Traugott Schneider [d.i. Reinhard Döhl] | Klangraum aus 2293 Geräuschen
In Köln zum ersten Mal die "Acustica International"

Es gibt Gleichzeitigkeiten, die kein Zufall sind. In seinem Sonderprogramm "Radiokultur - Kulturradio" widmete sich der Südwestfunk in Essays und Beispielen auch dem Hörspiel, dessen "Zukunfts-Aussichten" durchaus skeptisch gesehen wurden, obwohl die gesendeten Beispiele eher Mut machen. Denn sie umfaßten mit Günter Eichs "Die Andere und ich" einen Klassiker des literarischen, mit Ernst Jandl/Friederike Mayröckers "Fünf Mann Menschen" einen Prototyp des "Neuen Hörspiels", dessen entschiedene Weichenstellung nicht nur den Blick frei machte auf historisch verschüttete Gattungsansätze, sondern gleichermaßen die Voraussetzungen schuf, die John Cage, Mauricio Kagel u. a. zur Radiokunst führten.Cages "Irischer Circus über Finnegans Wake", "Roaratorio", aus dem der SWF nur einen Ausschnitt sendete, bildete kurz zuvor als Live-Performance über 42 Lautsprecher mit dem sprechenden und singenden, von zwei irischen Bohdran-Spielern begleiteten Cage in einem aus 2293 Geräuschen sich formenden Klangraum den frenetisch beklatschten Höhepunkt der "1. Acustica International" in Köln. Zu diesem Treffen von "Komponisten als Hörspielmacher[n]" hatte das Hörspielstudio des Westdeutschen Rundfunks unter Klaus Schöning eingeladen.

Geboten wurde eine Ausstellung von Partituren, Notationen und Renotationen im Kölnischen Kunstverein. Zudem gab es fünf
Referat- und Diskussionsforen zu den Themen "Komponisten-Radio-Hörspiel", "Sprache-Musik-Hörspiel", "Hörspiel in vielen
Medien", "Mauricio Kagel" und "Hörspiel-Unterricht-Radio", auf denen auch Wissenschaftler aus Baden-Württemberg, Rudolf Frisius (Karlsruhe) und Reinhard Döhl (Stuttgart) mehrfach vortrugen. Und schließlich präsentierte man zahlreiche, mit dem
WDR-Hörspielstudio erarbeitete akustische Spiele.

Kaum eines fiel ab. Manches fiel auf: die internationale Breite bei Publikum und Künstlern, unter denen die Amerikaner (Cage, Bill Fontana, Malcolm Goldstein, Tom Johnson, Alison Knowles, Charlie Morrow) bis in die Terminologie (= Live-Performances)
dominierten. Liefen über sie die Traditionslinien zurück zu Fluxus, Happening, Concrete Poetry, zu den frühen Tonbandcollagen und Kompositionen mit Radioapparaten eines John Cage, brachten die Franzosen Henri Chopin und Pierre Henry das Erbe des
Lettrismus, der Musique concrète und éléctroacoustique ein, demonstrierten Juan Allende-Blin, Klarenz Barlow und Vinko Globokar die Internationalität dieser neuen Rundfunkkunstwerke.

Unter den akustischen Ereignissen ragten dabei vor allem heraus die von Fontana auf dem Roncalli-Platz vor dem Dom installierte Klang-Skulptur der Stadt Köln, das an gleichem Ort live realisierte, frösteln machende Kagel-Hörspiel "für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher", "Der Tribun" (Sprecher: der Komponist), die "Kleine Geschichte der Zivilisation" von und mit Gerhard Rühm am Flügel: ein Hörspiel ohne Worte (Aula der Musikhochschule), der Versuch Henrys, Walter Ruttmanns berühmten Stummfilm "Berlin - Symphonie einer Großstadt" mit seinem Hörspiel "La Ville/Die Stadt" kontrapunktisch zu verbinden (Großer Sendesaal) und, neben dem "Roaratorio", Cages große, geflüsterte akustische Meditation "Muoyce. Fifth Writing through Finnegans Wake" (Großer Sendesaal).

Es ist keine Frage nach diesem Kongreß in Köln: Das Hörspiel lebt. Einen der Gründe nannte Kagel: seine indefinite Form; einen anderen Cage, der betonte, "daß der Sinn der Musik und (...) des Hörspiels darin" bestehe, "den Geist zu ernüchtern und zu beruhigen, um ihn so für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen. Das ist der traditionelle Grund Musik zu machen; und ich habe ihn, seit ich ihn kenne, immer akzeptiert."

Stuttgarter Nachrichten 8.11.1985