Reinhard Döhl | Prosa
Ansichtssachen (2)

Als die Buchstaben verteilt wurden | Am nördlichen Rand der Feuerbacher Heide | Eine besondere Spezialität der Stadt | Bevor die Stadt Einwohner hatte | Wenn Stuttgarts Buchhändler in die Jahre kommen | Ein Laden ohne Packpapier | Die Stadt Stuttgart hat eine königliche Hand-Bibliothek | Was dem Malewitsch sein Quadrat | Einzelne Erzeugnisse der bildenden Kunst | Geben ist seliger denn Nehmen | Haben wir in den vorigen Abschnitten | Neuerdings sind die guten Zeiten | Auch in Stuttgart besteht das Alphabet aus 26 Buchstaben

Und Stuttgart, wo ich
Ein Augenblicklicher, begraben
Liegen dürfte. dort,
Wo sich die Straße
Bieget [...]


Als die Buchstaben verteilt wurden, fiel mir der Buchstabe D zu wie Dora Ökonom Heinrich Ludwig. Unklar blieb, ob es sich bei letzterem um den mit dem Vornamen Otto oder den mit dem Nachnamen Pfau handelt. Letzterer kann täglich in der Wilhelma gefüttert werden, während Heinrich Laube nur im Herbst vorkommt. Besonders häufig trifft man die Ökonomen bei Aus- und Schlußverkäufen und auf dem Killesberg. Ihnen gegenüber fallen die Ökologen kaum ins Gewicht. Sie sind meistens grün im Gesicht, was zwischen Wald und Reben als Tarnfarbe für hoffnungslose Fälle gilt, ausgenommen das Lumpengesindel, den ersten Bärnhäuter und allerlei Rauch. Seit Dornröschen im Rosensteinpark vermutet wird, sind die Heckenscheren ausverkauft und die -schützen geschwärmt. In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa. Don Quijote liegt Dulcinea zu Füßen, Sancho Pansa steht auf Rosinante. Da man weiß, daß die Königin auf Pferde setzt, kommen die deutschen Dichter mehr in Marbach vor. Weitere berühmte Stuttgarter und ihre Werke sind Ludwig Dill, Paul und Therese, Franz von Dingelstedt, Sieben friedliche Erzählungen, Karl Doll, Schwäbische Balladen, Albert Friedrich Benno Dulk, Die Einweihung des Königsbaus und Manfred Rommels gesammelte Sprüche. Stuttgarts berühmtestes Denkmal heißt Dannecker. Auch an Thorvaldsen ließe sich denken. Ludwig Van hat sich, an Durchfallleidend, lediglich als Büste überliefert, aber seit SchikanedersGastspiel gings mit der Oper bergab. Donner und Doria! Siehe Fiescos Verschwörung. Aufs Karls Schule werden immer noch Franzens Feste für den alten Fritzen gefeiert. Die drei Mohren haben ihr Schuldigkeit getan.

Am nördlichen Rand der Feuerbacher Heide liegt der Frauenberg. Die Burg war schon im Jahre 1520 ganz zerfallen, und ein Turm, der damals noch stand, wurde zum Bau der Stadtmauer von Stuttgart verwendet. Charakteristisch für die damaligen Sitten ist, daß bereits 1472, wahrscheinlich nach dem Vorgange von Esslingen, wo schon 1300 dergleichen öffentliche Häuser entstehen, in Stuttgart zwei privilegierte Frauenhäuser existieren. Der Fremde versäume es nicht, die für den königlichen Dienst bestimmten Pferde von ausgezeichneten und vorzüglichen Rassen und die Landesbeschälhengste, welche in diesen Räumen wahrhaft fürstlich plaziert sind und abgewartet werden, sich anzusehen. Eine Reithalle, eine Turnhalle und ein Schlachthaus umgrenzen den Hoppenlau-Friedhof. Seit 1626 liegen dort berühmte und unberühmte Tote herum. Wer sich mit ihnen nicht länger aufhalten will, steigtzwischen Baumgärten und Weinbergen den Herdweg hinauf. Linkerhand auf halber Höhe liegt ein unbebauter Abhang, durchwachsen mit Erdbeeren und Brombeerstauden. Oben auf der Feuerbacher Heide werden 1822 der Mörder Tatphäus (*) und 1845 die Giftmischerin Christiane Ruthardt geköpft. Somit ist auch sie nun historisiert, die leere Hülle einer ausgestorbenen Daseinsform. Dabei sind die Säulen zu lang, die Ornamente entweder zu groß oder zu winzig, die Kapitelle maßlos groß unter ganz kleinen Giebeln. Das Ganze ein Nutzbau hinter einer ungeheuren Dekoration verborgen mit der bürgerlichen Devise: Kunst und Verzinsung. Wer möchte ihn aber an diesem Orte missen. Erst im Oktober 1922 wird der Verkehr aus dem alten Bahnhof neben dem Hotel Marquardt in den neuen umgelegt. Als ich eines Tages dazu komme, bemerke ich in dem Torwege des Hauses, welches dem sogenannten Idigo-Müller gehört, vier schöne steinerne Säulen in edelstem Renaissancestil, die offenbar von dem ersten Umbau des königlichen Lusthauses herrührend, hier zur Hälfte eingemauert stehen. Ein Ministerpräsident des Landes hieß Späth.

*) Trübe Quelle! Vgl. die Kurze / aktenmäßige Beschreibung / des - von / Johann Georg Philipp Datpheus / von Stuttgart, / den 29. September 1824 / an dem Spinnhaus-Aufseher / Heinrich Gebhard Grempenfort / daselbst / verübten Mords. / [2 Zierleisten] / Stuttgart 1825.

Eine besondere Spezialität der Stadt sind Bürolandschaften. Sie können, montags bis freitags, zu bestimmten Zeiten erwandert oder erfahren, keinesfalls aber übergangen werden. Je beschränkter die Zeiten sind, umso wahrscheinlicher handelt es sich um eine Behörde. Der Unterschied zwischen einer Behörde und einer Bürolandschaft besteht im Kleingedruckten. Deshalb wird in Stuttgart auch in doppelter Ausführung die kultur immer klein geschrieben. Hauptwörter werden klein geschrieben in stehenden Verbindungen mit Zeitwörtern, in denen das Hauptwort, meist in verblaßter Bedeutung gebraucht, nicht mehr als solches empfunden wird: kultur klein, Haben groß, aber: Sport groß, treiben klein. Stoßen in einer Behörde mehrere Zimmer auf dem Dienstweg zusammen, nennt man sie ein Amt. Erfolgt der Zusammenstoß über mehrere Stockwerke, handelt es sich um ein Ministerium. Alle Behörden obliegen meist sitzend der Verwaltung und unterstehen einander. Sie zu überstehen, gelingt nur besonders widerstandsfähigen Na-turen. Die Landschaftsköchin Friederike Louise Herbord überstand Kind, Kirche und Küche, balbierte ihren Mann über den Löffel, ist noch heute in jeder guten Buchhandlung als Die Löfflerin erhältlich und besonders für Frauenzimmer und -häuser zu empfehlen. Auf einem anderen Blatt stehen die Landschaftsgärtner. Als Außenposten des Gartenbauamtes begrünen sie unter anderem die Flächen zwischen Bürolandschaften und kommen ebenfalls zwischen Montag und Freitag zu bestimmten Tageszeiten vor. Im Gegensatz zu ihnen begrünen die Friedhofsgärtner von Amts wegen auch die schweigende Mehrheit aufgestiegener Bürohengste, abgehalfterter Amtsschimmel, selbstverwirklichter Sekretärinnen, der Handlanger, Kurzfinger, Beinchenheber und Radfahrer, sowie sonstiger behördlicherseits erfaßte Personen i.R.

Bevor die Stadt Einwohner hatte, wurden die Kinder bereits mit Stutenmilch aufgezogen. Dahin leitet uns nicht nur das seit 1312 bekannte Wappen, sondern auch ein traditionell als früherer Standpunkt einer Stuterei bezeichneter Platz in der Nähe der Stiftskirche. Noch heute ist das Kefir in jedem besseren Lebensmittelgeschäft zu haben. Im Jahre 1635 starben hier 4379 Menschen, größtenteils an einer durch schlechte Nahrungsmittel [man aß Wurzeln, Kräuter, Mäuse, Hunde, Katzen etc.], Schreken, Not und Elend hervorgerufenen pestartigen Krankheit. Heute werden den Hunden in Hedelfingen Grabsteine gesetzt und die Katzen in freundlichen Tierasylen abgegeben. Die einheimische Tierliebe erkennt man auch am Aussterben der Kammerjäger und daran, daß das Vogelzeigen bei Strafe verboten ist. Interessant für den Fremden dürfte neben dem Besuch des Katzenbacher Hofes und des Bärenschlößles vorzüglich der Gesellschaftsgarten von G. Werner sein, welcher zwar nicht umfangreich ist, aber eine für ein Binnenland recht hübsche Zusammenstellung ausländischer Vögel und Affen enthält. Obwohl sie sich eines regen Zuspruchs erfreuten, rechnen Monimaus und Wallybär nicht zur einheimischen Fauna, in der Betthasen, Hornochsen, Platzhirsche sowie Strichmiezen frei herumlaufen und unter bestimmten Bedingungen gestreichelt werden dürfen. Möven und Schwäne kommen mehreren Orts und in Helmut Heißenbüttels Sprech-Wörtern vor, ferner Schwalben und Tauben. Neben der Taubenstaffel und dem Schwalbenweg, unter den Wirtschaften zum Schwanen, zum Ochsen, zum Hirschen undsoweiter ist das Rößle erklärlicher Weise besonders verbreitet. Noch schlägt hinter jeder Polizeiuniform zu Pferde ein Herz für echte Heraldik. Noch werden auf allen Straßen Turniere mit vermehrten PS ausgerichtet und auf den Fildern die stählernen Vögel gewartet. Aber schon sind das Reiten von Steckenpferden unter Kindern und das Schoßen von Einhörnern unter Jungfrauen verpönt.

Wenn Stuttgarts Buchhändler in die Jahre kommen, schlagen die Bäume aus. Wie einst im Mai, als die Käfer noch fuhren, werden die Fühler ausgestreckt, die Stammbäume aufgestellt. 1670 wurde in Stuttgart die Zubrod'sche Buchhandlung eröffnet. Zwischen dieser, die nur zwanzig Jahre alt, und Wendelin Niedlich, der 1960 erfunden wurde, gab es noch die Buchhandlungen Weise, Wagner, Stoppani, Steinkopf, Sonnewald, Schweizerbart, Schreiber & Schill, Schmidt & Spring, Scheible, Rieger & Sattler, Rommelbacher und Quenzer. Friedrich Perthes zog Hamburg vor. Stuttgarts Gegenwart ist ein topographisch-statistisches Handbuch für Einheimische und Fremde. Doch steht auch, seit der botnanger bücherladen den Koch, Neff & Oetinger ausliegen hat, die Beschreibung des Gemeindebezirks Botnang zur Disposition während sich - April und May und Junius sind ferne - die Chlebnizisten mehr beim Julius treffen und die Stuttgarter Bouquinisten vorläufig mit dem Antiquariat Autenrieth beginnen. Die Vernunft der Stuttgarter Leser kann man daran erkennen, daß sie ihre Einkäufe zunächst in einem Antiquariat tätigten und in einer eingegangenen Buchhandlung beendeten. Wenn der Umsatz zurückgeht, werden Handlungen ohne Bücher bevorzugt. Vom Autodafé zum Autocafé ists nur ein Katzensprung. Hundehaltung ist steuerpflichtig und Buchhaltung nicht selten eine Verlegenheitslösung. Erwähnenswert sind auch die Verleger Kröner, Mayer, Metzler und Reclam, weil ich bei ihnen so gut verlegt wurde, daß ich mich bis heute kaum wiedergefunden habe. Während die Betreiber von Bierverlagen veralten, nehmen die Verleger von Haltestellen, Kupferkabeln und Terminplänen zu. Vielleicht liegt der Grund des Mangels eines eigentlichen Literatentums in Stuttgart an dem Umstande, daß gewisse schriftstellerische Notabilitäten und Feuilletonisten bis jetzt ein Monopol zu besitzen glaubten, womit sie alle neuen Versuche, in dem Gebiete der hiesigen Literatur eine Stellung zu erlangen, aristokratisch abgrenzen. Zitate sind Glückssache.

Ein Laden ohne Packpapier ist wie ein Händler ohne Buch. Führung ist alles. Obwohl man sie aufschlagen kann, werden die Bücher immer unerschwinglicher. Auch ein Überfliegen der Seiten nützt kaum. Angesichts der vorgehenden Nachworte kommen die Vorworte kaum nach. Erlasse von Fußnoten und Handzeichen helfen hier wenig. Nicht auf Lager sind in Stuttgart kalte Umschläge. Allerdings erleichtern Vor- und Nachschlagewerke die Ermittlung schlagender Wetter und Verbindungen vom Vom zum Zum. Ein Beisichführen von Schutzumschlägen wird bei erhöhten Ozonwerten empfohlen. Fortsetzung folgt. Der Kauf des ersten Bandes verpflichtet zur Abnahme der folgenden. Dabei darf zwischen Bandnudeln, -scheiben und -würmern gewählt werden. Rosenbänder kommen aus der Mode, und sogar der Hosenbandorden wird, Höhe vor Band- breite, nur noch auf dem Flohmarkt gehandelt. Strumpfbänder streifen wie Buchständer bedenklich den Tatbestand der Pornographie. Ein Schmutztitel bleibt ein Schmutztitel und ist deshalb nur für die oberen Besoldungsgruppen vorgesehen. Wer nicht gerne auf seinem Buch sitzen bleibt, sollte es einmal auf dem Rücken oder stehend versuchen. Im Gehen schadet es der Verdauuung, deshalb liest man Bücher am besten von hinten, dann ist von Anfang an alles geklärt. Von dem Exkandidaten der Theologie, Herrn Christoph Pechlin aus Waldenbuch, konnte man dieses jedoch nicht behaupten, und der, welcher dergleichen erwartete, täuschte sich sehr in seiner Erwartung. Im Gegensatz zu den Bücherwürmern zählen die Leseratten zur Klasse des lichtscheuen Gesindels. Auf sie werden Buchprämien ausgesetzt: schlechte Bücher sind Gift. Seit die Preisbindung aus dem Leim gegangen ist, hängt alles am seidenen Faden. Ein Lesefrüchtchen erkennt man an den Eselsohren und ein Lesezeichen verhindert Seitensprünge. Buchhalter sind gerade im Angebot und der Buchweizen blüht. Die Buchprüfer kommen. Eine Zensur findet nicht statt.

Die Stadt Stuttgart hat eine königliche Hand-Bibliothek, eine Königliche öffentliche Bibliothek, eine König-Karls-Brücke, eine König-Karl-Straße, eine Königsberger Straße, einen Königsplatz, eine Königsseestraße, ein Königssträßle, eine Königsstraße und seit 1893 einen bürgerlichen Verein für Bewegungsspiele nebst Präsident. Manchmal kommen auch Jahreszeiten vor. Jahrhundertsommer und Jahrhundertwinter wechseln mit Jahrundertweinen die Pferde. Die heimlichen Wappentiere sind die Öchsle und das Äffle vom nächsten Tag. Ins Weindorf und zu den Heimspielen kommen immer Auswärtige. Schon manchem Autofahrer wurde die Südkurve zum Verhängnis, obwohl man behördlicherseits auch auf der Geraden für die Zuschauer einen 50-Meter-Abstand vorgeschrieben hatte. Da alle Verkehrsmittel Anstalten öffentlichen Rechts sind, werden zuerst die Straßen, dann die Preise gesalzen. Die linken Himmelsrichtungen haben weniger Bedeutung. Seit der Nekar nicht mehr zufriert, ist der Übergang von der zweiten in die erste Klasse erschwert, so daß schon die alten Römer es vorzogen, sich auf die Ansiedlung des nahegelegenen Cannstatter Gebiets zu beschränken. Bad Cannstatt liegt mehr östlich und Neckarwestheim mehr nördlich. Man hofft auf guten Wind. Überhaupt werden die Zeiten allmählich besser. Die Tageszeiten können sogar schon trockenen Fußes begangen werden. Lediglich mit dem Ausbau der alten Römer- und der einen oder anderen Umgehungsstraße hapert es noch. Der Wald stirbt zu langsam. Im Vergleich zu Mord- und Totschlag überwiegen immer noch die natürlichen Todesanzeigen und auch die Stuttgarter Nächte sind nicht von Gestern. Wenn nur die Ausländer nicht wären! Besonders auf die Türken und Müllmänner muß man aufpassen. Kommen sie, weiß man, was die Stunde geschlagen hat. Lediglich um die Festtage herum gehen die Uhren anders. Aber auch das wird sich ändern.

Was dem Malewitsch sein Quadrat, ist dem Hölzel sein Kreis. Dabei könnte man es belassen, wenngleich der große Hermeneutiker Professor Dr. Gamaliel Unkemann, ein Schriftausleger, dessen hi-storische, geographische, antiquarische und sprachliche Kenntnisse nichts zu wünschen übriglassen, in diesem Fall einen schwäbischen Dativ diagnostizierte. Tatsächlich wird die Quadratwurzel hier ungern gezogen und keinesfalls die Quadratur des Kreises erfunden. Eher gilt die Kunst des Mittelmaßes und des Kleingeschriebenen. Erst wenn die alten Meister sich herumgesprochen haben, werden die Schüler gekauft. Aus der Werkstatt von... klingt solide. Auch gilt zu bedenken, daß das Geld für größere Ankäufe bereits einmal verspielt wurde. Da man weiß, was man nicht hat, tuts auch ein Beuys mit Triadischem Ballett als Leihgabe. Die Baumeister Stuttgarts heißen Barth, Etzel, von Fischer, Gaab, Gabriel, von Groß, Knapp, Leins, von Mauch, Stirling, von Vogel, von Zahnt, Zeller etcetera. Kunst am Bau und Postmoderne haben hier eine lange Tradition. Die Sammlung der Brüder Boisserrée wird in der Königsstraße gezeigt, bevor sie nach München auswandert. Wilhelm Waiblinger und Konsorten kommen sogar bis Rom. Das ist, wie der geneigte Leser des Taugenichts weiß, romantisch. Da haben die Stuttgarter das Nachsehen und der König fürs erste sein Geld behalten, um es alsbald nach Venedig zu transferieren. So lebt die Kunst hier aus zweiter Hand in den Mund. Häufig wird auch das Wort Technologietransfer im Munde geführt, was ebenfalls nicht schwäbisch ist aber weltläufig klingt. Wo immer in der Welt marktgängige Ware erzeugt wird, kauft man, um Vorbilder für die württembergische Industrie zu haben. Was dabei herauskommt, schreit zum Himmel. Noch schlimmer wird die Lage, als für diesen Schund ein ungeheurer Prachtbau errichtet wird, der drei und eine halbe Million kostet und so ziemlich das unbrauchbarste Museum ist, das je gebaut wurde (Lichtwark). Zeitgenössische Künstler Stuttgarts erkennt man daran, daß sie nicht in der Staatsgalerie hängen und mehr auswärts vorkommen. Die Gruppe 11 zum Beispiel stellte in Rom, Brüssel und London aus. Burne-Jones ist auch ein Künstler. Über ihn gibt es bereits Literatur.

Einzelne Erzeugnisse der bildenden Kunst zur Ausschmückung der öffentlichen Plätze gibt es in Stuttgart wenige, vielleicht aus dem Grunde, weil überhaupt günstige Standpunkte für Denkmäler mangeln. Vereinzelt werden Farbwege, Platzmäler und -verführungen gemeldet. Zweifelsohne günstiger gestaltet sich das Kesselklima für Standpauken, Steißtrommler und Arschgeigen. Vielfach sind die Gesellschaften, welche nebst anderen geselligen Zwecken auch Musik dilettantisch betreiben. Noch bringt der Kammerton a dem Zimmermädchen Doré die Flötentöne bei, da verdient sich schon der Hofkapellmeister von Lindpaintner im Silchersaal mannigfache Verdienste. Aber auch Monteverdi und Montescherbelino stehen immer mal wieder auf dem Programm. Während Grete Klink-kerfuß Hand in Hand mit Hugo Wolff auf dem Hoppenlau-Friedhof Luftschlösser baut und Agnes Schebest David Friedrich Strauß der Vornamen wegen (sie hätte Johann Richard bevorzugt) den Laufpaß gibt, hebt die kahle Sängerin die Liedertafel auf. Viele Kompo-nisten wohnen heute in Botnang, wo die Straßen nach ihnen benannt werden. Beethoven und Mozart verfügen über zusätzliche Einnahmen durch Saalmiete, sodaß man sagen kann, daß verstorbene Komponisten in Stuttgart ausgesorgt haben. Von lebende Künstlern läßt sich dies weniger behaupten. Aber die sollen ja auch erst einmal etwas werden. Das Jahresereignis sind die Wochen, wo un-ter der künstlerischen Leitung von Helmut Rilling der Feuer-, der Metzger-, der Nesen- und andere Bäche begradigt und in den Süddeutschen Rundfunk kanalisiert werden. Dieses geschieht in der Regel unter lautstarkem Protest der Anlieger und Naturschützer mit absolutem Gehör, die auch das Gras wachsen hören. Doch wollen wir der Merkwürdigkeit wegen noch anführen, daß nachweis- lich die erste dramatische Vorstellung in Stuttgart sich in das Jahr 1571 zurück datieren läßt, wo auf offenem Marktplatze ein Stück aus der biblischen Geschichte, Das jüngste Gericht, aufgeführt wurde.

Geben ist seliger denn Nehmen. Ausnahmen bestätigen den Regel und gefüllte Regale die Kaufkraft. Wenn links nachgibt, muß rechts zunehmen. Überhaupt wird es Zeit, die Ampelfarben zu wechseln. Schwarzbraun ist die Haselnuß. Zum Umspringen emp-fiehlt sich eine Grauzone. Markt ist vorhanden. Bei schlechtem Wetter finden die Veranstaltungen in der Halle statt: Liederkränze und Schleiereulen mit doppeltem Rittberger. Die Landjäger werden zu Paaren getrieben. Majoran rundet den Geschmack und Karajan dirigiert die leichte Kavallerie mit Gaisburger Marsch als Zugabe. Suppenwürfel sind unfein. Es ist eine eigentümliche Erscheinung des ganzen schwäbischen Volkes, daß es sich soviel wie möglich abzuschließen und fremdartige Elemente aus demKreise seines Umganges zu entfernen sucht. Besonders in puncto Kreisleitern und Kreissägen lassen Handwerkerschaft und Sparkassen nicht mit sich reden, während das Kreiswehrersatzamt hauptsächlich der guten Umgangsformen entbehrt. Aus diesem Grunde darf es nicht Wunder nehmen, wenn wir in Stuttgart eine unverhältnismäßige Anzahl geschlossener Gesellschaften antreffen, welche sich in ihrer Weise auf verschiedene Art unterhalten. Als Gesellschaftsspiele beliebt sind die Neckarschifffahrt, das Angeln im Bärensee und die Fischerchöre; Topfschlagen, Schinkenklopfen, Maultrommeln und Schellen dagegen kaum noch gefragt. Auch die Maulbeerplantagen bei Cannstatt sind längst geschlossen. Lediglich die richtige Füllung der Maultaschen bleibt nach wie vor umstritten. Kleine und mittelständige Unternehmen garantieren das Wachstum der Besenwirtschaft und die Kehrwoche den Lustgewinn der Hausfrau. Als ungenießbares Ripp von Sebastian Sailer mundgerecht gemacht, wurde ihr züchtiges Walten durch Schiller sprichwörtlich.

Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus,
Zu Sauerkraut werden Ripple geschmaust.
Haben wir in den vorigen Abschnitten die mannigfachen geistigen Genüsse aufgezählt, welche die Residenz ihren Bewohnern und Gä-sten darbietet, so wenden wir uns gegenwärtig den materiellen zu. Wer nicht essen will, muß fühlen. Auch an der bürgerlichen Küche gehen Revolutionen nicht spurlos vorüber. Soweit die Küche nicht ihren freien Tag hat, suchen Kauf- und Gewerbsleute meistens den Adler, den Hirsch, den Kronprinzen, den König von Württemberg oder die Sonne auf. Für einen anspruchslosen Reisenden paßt der Großfürst, der Ochse, der Peterburger Hof. In den Gasthöfen des Landes werden die Hofgäste zu den Hauptmahlzeiten als Krautjunker und errötende Jungfrau serviert. Das Beilager bieten komische Nudeln. Küchenschellen sagen den Gang an. Als Zwischenmahlzeiten empfehlen sich Kohldampf, beleidigte Leberwurst, verhagelte Petersilie. Doch wollen wir keiner anderen Firma zu nahe treten. Nicht zur schwäbischen Küche zählen Fasten und Fast Food. McDonald und das Küchenlatein der Pizzerias verlangen bereits Fremdsprachenkenntnisse, das Dessert zumindestens mittlere Reife. Während der Wirt am Berg noch der Kuh das Kalb abschwätzt, langt Anna Scheufele im kalten Tal bereits nach der Kastrol. Küchenbullen schießen mit der Gulyaskanone auf Ulmer Spatzen, Plastikadler werden tranchiert, für ein gelungenes Baiser außer Zutaten vor allem Windeier benötigt. Russische sind allerdings, seit der Peterburger Hof zur Käfighaltung übergegangen ist, nicht mehr in Mode, obwohl die Milchmädchenrechnung noch nicht bezahlt ist. Wer sich die Suppe eingebrockt hat, sollte wenigstens die gesenkte Sau rauslassen. Das Durchreiten höherer Mädchenschulen auf Honigkuchenpferden geht an die Nieren. Hirschhornsalz ist ein altbewährtes Treibmittel. Die Eigenbrötler wechseln zum gepflegten Bier. Noch hocken die einen vor Dallas, während die anderen schon im Dalles sitzen.

Neuerdings sind die guten Zeiten hier seltener als die alten. Selbst die roten Geheimnisse waren nur Augenblickssache und die Prosa der Welt wurde hier nie gesprochen. Ein Geräusch in der Straße ist hier das Geräusch auf der Straße. Kann man das Geräusch davon nehmen, so hackt mans mit Speck, Zwiebeln und einem Stücklein Brot-Brosamen, im Gegenteil aber eine Kalbsleber, tut es in eine Schüssel, mengt Salz und Näglein darunter, einen Eßlöffel voll ganze Kapern, auch etwas Essig und Zitronensaft dar-ein. Ein Kalbsbries ist ein Kalbsbries und ein Kopfbahnhof garantiert noch keine Köpfe. Stuttgart, umsteigen. Während die Wochen vergehen zwischen Wasen und Wiesen Blatt um Blatt, kreisen Sternträger sternhagelvoll und rechtsläufig im Schattenring. Zu Füßen des Fernsehturms, zwischen Planetarium und Lapidarium, werden dem Touristen eine restaurierte Oper, ein neues Schloß und ein alter Markt gezeigt. Ungefähr in der Verlängerung wurde Mendelssohn geschleift, in der Gegenrichtung Joseph Oppenheimer in einem Käfig am Alchimistengalgen zur Schau gestellt. Soll ein Schweinskopf gut gesotten werden, und sich lange halten, so muß der sogenannte Jud mit einem starken Messer losgemacht, auch der untere Kiefer von dem Fleisch losgeschält, und aus dem Gewerb herausgezogen werden. Auf diese Art ist der Kopf nützlicher zum Sieden, und kann länger aufbehalten werden. Dazu wird Süßkraut gereicht nebst einem Plane und einer tabellarischen Lokalübersicht. Die Esslinger Straße verband den Leonhardsplatz mit dem Charlottenplatz. Von ihr zweigte nach der Wagner- und vor der Rosen- die Judenstraße ab. Wer heute die Sackgasse verläßt, passiert die Rosen-, die Brenner- und die Wagnerstraße. Wallala weiala weia, Woglinde. Namen sind schal und Rauch. Die Öfen und Essen müssen wenigstens alle Vierteljahre gekehrt werden zur Be-urteilung der Physiognomie, welche Stuttgart dem Augen des Fremden von verschiedenem Standpunkte aus darbietet.

Auch in Stuttgart besteht das Alphabet aus 26 Buchstaben. Das ist eine klare Angelegenheit, obwohl zum Schwabenalter noch 14 Buchstaben fehlen. Das vierte Wort der Buchstabiertafel lautet Caesar. Fürs Ausland heißt es Casablanca und wird von Humphrey Bogart gespielt. Während Erika mehr im Verborgenen blüht, sitzt Charlie am Drücker. Deyhle mit Veyhle. Schwierigkeiten gibt es nur mit Analphabeten und Reingeschmeckten, die zwar eins und eins zusammen, aber nicht bis drei zählen können. Auch Durchhalteparolen sind nicht mehr, was sie Leipzig Einundleipzig mal wa-ren. Die Dolchstoßlegende erscheint, von Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten herausgegeben, anläßlich der Stuttgarter Buchwochen Gewähr bei Fuß mit der eisernen Jungfrau, goldenen Zeiten, Gründerjahren und blauen Wundern. Phrenologisch gesehen zählen die Großkopferten zur Klasse der Gartenzwerge und die Grundbesitzer ihr Kleingeld. Heidenei, sagts Minchen von Feuerbach, immer hat der Ladestock Hemmung. Während Kunst immer noch von Können und Netzer aus der Tiefe des Raumes kommen, spielt der NesenbachMayer den Vorstopper. Die Kultur muß vom Platz, rufts Rosenresli über Südfunk drei und der Opa langt ihr unter den Schlafrock. Zwischen Rathaus und Rotebühlplatz bleibt ein Rentner auch von hinten ein Rentner, während ein Tiger, außer in Zusammensetzungen, eher von vorne losgeht. Schwe regit ter trennen den Tag vom Landvolk. (Unbekannter Schriftsteller im Rathaus). Um Antwort auf beiliegender Karte wird gebeten. Im Abschluß daran laden wir sie zu einem Umtrunk ein. Landeshauptstadt / Bürgermeisteramt / Abteilung Empfänge und Ehrungen. Aus den Unterführungen, unteren Anlagen und Kohläckern an der Landhauskreuzung werden leichte Verluste gemeldet. Veyhle mit Deyhle. Oberhalb der Birkenkopfs gibt es noch Platz. Wald hat es auch gegeben. Xanten war eine Römerstadt. Ypern ist lange her. Zugvögel kommen gelegentlich noch vor.

[1979/84]

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