BioBibliograffiti | Über Reinhard Döhl
Gisela Ullrich | Wahnsinn und Gegensinn

Textbilder von Reinhard Döhl in Botnang

[Bild]

Dem Wahnsinn, auf den die Dadaisten mit Unsinn reagierten, sind wir heute mindestens genauso nahe wie vor 70 Jahren, und wer weiß, ob sie nicht über die Veranstaltungen, mit denen man der 100. Geburtstage von Arp, Ball und Schwitters gedachte oder gedenken wird, noch im Grabe ihr gewaltiges Gelächter anstimmen. Reinhard Döhl, wie Hans Arp am 16. September geboren, verbindet manches mit den Dadaisten. Zum einen ist er als Literaturwissenschaftler auf diesem Gebiet ein Kenner, zum anderen setzt er, auf seine Weise mit den Elementen der Sprache spielend, den Unsinn fort und hat, drittens, das Kulturleben betreffende Erfahrungen gemacht, die dazu führten, daß er seine Arbeiten in Stuttgart nicht mehr zu zeigen bereit ist. Insofern war der Geburtstagsabend im Botnanger Bücherladen eine Rarität für Stuttgart. Eingerahmt von Döhls Textbildern hörte das Publikum einen Vortrag über "Dada - Unsinn und Kunst", der Klarheit in die Vorstellungen und Begriffe brachte.

Der ambivalente Ausdruck "Unsinn" hat ja offensichtlich eine Tendenz zur negativen Auslegung in "Blödsinn", wogegen sich schon Hans Arp nachdrücklich wehrte: "Dada ist für den 'Ohne-Sinn' der Kunst, was nicht Unsinn bedeutet. Dada ist ohne Sinn wie die Natur und gegen die Kunst". Und Döhl ergänzt, daß dies auch "Gegen-Sinn", das heißt gegen den etablierten Sinn gerichtet, meint. Unsinn antworte auf einen Sinn, der seine Integrität verloren hatte. Dadaistische Destruktion widersetzte sich sowohl dem Mißbrauch von bürgerlichen Wertvorstellungen im Dienste nationaler und aggressiver Propaganda im Ersten Weltkrieg, als auch der tradierten bürgerlichen Ästhetik, der "Rezeption des postulierten Kunstschönen" (Döhl).

"Mir tut der Unsinn leid, weil er bislang so selten geformt wurde", hat Schwitters gesagt. Hugo Ball sprach von neuen Bildern, die die Natur, statt sie nachzuahmen, vermehre. Am Beispiel ihrer Auftritte im Cabaret Voltaire, an ihren Beziehungen zum mittelalterlichen Narrenspiel, veranschaulichte Döhl, wie die Dadaisten ihre Kunstansichten realisierten.

Betrachtet man Döhls eigene Kunstobjekte, werden Verbindungen zum Gegen-Sinn der Kunst, wie ihn die Dadaisten verstanden, erkennbar. Diese Buchstabenbilder, Textbilder, Bildtexte sind Spiele mit Wörtern, mit Gedrucktem. Weil dieses Spiel - ein Zeitvertreib, auch ein "Zeitungsvertreib" - Gebrauch von dem Vorhandenen macht, ohne sich seinem vorgeblichen und vorgegebenen Sinn unterzuordnen, entsteht aus ihm Neues. Texte, zerrissen, gefaltet, mit Farbe überschüttet, unleserlich gemacht, erstehen zum Bild wie der Phönix aus der Asche. Nicht selten mit Pointen. Wer kennt nicht Döhls berühmten Apfel mit Wurm! Das Werk, das sich in fast drei Jahrzehnten ständig weiter entwickelte, verdient Beachtung und ist bis 16. Oktober im Botnanger Bücherladen zu sehen.

Stuttgarter Nachrichten, 20.9.1986