prächtig um mich stehn,
Ach Ihr überirdischen Chöre,
Daß ich lebe und Euch höre,
Ewig göttliches Versteh'nI
Meine Andacht ist unendlich
Wenn ich lausche Eurem Klang,
Doch der Meister wird Euch kenntlich
Und mein Wille Euch verständlich,
Wenn die Gottheit in mich sprang.
Derselbe Finsterlin, der sich hier als Meister bezeichnet, in den die Gottheit springt, was wir als Genie übersetzen dürfen, reklamiert an anderer Stelle für sich den "Autodidaktismus", sieht sich also - ein weiteres Rätsel - als Genie und Autodidakt, mit der Begründung, der wahre Künstler könne nur bei sich in die Schule gehen.

Das zweite Gedicht, das in zitieren möchte, stellt - wiederum rätselhaft - dem Sinn den Unsinn an die Seite. Zum besseren Verständnis füge ich hinzu, daß es sich bei der im Gedicht genannten Helene um Finsterlins Frau handelt.

Zwischen der Rolle und dem Mops
Verkehren elf Teslaströme,
Hips hips - hops hops
Bubu -
Ein Sigma stiehlt den Erdenklops,
Maskiert ihn als ein Gottesops -
Helene ach Helene
Was sagst denn Du dazu?

Ein frischer Frosch, gewickelt in
Ein Kuiai, Marke Fridolin,
Fühlt sich nicht ganz behäglich,
(Das ist auch gar nicht möglich) -
O spiele nicht mit Gries - Gewehr
Der Reis ist Dir zuträglicher
Frag nur das Pipsevögelich.

Der Teigaff schwänzt indessen frech
Die Schule des Abemmilech,
Ubi moloch? Erbärmilich -
Mir wird vor Milch ganz wärmelich,
Den Popo hat die Bettelfrau
Vor Piper und Papaver blau -

Sunt aries taurus, gemini cancer lee virgo.

Daß Finsterlin einen solchen Unsinn, den am Schluß noch die Tierkreiszeichen vorn Widder bis zur Jungfrau lateinisch herzählt, durchaus ernst nahm, kann man leicht damit belegen, daß er dieses Gedicht neben anderen in den 50er Jahren ins Französische übersetzen ließ.

Daß sich Finsterlin Zeit seines Lebens als Berchtesgadener Künstler fühlte, hat mein Vorredner bereits angedeutet. Zu dieser 'Regionalität' , die auch Unterschriftensamrnlungen gegen den Auto- und Flugzeugverkehr auf bzw. über der Schönau miteinschloß, zu dieser 'Regionalität' auf der einen Seite gehört - eine weitere Polarität - auf der anderen Seite eine auf letzte Fragen drängende Essayistik, kosmische Bildlichkeit und utopische Architektur Und da dies immer nur punktuell wahrgenommen wurde, haben wir zum Beispiel heute den Fall, daß amerikanische oder japanische Architekten von Finsterlin wissen, daß die große Stuttgarter Ausstellung der "Aquarelle und Modelle" aus dem Jahre 1988 nach Stuttgart, Münster, Düsseldorf sogar in Moskau (mit einem eigenen Katalog in russischer Sprache) Station machte, daß aber der Berchtesgadener Künstler, daß Finsterlin im Berchtesgadener Land heute noch auf seine Entdeckung wartet. Und dazu sind erst einmal eine Reihe von Daten und Fakten zu sichern.

Ungeprüft hat nämlich eine Publikation nach der anderen eine widersprüchliche Biographie kolportiert, bei der bereits die Eckdaten ungenau, oft falsch sind. So lautet zum Beispiel die entwicklungsgeschichtliche Abfolge nicht, wie überall nachzulesen: Abitur - abgebrochenes Studium der Naturwissenschaften - Kunstakademie - freischaffender Künstler, sondern praktisch umgekehrt: Abitur - abgebrochene künstlerische Ausbildung in München - freischaffender Künstler überwiegend schon in der Schönau und in München - abgebrochenes Studium wiederum in München - Heirat und endgültiger Umzug als freischaffender Künstler in die Schönau, wo Finsterlin noch - zumindest im Sommer - wohnen blieb, als seine Familie längst nach Stuttgart umgezogen war. Seine regelmäßigen Beteiligungen an den Gemeinschaftsausstellungen der Berchtesgadener Künstler bis Ende der 30er Jahre, und dies, obwohl er seit 1919 national und international bekannt war, sprechen hier eine deutliche Sprache, lassen fragen, was Finsterlin mit Antäuskräften an dieses sein Bergasyl fesselte. Und man wird darauf zwei Antworten finden.

Das Leben in der Stadt, übertreibt eine kurze Selbstbiographie Finsterlins keineswegs, hatte nach den Jahren im Hochgebirge jeden Reiz für mich verloren. Diese märchenhafte grandiose Naturwelt schien mich mit Antäuskräften zu fesseln, ein Verlassen derselben war Entwurzelung und Verlust aller schöpferischen Impulse.

Die zweite Antwort liegt im künstlerischen Schlüsselerlebnis, das sich in Wirklichkeit aus zweien zusammensetzt, erstens aus der von meinem Vorredner schon genannten nächtlichen Watzmannbesteigung, die, der vorliegenden Literatur zufolge, entweder in einer Silvesternacht oder in einer Frühlingsvollmondnacht oder einfach nur in one moon-lit night entweder 1910 oder 1919 oder sogar erst 1920 stattgefunden hat - Forschungsergebnisse, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muß.

Korrekt fand diese Bergfahrt 1918 statt mit dem Gipfelergehnis, daß Finsterlin, ich zitiere: die schöpferischen Künste als einziger grandioser Abglanz der gesamten Schöpfung [erschienen]. Die Allmacht, die Urphänomene ins Unendliche komponieren und variieren zu können, zeit- und raumlos gebundene Ereignisse bildhaft, klanglich oder wörtlich erstehen zu lassen und in einem unbeschränkten grenzenlosen Spiel unter dem einzigen Gesetz einer lebensfähigen Bild-, Klang- oder Wortorganisation eben der naturgesetzlichen Ästhetik sine qua non, die selbst den groteskesten Naturgebilden eignet, da hier jede Dissonanz, jede Übertreibung in die lebensfähige Balance rückt, in die überordnete Harmonie, war mir höchster Sinn des Lebens.

Erst ein zweites Schlüsselerlebnis fügt den in diesem Zitat genannten drei Kunstarten der Malerei, Musik und Dichtung die Architektur hinzu. Es war dies ein zwischen Watzmannbegehung und Anfang 1919 zu datierender "Architekturtraum", in dem sich Finsterlin aus dem architektonischen Gefängnis der primitiven Steinwürfel mit den paar Kisten drin [...] in eine seltsame farbige Grotte mit reizvoll ausgekurvten Wänden und Ecken träumte. Mit der Folge, daß er einige solcher "Traumhäuser" auf dem Papier entwarf, um in ihnen - nach eigenem Bekunden - in der Phantasie zu leben.

Diese "Traumhäuser" waren es auch, die er Anfang 1919 - einem Aufruf Walter Gropius folgend - nach Berlin sandte und die ihm zum künstlerischen Durchbruch verhalfen.

Dennoch - dieser schnelle und heute auch international unbestrittene Erfolg als utopischer Architekt darf nicht davon ablenken, daß es daneben und von den Architekturen eigentlich gar nicht zu trennen, auch das andere Werk aus Bild, [...], Klang und Wort gab und gibt, das Finsterlin in einer bis heute nie wieder erreichten Komplexität 1928 im Stuttgarter Landesmuseum ausstellte, unter der bezeichnenden Überschrift "Formen - und Farbenphantasien und -spiele".

Dieses Hin und Her der Bezüge kann ich in der Kürze einer Ausstellungseröffnung nicht nachzeichnen. Ich beschränke mich deshalb auf die Skizze zweier für das Verständnis der Finsterlinschen Kunst zentraler Aspekte, die Entwicklung seiner Bilder und Architekturen aus Farb- und Linieninspirationen und das für dieses Werk zentrale Moment des Spiels.

Jedes meiner phantastischen Ereignisbilde, schreibt Finsterlins Selbstbiographie, sei von je erst aus gegenstandslosen Farb- und Linieninspirationen erwachsen, wie die Architektur auch. Das verweist auf eine Traditionslinie der abstrakten Malerei, deren Kronzeuge der italienische Kunstkritiker Vittorio Imbriani ist. Der hatte 1868 gefolgert, die macchia, der malerische Ansatz sei das Entscheidende eines Bildes, nicht seine literarische Idee. Die Mehrdeutigkeit von macchia (= Fleck, Klecks, Buschwerk, Dickicht, und in übertragenem Sinne: Skizze) ist es auch, die Imbrianis Folgerung für Finsterlins Arbeiten interessant macht. Denn eine Reihe kleinerer, mittlerer und großer Blätter voller Farb- und Linieninspirationen haben mehr als nur Atelierwert. Sie bestätigen, daß das, was Finsterlin Farb- und Linieninspiration nannte, automatische Form- und Farbnotation war, eine peinture automatique, die Finsterlin als Fundus, als - wie er es nannte - Mutterlauge für seine Ereignisbilder betrachtete. Diese Skizzenblätter zeigen ferner, wie Finsterlin durch Ausgrenzen, Nachzeichnen, Fortführen im Detail die jeweilige macchia, das jeweilige Lineament in eine phantastische Gegenständlichkeit oder in Richtung der Architektur trieb. Zuschriften am Blattrand oder im Blatt lassen ablesen, in welche phantastische Richtung Finsterlin das jeweilige Ereignis deutete, welches Ereignis er in die jeweilige Farb- und Linieninspiration hineinsah. Hatte Imbriani gefolgert, nicht die literarische Bildidee, der malerische Ansatz sei das Entscheidende, wird Finsterlin mit dem Ausdeuten der macchia allerdings rückfällig. denn indem er seinen malerischen Ansatz, seine automatische Niederschrift nachträglich inhaltlich besetzt, nimmt er seinem Ansatz die abstrake Unschuld. Überzeugt von der Richtigkeit seines Verfahrens, hat er so Anfang der 20er Jahre den radikalen Schritt zum Informel, zum Tachismus, zu dem er mit seinen Farb- und Linieninspirationen schon auf dem Weg war, nicht vollzogen.

Der zweite Aspekt, auf den ich abschließend zu sprechen kommen wollte, war das Spiel. Eines der vielen Spiele, die Finsterlin erfindet, bestand aus Karten, die entweder Zahlen oder Farben oder Eigenschaften oder Gegenstände oder Tätigkeiten bezeichneten und nach bestimmten Regeln aufzunehmen waren. Das ergab Texte zum Beispiel der Art:

Grüne Tintenfische sprossen aus elf roten Glasspinnen und schießen aus ihren Näpfen Ketten von orangefarbenen Herzen. Die zerfallen in blaue Kamele aus Papier, während Elefanten aus Metall gelb-violette Wachsbäume aussaugen mit ihren Rüsseln.

Aus schwarz-rot wechselnden Spinnen entpuppen sich blitzende Frösche, die orangefarbene Blumen ausbrüten, und kleine Wappenlöwen verschlingen. Blaue Masken aus Wachs schmarotzen dieweil auf gelbgestreiften Wolkenbogen, aus denen es goldene Elfen regnet.

Zwei schwarze Glaszähne saugen rote Lichttempel aus und verwandeln sich dann in Metallregenbogen, deren jeder Farbenbogen, aus einer Zahnwurzel wachsend, zu einem gleichfarbigen Herz wird. Ein Schachtelsatz aus gelben singenden Seepferdchen kriecht in die Herzen und wandelt sich zu Glockenklöppeln, womit die Herzen sich in die Luft erheben und läuten. [...]

Das erinnert nicht nur, das berührt sich sogar konkret mit den instabilen, unsinnigen Textwelten der Dadaisten, die Finsterlin trotz seiner immer wieder beteuerten Bergeinsamkeit sehr wohl kannte. Wichtiger als dies aber ist noch, daß Finsterlin sein Kartenspiel nicht ausschließlich als Anregung zu phantastischen Geschichten für Erzählung, Bühne usw. gedacht hatte oder in Gedichte umformte - so reimte er z.B. aus der zweiten zitierten Sequenz die Strophen
Aus schwarzrot spiel'nden Spinnen blitzen Frösche,
Die brüten goldenwarme Blüten aus,
Herald'sche Leue werfen lauter Päsche
Mit fleckigen Masken, Stern schmarotzt darauf.
Aus gelbgestreiftem wächsernem Gewölke
Regnen gar goldne Elfen auf ein Herz.
Das kocht in einem Kelch der Feuernelke,
Und plötzlich fließt das alles himmelwärts,
was freilich die ursprünglich erspielte unsinnige Textwelt nicht besser macht sondern ihr, ähnlich den nachträglichen inhaltlichen Besetzungen der Farb- und Linieninspirationen, den spielerischen Ansatz nimmt -

Wichtiger als dies aber ist, sagte ich, daß Finsterlin sein Kartenspiel nicht ausschließlich als Anregung zu phantastischen Geschichten für Erzählung, Bühne usw., also literarisch gedacht hatte, sondern in gleichem Maße als Quelle für bildhafte Komposition und Illustration. Man darf den zitierten Text also auch auf jene Bilder beziehen, auf denen sich zum Beispiel Elefanten tummeln, die ihrerseits wiederum aus einer Farb- und Linieninspiration erwuchsen und sofort.

Finsterlin hatte bei Paul Scheerbarth gelesen und sich ausdrücklich bekannt zu folgender Permutation:

Im Stil ist das Spiel das Ziel
Im Spiel ist das Ziel der Stil
Am Ziel ist das Spiel der Stil.
An diesem Ziel ist Finsterlins alle Kunstarten umfassendes und verbindendes Spielen nicht angekommen. Wer dies bedauert, möge aber zugleich bedenken, daß Utopie, und Finsterlin war unter anderem utopischer Architekt, einen Ort bezeichnet, auf den hin wir alle unterwegs sind, ohne ihn je zu erreichen, ein Ziel, das, wie Ernst Bloch sein "Prinzip Hoffnung" enden läßt, allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. Ich würde mich freuen, wenn die heutige Ausstellung den Berchtesgadener Künstler Hermann Finsterlin seiner Heimat wieder einen Schritt näher gebracht hätte.

[Bad Reichenhall, 18.3.1991]