Reinhard Döhl / Hans-Christian Kirsch | Zwischen Bildung und Notstand

"Also, meine Freunde", sagte Friedrich Nietzsche am 5. März 1872, "verwechselt mir diese Bildung, diese zartfüßige, verwöhnte, ätherische Göttin nicht mit jener nutzbaren Magd, die sich mitunter auch die 'Bildung' nennt, aber nur die intellektuelle Dienerin und Beraterin der Lebensnot, des Erwerbs, der Bedürftigkeit ist. Jede Erziehung aber, welche an das Ende ihrer Laufbahn ein Amt oder einen Brotgewinn in Aussicht stellt, ist keine Erziehung zur Bildung, wie wir sie verstehen, sondern nur eine Anweisung, auf welchem Wege man im Kampfe um das Dasein sein Subjekt rette und schütze. Freilich ist eine solcheAnweisung für die allermeisten Menschen von erster und nächster Wichtigkeit."

Es ist kein Geheimnis mehr: die deutsche Universität ist unterentwickelt. Der Spiegel brachte es an den Tag. Eingeweihte wissen: es steht noch schlimmer. Der Fall der deutschen Universität zur höheren (Fach)Schule kann morgen schon eingetreten sein. Ihm steht wenig mehr entgegen. Und jeder schiebt jedem den Schwarzen Peter zu.

Es geht um überfüllte Hörsäle. Es geht um die Auffassung des Studiums. Es geht um die Idee der Universität, und so geht es weiter um die akademische Freiheit, die Freiheit der Studentenpresse, um Studentenwohnheime und Stipendien, um Verbindungen und das Ausländerstudium. Und so geht es nicht weiter.

Auf der einen Seite gefährden neue Hochschulverfassungen nicht nur die studentische Sebstverwaltung, auf der anderen Seite wird diese in leeren Wahlurnen zu Grabe getragen. Auf der einen Seite wirft man den Studenten zu viel Materialismus, Rentnergesinnung, Risikoscheu, Indolenz, geistige Trägheit vor, auf der anderen Seite schießt man mit vollen Breitseiten auf eine noch nicht gleichgeschaltete, noch nicht amorphe Studentenpresse: Spatzcn für den Staatsanwalt.

Man kann Fragen stellen. Ist Humboldt überholt? (Vielleicht ist er das. Vielleicht ist er auch nur unbequem.) Ist die Umwelt daran schuld? (Vielleicht ist sie das wirklich, nur zum Spaß mal angenommen. Sind die Studenten ihrer Verantwortung noch bewußt? (Bloß keine Experimente!) Steht also ein akademisches Proletariat vor den Toren? kann man fragen ad infinitum.

Ohne Frage bedeuten 275 000 künftige Studenten ein Problem bei zu wenig Hochschulen, bei zu wenig Professoren, bei zu wenig Wohnungen und zu hohen Mieten, bei - vor allem bei einem weitverbreiteten öffentlichen Desinteresse an den Kernfragen einer längst überfälligen Reform. Ohne Frage hat ein wie ehemals die Pest grassierender Materialismus seine Folgen (time is money: Ausbildung kostet Geld: schlaf schneller, Genosse). Ohne Fragen stellt eine dafür in Kauf genommene freiwillige Demontage aller garantierten Freiheiten auch eine ideelle akamische Freiheit in Frage. Die Studentenpresse weiß manchmal ein Lied davon zu singen.

Davon abgesehen werden Memoranden, Studien, Pläne, Empfehlungen und Projekte zeitaufwendend ausgearbeitet und zu Buche geschlagen. Sie vermögen sogar ein gewisses öffentliches Interesse zu verbuchen. Aber sie kosten Geld. Das ist ihr Handicap. Und deshalb schieben Bund und Länder sich reihum den Schwarzen Peter zu, obwohl der Bund laut Grundgesetz für die Förderung der wissenschaftlichen Forschung, die Länder für die anstehenden Personal- und Sachfragen verantwortlich zeichnen. Und Förderung der wissenschaftlichen Forschung meint dabei gewiß weniger eine fragwürdige Stipendienpolitik als vielmehr die Erfüllung just jener notwendigen Forderungen, die der Wissenschaftsrat zu empfehlen sich genötigt sah.

Daß es damit kaum getan ist, liegt nicht nur an den inzwischen wieder überholten Empfehlungen. Man wird statt vieler weiterer Worte dem Experiment das Wort reden müssen, wenn es um die Weiterexistenz und das künftige Gesicht der deutschen Universität geht. Der Rothe-Plan weist andere Wege als die an Humboldt orientierten Vorschläge Ernst Anrichs. Von höheren (Fach)Schulen lassen sich beide nichts träumen. Man wird der gewiß vorhandenen Risikoscheu einer amorphen Studentenschaft energisch zu Leibe rücken müssen (und dabei die Gefahr gewisser Verbindungen und Verbände nicht übersehen dürfen). Aber das geht nicht über die Grab(bei)legung der studentischen Selbstverwaltung und die Abdrosselung einiger noch freier, Meinungsbildung versuchender Meinungsorgane. Man wird dem Studenten die Möglichkeit zu harter geistiger Arbeit und wissenschaftlicher Betätigung ermöglichien müssen. Und dazu bedarf es geeigneter Seminare ebenso wie eines geeigneten Arbeits- und Lebensklimas. Der Mietwucher wirtschaftswunderlicher Christen, der Mangel an Wohnheimen verhelfen dazu ebenso wenig wie überquellende Seminare. Man wird all dies und eine Menge anderes tun müssen, will die deutsche Universität überleben und je wieder zu dem werden, was sie einmal war: geistiges Zentrum wissenschaftlicher Lehre und Forschung.

Heute - war doch der Kauf unbrauchbarer Düsenjäger vordringlicher als der Wiederaufbau kriegsgeschädigter Universitäten - ist nicht nur das Niveau der deutschen Wissenschaft bedenklich gesunken, auch die ehemals international führenden Fakultäten haben kaum noch europäische Bedeutung. Heute - und das liegt gewiß auch an der Belegschaft - hat die deutsche Universität im Ausland oft geringes Ansehen und hat sich hierzulande den Verdacht der "Schnellpressen für Doktoren" eingehandelt. Heute ist es, wenn nicht alles täuscht, höchste Zeit, daß man sich der unbequemen Besinnung auf die Idee der deutschen Universität einmal gründlich unterzieht, wenn vielleicht auch ohne große Hoffnung auf baldige Reform, absehbare Besserung auf Erfolg.

Noch scheint es eine Anzahl unabhängiger, kritischer, nicht saturierter Studenten zu geben, die aus ihrem akademischen Herzen keine Fördergrube und aus ihrer akademischen Freiheit keinen Fachunterricht machen zu lassen gewillt sind. Nach einer "vorsichtigen Schätzung" der Deutschen Zeitung sind dies nicht

weniger als ein bis eineinhalb Prozent der Studierenden. Es sind auch nicht mehr, und es ist einiges, was sie anzumerken haben, auch wieder die amorphe Masse ihrer Kommilitonen, um nichts unversucht zu lassen.

Die Herausgeber haben zehn Studenten gebeten, einiges anzumerken. Ihre Autoren stehen also nicht repräsentativ für künftige Z75 000 Studiker. Sie sprechen allerdings repräsentativ für 275 000 mögliche "Studenten", an deren mögliches Vorhandensein sie immer noch glauben. Natürlich können in einem Taschenbuch nicht alle Fragen erörtert werden, die sich bei einem solchen Unternehmen notwendigerweise einstellen, und manches wird nur angedeutet sein. Manches wird ganz fehlen: so die Behandlung der Versuche, von Klerus und Staats wegen (über die Kultusministerien) in die garantierte Freiheit der Forschung und Lehre einzugreifen (die Fälle Hagemann, Riemek, Bense sprechen hier Bände). Was innerhalb eines Taschenbuches aber möglich ist, soll zur Sprache und zum Auge des Lesers kommen. Es sollte - so hofft ein gewisser unbelehrbarer Optimismus der Autoren und Herausgeber - sogar zur Diskussion kommen. Daß die Autoren dabei in jedem Fall ihre eigene Meinung und nicht die Meinung der Herausgeber - die gar nicht einer Meinung sind - vertreten, versteht sich von selbst. Daß Autoren und Herausgeber vielfach einer Meinung sind, erwies sich erfreulicherweise nach Zusammenstellung der Manuskripte. Daß die vertretenen Meinungen nicht immer mit der öffentlichen Meinung identisch sind, entspricht der kritischen Intention und war zu erwarten. Daß andere Meinungen möglich sind, entspricht der Vielschichtigkeit des Komplexes und ist als Spielregel selbstverständlich. So enthält die abschließend zusammengestellte (provisorische) Bibliographie nicht nur die von den Autoren herangezogene Literatur, sondern auch Titel, deren Ergebnisse und Auffassung von den Autoren und Herausgebern angezweifelt oder bezweifelt werden. Die Titel sind allerdings auch deshalb aufgenommen, weil die z.T. zwar verhältnismäßig leicht zugängige Literatur, oft weit verstreut, nicht unbedingt leicht übersichtlich ist. Die Herausgeber und Autoren hoffen allerdings, daß einige Institutionen einem privaten Interesse zugänglicher sind, als sie es einigen Autoren gegenüber bei der Fertigung der Manuskripte waren.

Abschließend: Die deutsche Studentenschaft hat sich in unseren wirtschaftswunderlich restaurativen Breiten in den letzten Jahren zu einem bevorzugten Prügelknaben ausgewachsen, sei es, daß man denen, die im Zuge der Zeit die Finger nach dem großen Wunderkuchen ausstrecken und daran partizipieren

Wollen, materielles Denken vorwirft, sei es, daß man wenigen, die im Zuge der Zeit nicht mitfahren (oder nur, insofern sie das Backrezept kritisch herauspulen wollen) auf die Finger klopft, auf deren Nägeln es ihnen brennt. Eine gewisse Unbelehrbarkeit lehrt sie aber immer noch, Sand im Hefeteig zu sein, wie ihnen gesagt wurde.

Es geht um die überfüllten Hörsäle. Es geht um die Auffassung des Studiums. Es geht um die Idee der Universität und so geht es weiter um die akademische Freiheit, die Freiheit der Studentenpresse, um Studentenwohnheime und das Ausländerstudium. Es geht um dies oder das, um die Zukunft. Und so geht es nicht weiter. "Ich für meinen Teil", sagte Friedrich Nietzsche 1872, "kenne nur einen wahren Gegensatz, Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnot: zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich."

Und davon wird im folgenden auch zu reden sein. Unter anderem.

Gemeinsames Vorwort zu den von Reinhard Döhl / Hans-Christian Kirsch hrsg.n Essays: Der Student. Zwischen Bildung und Notstand. Polemik der geistigen Jugend. München: List 1962. Listbücher 211