BioBibliograffiti | Über Reinhard Döhl
Irene Ferchl | Stuttgart. Literarische Wegmarken in der Bücherstadt.

[S. 9] Es sind wenige Topoi, die immer wiederholt werden. Auf der Haben-Seite zählt dazu die topographische Lage, wegen der Alexander von Humboldt Stuttgart zu den sieben schönsten Städten der Welt gezählt haben soll, und die Christian Wagner zu seiner begeisterten Einschätzung als einem schwäbischen Florenz brachte. Karl Gerok prägte gerührt das Bild von einem goldenen Kleinod, in Samt gebreitet, während Thaddäus Troll dialektisch geschult von einer "Nachtsch"nheit ohne Nachleben" sprach.

An Kneipen fehle es vor allem, analysierte vor ein paar Jahren ein Verleger, nur deshalb sei Stuttgart keine Literaturstadt. Therese Huber wiederum sah zu viele verhockte Wirtshauskreise oder geschlossene Zirkel und zu wenig literarische Öffentlichkeit, kein geselliges Gespräch über neue Bücher, Theaterstücke, Kunstwerke. Doch Wilhelm Raabe erinnerte sich, nachdem er Stuttgart längst wieder verlassen hatte, an "ein Litteraturleben im besten Sinne".

Es sei einfach ein historisches Phänomen, daß Künstler immer verprellt würden, behauptete Reinhard Döhl. Und Peter Härtling ergänzte, es hängt immer von den Leuten ab, die grade da sind, "allerdings besteht die Neigung, daß Leute, die da sind, niedergebügelt werden". Aber ob das nun spezifisch stuttgarterisch ist? [...]

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[S. 128] Daß das Foyer der Stadtbücherei im Wilhelmspalais auch in Wirklichkeit Schauplatz derartiger Transaktionen werden könnte, ist natürlich denkbar... Fest steht, daß sich der vor kurzem von Wien nach Stuttgart übergesiedelte Autor Heinrich Steinfest mit seinem satirischen Kriminalroman "Der Stern von Stuttgart" in den hiesigen Literatenzirkel hineinschreiben wird. Will heißen, er wird vermutlich alsbald in den Parnaß aufgenommen und in einem Raum archiviert, der die "Stuttgarter Literaturszene" eingemeindet. Fast sechzig Autorinnen und Autoren sind darin vertreten: in der Stadt lebende, mit lokalen Preisen ausgezeichnete und einige, die zufällig mit Büchern und Vita in die Stahlregale geraten sind. Prominent ist, wer - wie Peter 0. Chotjewitz, Reinhard Döhl, Margarete Hannsmann, Heinz E. Hirscher und Johannes Poethen - in Vitrinen ausgestellt wird. [...]

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[S. 218 ff.] Max Bense, nach dem bisher keine Straße, doch immerhin der größte Veranstaltungsraum der Stadtbücherei im Wilhelmspalais benannt wurde, ist im allgemeinen Bewußtsein präsent - anders als es seine Äußerung vermuten läßt: "Daß Stuttgart eines Tages nur ein Ort meiner Füße gewesen sein wird".

Die Bezeichnung "Stuttgarter Schule", die nicht den Kreis seiner akademischen Schüler meinte, sondern eine Gruppe von Schriftstellern, geht auf Manfred Esser zurück und wurde von Ludwig Harig, dem Schriftsteller aus dem Saarland, der häufig auf Stippvisite hereinschaute, in verschiedenen Variationen beschrieben, analog der "Schule von Athen" auf Raffaels Gemälde. Während Max Bense, nicht als einzelne Person wie auf dem Bronzedenkmal, auf das ihn Arno Schmidt in seiner Gelehrtenrepublik gestellt hat, sondern als:

Plato und Aristoteles in einer Gestalt, auf höchster Treppenstufe steht, haben alle anderen konkreten Denker und Poeten links und rechts, an Pfeilern und Säulen Position bezogen: Döhl und Gomringer, Franz Mon und Ernst Jandl, Manfred Esser und Helmut Mader und ich selbst stehe ja auch auf der Treppe, unterhalb von Bense, unmittelbar neben Heißenbüttel, der sich anschickt, einen Heißenbüttel-Diskurs zu führen.

Es sind also keineswegs nur Stuttgarter Koryphäen, die sich hier versammelten: Eugen Gomringer war an der Hochschule für Gestaltung in Ulm beschäftigt; Franz Mon arbeitete als Verlagslektor in Frankfurt; Helmut Mader (1932-1977) aus Waiblingen galt nach seinem Debüt "Lippenstift für die Seele" (1955) als hochgeschätztes lyrisches Talent. 1980 waren ihm die ersten beiden Publikationen der Edition Künstlerhaus gewidmet, die nach dem für alle Sparten offenen Künstlerhaus in der Reuchlinstraße 4b benannt wurden. Der Genius loci setzt sich in jüngster Zeit wieder fort in der Salon-Bar "Zadu", dem Treffpunkt der jüngsten Literatenszene.

Der Wiener Ernst Jandl (1925-2000) war durch Reinhard Döhl nach Stuttgart gekommen, der dessen frühe experimentelle Gedichte in der Anthologie "zwischen-räume" (1963) abdruckte - nachdem Jandl in Österreich für seine ersten Veröffentlichungen von den Medien boykottiert worden war. Im Jahr darauf erschienen "lange gedichte" in der "edition rot". Unvergessen sind außer zahlreichen Auftritten Jandls in Stuttgart seine frühen Radiosendungen in der von Heißenbüttel betreuten Reihe "Autorenmusik", in der er Jazz spielte und seine Poesie rezitierte.

Reinhard Döhl, dessen "Apfel"-Gedicht mit Jandls "lechts und rinks" um Platz eins des Bekanntheitsgrades konkurriert, wechselte 1959 - kurz nach einem Skandal um seine "missa profana" - auf Einladung von Max Bense an die Stuttgarter Universität, wo er seit 1967 lehrt. Neben wissenschaftlichen Arbeiten zu Literatur und Kunst hat er Hörspiele produziert, Gedichte und Prosa veröffentlicht, in zahlreichen Ausstellungen seine Collagen, Fotografien, Kalligraphien, Aquarelle, mail-art und vieles mehr gezeigt. Als einer der wenigen seiner Generation hat Döhl sich auch sofort ins Internet gewagt und darin ein "poets cornerle" installiert, einen virtuellen "Stuttgarter Poetenwinkel", der an vergessene, verzogene Autoren erinnert. Allerdings hat Reinhard Döhl sich seit langem mit der hiesigen Literaturszene beschäftigt, in den "Botnanger Sudelheften" ebenso wie mit seinen "Ansichtssachen & Klerri-juhs aus der kleinen Stuttgarter Versschule" (1985). Darin hat er sie alle, einschließlich sich selbst, despektierlich verewigt, zum Beispiel so:

Johannes Kapnion Reuchlin
hatte schon ein Bäuchlin
als er der Helligkeit verpflichtet
an Dunkelmänner Briefe gerichtet.

Georg Friedrich Wilhelm Hegel
hob es ab mit vollem Segel
und Prisen welche hanfverstärkt
wie man an der Sprache merkt

Reinhard Döhl
Verwandte in Waldbröl
denkt bei Schweinebauer und Wäscherin
manchmal noch an Wekhrlin

Friederike Roth
liebte Tollkirschenkompott
die Hochzeitsgäste kamen kaum mit
beim Wartburgritt

Wendelin Niedlich
Hauptsache man sieht sich
blieb in der Veste
der Fleck auf der Weste

Wendelin Niedlichs Buchladen war über 35 Jahre eine Institution in Stuttgart, um die sich Geschichten und Anekdoten ranken. Meist handeln sie vom Chaos, babylonischen Büchertürmen und verwirrenden Labyrinthen. Der Buchhändler selbst hatte das Problem auf den Punkt gebracht: "Hier finden Sie alles, was Sie nicht suchen! (Und alles, was Sie suchen, ist da)." Wenn man es auch vielleicht nicht fand, fügten Spötter mit langjähriger Sucherfahrung hinzu. Niedlichs Art und Weise, ein Sortiment zu führen, widersprach irgendwann nicht nur den branchenüblichen, sondern vor allem auch betriebswirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Lange, aber eben nicht auf Dauer konnte die geistige Ordnung der materiellen Unordnung Paroli bieten; will heißen, die Begeisterung über die Bücher, die jeden Donnerstag stattfindenden Jour fixe mit Autoren und politisches Engagement überstrahlte Mißmut und Durcheinander. Denn Niedlich hatte eine kulturelle Anlaufstelle geschaffen, ein Forum neuer, linker, experimenteller Literatur und Kunst. [...]

Schon bald fanden trotz des beengten Raumes Lesungen und Ausstellungen statt, von Helmut Heißenbüttel für die Festschrift "Niedlich 10 Jahre über Wasser" chronologisch protokolliert, hier aus Platzgründen leider auf Namen reduziert: Paul Wunderlich, Horst Janssen, Josua Reichert, Fritz Ruoff, Hans Bellmer, Ferdinand Kriwet, Rudolf Schoofs, Ernst Fuchs zeigten ihre Arbeiten, Käte Hamburger wurde gefeiert, Max Frisch erhielt Stapel seiner Bücher zum Signieren vorgelegt, Ror Wolf, Gerhard Rühm, Jacov Lind, H.C. Artmann, Peter 0. Chotjewitz, Oswald Wiener lasen; die Rixdorfer reisten zum Fußballspielen an, Max Bense und Reinhard Döhl sprachen bei den Vernissagen; man traf sich bei einer Tasse Kaffee und diskutierte. Viele von denen, die am Anfang ihrer Karriere eingeladen waren, kamen immer wieder, obwohl es nie Honorare gab, nur eine sorgsame, individuelle Einführung und die Garantie, auf Polaroid und Kassette dokumentiert zu werden.

Irene Ferchl | Stuttgart. Literarische Wegmarken in der Bücherstadt. Stuttgart: Klett-Cotta 2000