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Raymond Queneau, Journale intime | Raymond Queneau, Loin de rueil | Raymond Queneau, Taschenkosmogonie | Robert Sabatier, Der Tod des Feigenbaums | Pier Paolo Pasolini, Vita violenta | Wolfgang Weyrauch, Etwas geschieht

Raymond Queneau, Journale intime
Raymond Queneau, Loin de rueil

Vor Rehen wird gewarnt: oder: um es gleich vorweg zu sagen: Raymond Queneaus Romane sind keine Romane oder Antiromane. Sie sind vielleicht Prosa, gewiß aber Sprache und Rede. Und die Sprache ist nicht über etwas Soundsooftschongesagtes. Und die Rede ist nicht von Weltanschauung und inneren Werten; sondern von Sprache. So gibt es auch in den beiden zuletzt in deutscher Übersetzung erschienenen Büchern Raymond Queneaus „Journale intime“ (Stahlberg 1963; d. i. Teil 1 der „Qeuvres completes de Sally Mara“) und „Loin de rueil“ (Suhrkamp 1964) nichts Welterschütterndes, das in einem eigentlichen Sinne der Rede wert wäre: keine Weltanschauung, keinen Reportagerealismus, nichts Tiefgekühltes oder Hochgestapeltes. Stattdessen gibt es so etwas wie eine Sprachhandlung, Sprachprozesse, Sprache, die in Gang gesetzt, in Gange gehalten wird und abläuft durch ein ständiges Nebenher von Schrift- und Umgangssprache, von Stil und Argot. Es spielt keine Rolle, ob des Cigales Pfeite raucht. Aber daß dieses Männerspielzeug - in der Übersetzung Eugen Hemlés - nacheinander „Pfeife - Kalumet - Nargileh - Tschibuk – Kloben - Stinkbolzen" heißt, daß spielt schon eine Rolle. Nicht Personen sind es, die ihre Sprache, ihren Stil sprechen; die sich durchSprache und Stil voneinander unterscheiden; die - durch ihren Sprachstil von einander unterschieden - handeln; - sondern die Sprache stellt etwas mit ihnen an: spielt ihnen mit, legt ihnen Fußangeln, gräbt ihnen Fallgruben, läßt sie über mehrdeutige verbale Objekte stolpern: „Ganz leise dämmert es ihnen, wohin einen die Dummheit der Sprache führen kann" (Loin de rueil) - eben zur Dummheit, zur Desavourierung der Dummheit durch die Sprache, zu nichts. Aber diese Sprache (also das, was Raymond Queneau in Gang setzt und handhabt) spielt nicht nur ihren Figuren mit; sie spielt auch mit dem Leser und führt ihn an der Nase herum.

Auch der Leser fällt herein: in holder Eintracht mit der Irin Sally Mara, die in schwärmerischer Verehrung für ihren Französischlehrer ein sentimentales Journal intime schreibt, sich von einem Gentleman etwas bieten läßt, „woran sie sich immer halten kann", und schließlich feststellen muß:
„Darauf rief mir Barnabé zu:
- Schön bei der Stange bleiben, Sally!
Ich habe in der Dunkelheit die Hand ausgestreckt, aber ich fand nur ein feuchtes, kaltes Seil. Ich begriff, daß mein Eheleben begonnen hatte."
Jedoch im Gegensatz zu dem Objekt Sally des Autors merkt der hereingefallene Leser, daß er hereingelegt wird. Und weil er das merkt, ist er zugleich in der Lage, das sprachliche Spiel, das hier mit Sally Mara und ihm getrieben wird, und seine Regeln zu durchschauen und zu übersehen. Er wird gleichsam zum beteiligten Betrachter des Ganzen.

Wie gesagt: es gibt in diesen beiden Büchern Raymond Queneaus nichts, das in einem eigentlichen Sinne der Rede wert wäre. Ein Rennpferd namens Läusehaut ist höchstens der Anlaß zu einem der wiederholten Gespäche über Läuse (Loin de rueil). Jedoch wenn es nichts gibt, das in einem eigentlichen Sinne der Rede wert wäre, ist es bei Raymond Queneau die Rede selbst, die sich der Rede wert wird. Und das umso mehr, je unwesentlicher die äußeren (realen) Rede-Anlässe sind: das Pferd Läusehaut, die Pfeife etcetera. An
Stelle von Weltanschauung geht es um Sprachwelt, um eine Welt, die mit Sprache aufgebaut wird und nur mit ihr existiert. Darum  ist Loin de rueil keine Pariser Vorortgeschichte, voll naturalistischen Miefs und kleinbürgerlicher Beschränktheit; kein Cloche Merle. Und des Cigales und/oder Jacques sind keine
Anton Reisers, Wilhelm Meisters, geschweige denn Matzeraths. Und das „Journal intime“ der Sally Mara ist keine lehrreiche, moralische und moralisierende „Eduction sentimentale“; und sie selbst auch keine Fanny Hill. Und die Romane sind keine Romane. Und die Figuren sind keine Helden oder Antihelden, Typen oder Antitypen; sondern erfundene Objekte des Autors, Sprechfiguren sozusagen, um die Bruch- und Nahtstellen zwischen Schrift- und Umgangssprache, um die Übergänge und ihren ästhetischen Reiz sichtbar zu machen. Was drumherum vorgeht, ist Sprachhandlung; und was mit ihnen vorfällt, sind sprachliche Vorfälle, Einfälle und Reinfälle - zur Erheiterung des Lesers, wenn er bereit ist, das Spiel mitzuspielen.

Und man könnte auch sagen, daß Raymond Queneaus Bücher so etwas wie Lustspiele sind. Dann würde man sie verstehen in einem größeren Zusammenhang, der mit Beaumont Fletcher und Shakespeare etwa auf der einen und mit der Commedia dell'arte auf der anderen Seite beginnend, über die romantischen Lustspiele der Brentano / Tieck, bis in die Gegenwart hineinreicht.m Denn die Kriterien dieser Lustspiele: die Dominanz der Sprache, das weitgehende Fehlen der Handlung, die weitgehende Elimination des Stofflichen, die Potenzierung des Spiels im Wort- und Sprachspiel, im Wort- und Sprachwitz, das Spiel im Spiel, die Überlagerung von Spiel- und Sprachebenen, das aus der Rolle Fallen und schließlich das von Beaumont/Fletcher und Tieck mit festem Rollenpart engagierte Publikum - das alles gilt cum grano salis auch für Raymond Queneaus Bücher: für das schon vor 20 Jahren erschienene „Loin de rueil“ (das wie viele
wesentliche Literatur des Auslandes lange warten musste, bis es - falls überhaupt - in Deutschland erscheinen konnte) wie für das 1962 erschienene „Journal intime“. Und genau innerhalb dieses Zusammenhangs läßt sich unseres Erachtens auch zeigen, daß das letztere doch mehr ist, als ein nur mit der linken Hand, zuweilen unter Mithilfe der rechten geschriebenen Nebenprodukt zu „Zazie dans le metro“. Stattdessen möchten wir annehmen, daß es sich bei Zazie und Sally um Schwestern handelt. Und während die eine es mit „mon cul“ macht, macht es die andere mit „schön bei der Stange bleiben“. Ein Spaß wird es allemal: eben ein Spiel mit der Sprache: ein Lustspiel: auf deutsch meisterhaft arrangiert und inszeniert von frangin Eugen HeImlé. Mon cul: Raymond Queneau ist Pataphysiker: Hübsch bei der Stange bleiben.

Raymond Queneau, Taschenkosmogonie

Raymond Queneau ist Pataphysiker. Ein Pataphysiker beschäftigt sich nicht mit den Regeln, sondern mit den Ausnahmen (die nur sprichwörtlich die Regeln bestätigen). Raymond Queneau beschäftigte sich 1950 mit der Entstehung der Welt, rekreierte sie in sechs alexandrinischen Gesängen bis zu den Rechensauriern, streng darwinistisch und nur mal so zum Spaß; und geriet angesichts dieser Entwicklung schließlich ins hochredundante Stottern einer künstlichen Poesie. Die in Frankreich berühmte, in Deutschland bisher nur Queneau-Liebhabern und augenblick-Lesern bekannte „Petite cosmogonie portative" ist jetzt endlich auch in der ausgezeichneten Übertragung durch Ludwig Hang in deutscher Sprache zugänglich, versehen mit einem instruktiven Vorwort von Max Bense und vom Limes Verlag für die diesjährige Herbstmesse als petits fours für gourmets bereitgestellt.

In seiner „Taschenkosmogonie" geht es Raymond Queneau nicht um die Sache sondern um die Methode. Kosmogonie ist laut Fremdwörter-Duden die „(mythische Lehre von der) Entstehung der Welt". Aber gegensätzlich zur landläufig unterhaltenden Lehmklumpen-Genesis gilt Raymond Queneau Genesis als methodisches Experiment. Der Mythos vom hochgezüchteten Affen der Darwinschen Ära ist nur ein Vorwand, und die Entstehung der Welt eine Lappalie, an der alles und nichts gezeigt werden kann. Zur Entwicklungsgeschichte des Menschen fällt Raymond Queneau eo ipso nur ein zeitraffender Zweizeiler ein:

„Der Affe ward zum Menschen ohne Kraftentfalten
der hat ein wenig später das Atom gespalten."

Natürlich ist diese Welt nicht in sechs Tagen gemacht und natürlich ist sie auch nicht sehr gut anzusehen. Der liebe Gott ist in diesen Alexandrinern überhaupt nicht und nirgends. Alles kommt „irgendwoher". Dabei geht es Raymond Queneau nicht etwa um poetische Sujets. An Stelle „der Bank oder des Monds im Frühling", statt „Albatros", statt „Rosen" und „Blütenflügen" geht es mindestens auch um „Eisenblech" und „Uran":

„Die freie Auswahl reicht vom Zeh zum großen Bären
vom Fußpunkt bis zum Ohr, vom Radar bis zum Zinken
aus manchem Wortspiel taucht ein Schuß Bedeutung auf
und die geschriebne Schrift wird manchmal automatisch".

Die aufgewendeten sprachlichen Materialien sind Jargon und Sach- und Fachbezeichnung (aus Biologie, Technik usw.) und Slogan und literarische Anspielung. Und diese Materialien werden aufgewendet für eine sprachliche Schöpfung anstelle reproduzierter angeblicher Schöpfungswirklichkeit. Es geht also nicht um Reproduktion von Entwicklung und Wirklichkeit, sondern um den sprachlichen Entwurf. Man könnte auch von einer „ästhetischen Kosmogonie" reden, wie Max Bense in seinem Vorwort herausstellt. Und man wird sich dabei vielleicht des bekannten Satzes von Francis Ponge erinnern, der besagt: „Damit ein Text auf keine Weise vorgeben kann, Rechenschaft von einer Realität der konkreten (oder spirituellen) Welt zu sein, muß er zunächst die Realität seiner eigenen Welt erreichen, diejenige der Texte." Und man wird die „Taschenkosmogonie" Raymond Queneaus als einen Beleg dieser These ansehen können, wobei überdies jegliche behauptete Genesis auf den Arm genommen und zwischen den Zeilen gewogen und für zu leicht befunden wird.

Auf der jährlichen Buchmesse gibt es in der Regel Unterhaltung und gelegentlich Ausnahmen. Raymond Queneaus „Taschenkosmogonie", übersetzt von Ludwig Harig und eingeleitet von Max Bense, ist fraglos zu den Ausnahmen und zur Dichtung zu zählen. Auch insofern, als diese sechs Gesänge in Alexandrinern zeigen, wie man sich auch mit Literatur unheimlich lustig machen und unterhalten kann. Ausnahmsweise. Aber Raymond Queneau ist Pataphysiker. Und ein Pataphysiker beschäftigt sich nicht mit den Regeln sondern siehe oben.

Robert Sabatier, Der Tod des Feigenbaums
Pier Paolo Pasolini, Vita violenta

Es gibt augenscheinlich ein weitverbreitetes Bedürfnis nach Unterhaltung anstelle geistiger Anstrengung. Manchmal will man das nicht zugeben, und verwechselt Unterhaltung mit Dichtung. Gelegentlich resultieren daraus Unterhaltungsgruppen, die sich für Literatur halten. Es gibt Verlage für Unterhaltungsschrifttum, und schließlich gibt es noch Buchhändler, die Unterhaltungsschrifttumskammern unterhalten.

Zwei um Unterhaltung sehr bemühte Verlage haben nun zwei weitere Romane zur Unterhaltung bereitgestellt. In dem einen (Robert Sabatier: Der Tod des Feigenbaums, Albert Langen - Georg Müller, München-Wien) spielt in einer abseitigen Gasse am Montmartre ein kümmerlicher Feigenbaum die Rolle eines Symbols für eine kleine Gemeinschaft von Gescheiterten. Eines Tages ist er verdorrt, aber die Menschenliebe hat den Sieg davongetragen. In dem anderen Roman (Pier Paolo Pasolini: Vita violenta, R. Piper & Co. Verlag, München) überlebt am Ende die Flamme einer Vitalität, welche der Schändlichkeit der Umstände zu widerstehen vermag. Dieser Roman ist eine packende, stolze und anklagende Ballade vom Menschen dieser Zeit, deren Held, scheinbar gewissenlos und egoistisch, doch eine unversehrte tiefere Moralität bewahrt.

Beide Bücher sind sehr stoffreich und so interessant, daß, würde man den Stoff nicht schon gelegentlich kennengelernt haben, man bis zum Schluß die Hälfte leicht wieder vergessen könnte. Der eine Autor(Pasolini) prägt dabei geradezu einen neuen Romanstil durch eine dem Alltag der Großstadtstraßen abgelauschte ungeschminkte Sprache. Aber es handelt sich nur scheinbar um eine kraß realistische Wiedergabe der Großstadtwirklichkeit. In Wirklichkeit ist hier ein Erzähler von hohem künstlerischem Rang und leidenschaftlichem Humanismus am Werk. Der andere Autor (Robert Sabatier) bevölkert den Schauplatz mit lebensvollen Gestalten,  die mit warmem Humor und scharfer Beobachtungsgabe zeichnet sind (manchmal erinnert er sogar an Leberecht Hühnchen.) Daß man mit dem Sujet des (oder der) Deklassierten große Dichtung machen kann, weiß der Leser Jean Genets oder Alfred Döblins (Berlin Alexanderplatz). Wie man daraus Unterhaltungsliteratur machen kann, hat Hans Fallada (Wer einmal aus dem Blechnapf frißt) versucht. Wie man sich damit amüsieren kann, hat Damon Runyan (Schwere Jungen, leichte Mädchen) gezeigt. Daß man damit ernsthaft Leserinnen beiderlei Geschlechts und der Volksbüchereien zu unterhalten gewillt ist, zeigen die beiden erwähnten Romane aus dem Französischen und Italienischen. Nur sollte man sie nicht mit sprachlichen Kunstwerken verwechseln. Die Umgangssprache der „Vita violenta" bleibt Umgangssprache. Und „ho, ho! was für ein großer Herr bin ich!" (Robert Sabatier) ist nicht etwa ein home risches Glanzlicht. Aber die Phantasie überstrahlt den bescheidenen Alltag! Sagt der Waschzettel. Deshalb versichert der Unterzeichnete, daß er in seine Notizen treffliche Zitate aus den Waschzetteln eingeschmuggelt, und daß er sich mit den Waschzetteln vortrefflich unterhalten hat.


Piper Verlag, München

Sehr geehrte Herren,
haben Sie vielen Dank für Ihren Brief vom 27. August und die bermittlung der Kritik von Herrn Reinhard Döhl zu unserem Verlagswerk Pasolini "Vita Violenta". Recht gerne sende ich Ihnen als Belegexemplar für diese originelle Rezension ein Exemplar des Romans für Herrn Döhl. Es folgt mit getrennter Post. Andererseits wollte ich aber auch Herrn Döhl ein paar Zeilen antworten, die ich hier diesem Brief beifüge mit der Bitte um freundliche Weiterleitung durch Sie.

Sehr geehrter Herr Döhl,
Herr Niedlich (Bücherdlenst Eggert in Stuttgart) sandte uns einen Durchschlag einer Buchbesprechung von Ihnen, in der Sie auf den im Frühjahr bei uns erschienenen Roman Vita Violenta von Pier Paoio Pasolini, und auf ein Buch des Verlages Albert Langen, Georg Müller eingehen. Ich möchte Ihnen doch wenigstens kurz dazu schreiben, weil wir uns einmal - streng merkantil gesinnt, wie wir es nun einmal sein müssen - über die Interessante Form der Buchwerbung, die der Bücherdienst Eggert in seinem Schaufenster mit Ihren Besprechungen, und noch dazu mit gar nicht einmal so positiven, betreibt, gefreut haben, andererseits, weil aber auch Ihre Kritik eine sehr originelle Leistung für sich ist. Sie trauen uns hoffentlich genügend Humor zu, daß wir die Spitzen, die darin enthalten sind und auf die Sie Waschzettel-Zitate aufspießen, nicht nur aus Dickfelligkeit, sondern auch mit einer gewissen Elastizität zu ertragen wissen.
Mit Kritikern zu rechten, ist nicht Sache des Verlags, das weiß ich und will ich auch immer treu beherzigen - deshalb füge ich hier nur als persönliche Meinung an, daß Sie das Buch von Pasolini vielleicht doch etwas unterbewerten, wenn Sie es als "bloße" Unterhaltungsliteratur ansehen. Hingegen möchte ich ein
eventuelles sachliches Mißverständnis aufklären, das vielleicht unausgesprochen in Ihrer Kritik steht: daß nämlich der Verlag darauf spekuliert hat, "Leserinnen beiderlei Geschlechts und der Volksbüchereien zu unterhalten". Diesem, wie wir glauben, gar nicht so illegitimen Gewerbe gehen wir vielleicht auch das eine oder andere Mal nach, aber dann ganz sicher nicht mit einem solchen Buch, bei dem man nämlich erhebliches geschäftliches und anderes Risiko eingeht: als kleines Beispiel dafür mag Ihnen die Rezension einer anderen Buchhandlung dienen, die kurz vor Ihrem Urteil bei uns einging und, obwohl in ihrer Art
zweifellos ein Kuriosum, doch aufzeigt, wie der Roman von den meisten "Leserinnen beiderlei Geschlechts und der Volksbüchereien" aufgenommen wird. Zum Glück scheint er allerdings zwischen dieser extremen Lage und der ihren doch noch einen natürlich beschränkten, aber hinreichenden und auch durch Vertreter des kritischen Lagers angefeuerten Leserkreis gefunden zu haben. Das ist dann immerhin die Basis, von der aus wir vielleicht mit einem anderen Buch Pasolinis einmal auch den Zweiflern beweisen können, daß hier wirklich ernstzunehmende Literatur vorliegt.

Pier Paolo Pasolini: Via Violenta, Verlag Piper
Man könnte es sich ja leicht machen [...]. Man wischt sich die Hände, wenn man es gelesen, spült den Mund, um den Geschmack von Ekel loszuwerden und liest ein sauberes Buch, um jenes zu vergessen.
Es ist nun einmal keine appetitliche Sache, eine Kloake zu räumen und offenbar hat Herr Pasolini das Bedürfnis empfunden, nicht nur die Kloaken der Straßen und Häuser seines Elendsviertels, sondern seine eigene seelische Kloake und die seiner Freunde zu räumen. Er hätte das letztere ruhig im stillen Kämmerlein tun können, denn das sind Dinge, die allenfalls für den Soziologen oder für den Pädagogen schwer erziehbarer Kinder ein gewisses Fachinteresse haben können. Den Normalleser - um im Jargon des Buches zu bleiben, - "speit" es an.
Ein amerikanischer Bestseller der 30er Jahr[e], "Herr Fettwanst" in der Übersetzung, Schlüsselroman, zeichnet auch so ein Eindruck [...], - aber es ist dargestellt nach dem alten Wort: "Es gibt Dinge, die tut man, aber man spricht nicht über sie". Wobei zu bemerken ist, daß in "Vita Vlolenta" Dinge peinlich genau besprochen sind, die man eo ipso nicht tut.
Im dritten Teil bemüht sich Pasolini, seine Subjekte zu rehabilitieren, indem er aufzeigt, daß in jedem noch etwas Anständiges, ja Edles verborgen ist, eine Sehnsucht nach Sauberkeit und bürgerlicher Anerkennung.
Diese Feststellung hat den Waschzettelschreiber veranlaßt, das Buch eine "Ballade der Deklassierten der Gesellschaft" zu nennen. Wenn schon, wäre "Tragödie" besser. Bert Brecht schrieb ähnliche Balladen, es fragt sich nur, ob die Notwendigkeit dazu besteht.
Keinesfalis sollte sich der Verlag Piper (Name verpflichtet) dazu hergeben, ein derart verkommenes Kind der Literatur herauszugeben. Das kümmerliche Pflänzlein Ethik-Moral, das die grauenhafte deutsche Vergangenheit überlebte, muß hart genug kämpfen um zu erstarken. Ein großer und nobler Verlag, wie Piper, müßte soviel Verantwortungsgefühl haben, sein Erdreich nicht noch durch eine derart moralzersetzende Lektüre zu untergraben. Ich kann das Buch insofern nicht beurteilen als ich nach 3 Seiten nicht mehr weiter gelesen habe, weil es mir zu ordinär war, habe mich nochmal vergewissert, ob wirklich "Piper" drauf stand.



Wolfgang Weyrauch, Etwas geschieht

Man hat für die Literatur des 20. Jahrhunderts, speziell nach 1945, wiederholt zwischen tendenziöser und experimenteller Literatur unterschieden. Es ist dies,  mehr oder weniger bewusst, mit anderen Worten ein Eingeständnis jener aus  der literarischen Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert resultierenden merkwürdigen Trennung von Form und Inhalt. Der Trend zum Traktat und das nur sprachmateriale Experiment markieren heute in etwa die Extreme. Autor, Kritiker und Leser stehen vor der Alternative; die Entscheidung für das eine oder das andere, die Verabsolutierung des einen gegenüber dem anderen machen eine scheinbar nicht zu überbrückende Kluft sichtbar. In diesem Zusammenhang kann man das literarische Werk Wolfgang Weyrauchs sehen als einen immer wieder neu ansetzenden Versuch, Tendenz (gesellschaftskritisches Engagement) und Experiment (Anwendung neuer literarischer Redemöglichkeiten) sinnvoll zu verbinden. Die jüngste Veröffentlichung Weyrauchs zeigt dies exemplarisch.

„Etwas geschieht" meint keine einfach rekonstruierbaren Handlungsabläufe, keine quasi-naiv erzählte Fabel. Der allgemein gehaltene Titel umfaßt vielmehr einzelne Aktionen, Momentaufnahmen, Reflexionen, Fußnoten. Die einzelnen Überschriften ([Taxi], [Stra], [Sold], [Fuß], [Einz], [Kind], [Verh]), verweisen in ihrer Form als Kürzel bereits auf das Modellhafte des einzelnen Textstücks: z. B. der letzten 5 Sekunden des gehängten Soldaten [Sold 3], des freiwilligen Sprungs zweier Kinder vom Dach eines Hochhauses [Kind 5], sinnloser Verhöre [Verh], des Entstehens einer Demonstration [Demo 1]. Jedes Textstück gibt modellhaft gleichsam einen Einzelaspekt von Sinnlosigkeit. Massenmord, anonyme Gewalt, gesellschaftliche Mißverhältnisse wie auch immer werden ins Modell vereinfacht und in dieser Vereinfachung grundsätzlich demaskiert. Nur im vereinfachten Modell, scheint es, lässt sich Sinnlosigkeit noch auflösen: indem sich schließlich [Demo 2] der Offizier, der die Demonstration mit Gewalt unterbinden soll, der Demonstration anschließt. So erweist sich „Etwas geschieht" nachträglich auch noch als Modell einer (unblutigen) Revolution (der Vernunft): es wird argumentiert. Die Utopie schließt an den Katalog der Sinnlosigkeit an. Es wäre jedoch fraglos ein Mißverständnis, das Revolutionsmodell, das Weyrauch gibt, den utopischen Aspekt wörtlich zu nehmen. Weder verifizierbar noch falsifizierbar, scheint es als mögliches Modell (als Lösungsvorschlag) eher auf die Provokation des Lesers zu zielen. Und der sollte außer dem Nachwort ausnahmsweise auch das Buch lesen.

Postscriptum: Man kann - wenn man mitreden will - das instruktive Nachwort Helmut Heißenbüttels lesen. Man sollte – bevor man mitredet - das Buch lesen.